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Urteil II: Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist, oder: Welche „Nachfrist“ in einer Haftsache?

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Und die zweite „Urteilsentscheidung“ behandelt auch einen Dauerbrenner, nämlich die Urteilsabsetzungsfrist (§ 275 Abs. 1 S. 4 StPO). Allerdings geht es im dem OLG Celle, Beschl. v.  20.02.204 – 2 ORs 1/24 – um eine Abwandlung, nämlich um die Frage: Wie lange darf es nach Wegfall des eine Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist rechtfertigenden Umstandes dauern, bis das Urteil zur Akte gebracht ist.

Dazu führt das OLG aus:

“ ….. Die erhobene Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 7 StPO führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hannover.

1.Wird die Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist gerügt, muss in tatsächlicher Hinsicht vorgetragen werden, dass das unterschriebene Urteil nicht innerhalb der Frist zur Akte gelangt ist. Dabei sind alle Tatsachen darzulegen, die eine sichere Berechnung der sich aus § 275 Abs. 1 StPO ergebenden Frist ermöglichen. Das Datum des Urteilseingangs ist anzugeben (vgl. Senat, Beschluss vom 01.03.2023 – 2 ORs 10/23 -). Diesen Anforderungen wird die erhobene Verfahrensrüge gerecht.

…..

Die Verfahrensrüge stellt darauf ab, dass das Urteil bereits am 02.11.2023 hätte abgesetzt werden müssen und die dienstliche Erklärung keine Angaben dazu enthalte, was dem entgegengestanden habe. Zudem verweist sie auf den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen.

Der Senat hat im Freibeweisverfahren eine ergänzende dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden eingeholt. Diese Stellungnahme lag dem Senat am 14.02.2024 vor.

2. Die in zulässiger Weise erhobene Rüge der Überschreitung der Urteilsabsetzungsfrist (§ 338 Nr. 7, § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 StPO) greift durch.

Das Urteil wurde am 01.09.2023, dem 5. Hauptverhandlungstag, verkündet, so dass es gemäß § 275 Abs. 1 S. 2, 2. Halbsatz StPO spätestens am 20.10.2023 zu den Akten zu bringen gewesen wäre. Am 01.10.2023 verunfallte der Vorsitzende. Er war deshalb bis einschließlich 30.10.2023 dienstunfähig erkrankt. Nach dem Feiertag am 31.10.2023 (Reformationstag) nahm er am 01.11.2023 seinen Dienst wieder auf. Am 07.11.2023 legte er das Urteil in Diktatform nieder. Am 16.11.2023 ging das vollständig geschriebene und vom Vorsitzenden unterzeichnete Urteil bei der Geschäftsstelle ein.

Nach § 275 Abs. 1 S. 4 StPO darf die Frist nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist. Der Unfall des Vorsitzenden am 01.10.2023 und seine daraus folgende Dienstunfähigkeit bis zum 30.10.2023 einschließlich stellen zwar einen solchen nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand dar, der mithin eine Fristüberschreitung gemäß § 275 Abs. 1 S. 4 StPO rechtfertigte. Jedoch hätte das Urteil nicht erst am 16.11.2023 zu den Akten gelangen dürfen.

Das Urteil ist nicht bereits am 07.11.2023 im Sinne von § 275 Abs. 1 S. 2 StPO zu den Akten gebracht worden. An diesem Tag hat der Vorsitzende das Urteil vielmehr nur „in Diktatform niedergelegt“. Das auf einen Tonträger diktierte Diktat genügt aber nicht. Vielmehr muss das zu den Akten gebrachte Urteil in Schriftform vorliegen und von allen Berufsrichtern unterzeichnet sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, § 275 Rn. 3 m. w. N.). Das war nach der vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden vom 14.02.2024 erst am 16.11.2023 der Fall. Am Morgen dieses Tages hat er gegen 9:30 Uhr das von ihm unterschriebene Urteil persönlich auf die Geschäftsstelle gebracht.

Nach Wegfall des Hindernisses muss das Urteil mit größtmöglicher Beschleunigung zu den Akten gebracht werden (vgl. BGH NStZ, 1982, 519; StV 1995, 514). Nach dieser Rechtsprechung des BGH sind insoweit Verzögerungen von vier Arbeitstagen nicht  mehr zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall waren es von der Wiederaufnahme der Dienstgeschäfte des Vorsitzenden am 01.11.2023 bis zum Eingang des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle am 16.11.2023 zwölf Arbeitstage (16 Kalendertage). Im Hinblick darauf, dass auf der einen Seite die Hauptverhandlung fünf Tage in Anspruch nahm, der Angeklagte jede Tatbeteiligung bestritt, eine umfassende Beweiswürdigung unter Auswertung auch eines Sachverständigengutachtens vorzunehmen war und das fertige Urteil 19 Seiten füllt, auf der anderen Seite der Vorsitzende seiner dienstlichen Stellungnahme vom 14.02.2024 zufolge nur mit einem Arbeitskraftanteil von 0,5 eingesetzt ist, nach Wiederaufnahme seiner Tätigkeit am 01.11.2023 und Durchsicht sämtlicher aufgelaufener von insgesamt 37 in der Kammer anhängigen Sachen die vorrangig zu bearbeitenden Verfahren gesichtet und sodann unverzüglich mit der Bearbeitung der vorliegenden Sache begonnen, eine auf den 06.11.2023 terminierte Hauptverhandlung aufgehoben und zudem trotz seiner halben Stelle das Urteil am 07.11.2023 ganztägig zu Ende diktiert sowie unter „Eilt sehr! Haft!“ persönlich zur Geschäftsstelle gebracht hat, wo es um 16:53 Uhr zur weiteren Bearbeitung durch die Phonokanzlei ins Netz gestellt wurde, erscheinen die vom Vorsitzenden für das vollständige Diktieren des Urteils insgesamt benötigten fünf Arbeitstage (sieben Kalendertage) nicht als unangemessen lang.

Unangemessen lang war hingegen die Zeit von sieben weiteren Arbeitstagen (neun Kalendertagen) vom Eingang des Diktats auf der Geschäftsstelle am 07.11.2023 bis zum Eingang des unterschriebenen Urteils dort am 16.11.2023. Die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden vom 14.02.2024 führt dazu aus, dass die zuständige Justizangestellte der Phonokanzlei, die auf 5-Stunden-Basis täglich beschäftigt sei, sowohl für den Straf- als auch für den Zivilbereich zu schreiben habe und zusätzlich eine seit Oktober 2023 erkrankte Kollegin vertreten müsse, das Schreiben des Diktats nach ihrer Erinnerung entweder am 08.11.2023, eher aber am 09.11.2023 begonnen und ihm das geschriebene Diktat am 13.11.2023 zugeleitet habe. Er habe den Urteilsentwurf am Morgen des 14.11.2023 auf seinem Schreibtisch vorgefunden und neben der Sitzungsvorbereitung für die auf den 16.11.2023 angesetzte Hauptverhandlung mit Fortsetzungstermin am 20.11.2023 unverzüglich weiterbearbeitet.

Angesichts des Urteilsumfangs von 19 Seiten war sowohl die Verweildauer des Diktats von vier Arbeitstagen (sechs Kalendertagen) bei der Phonokanzlei, als auch die Verweildauer beim Vorsitzenden von drei weiteren Arbeitstagen zu lang. Da Strafsachen stets Zivilsachen vorgehen und nicht ersichtlich ist, dass die zuständige Kanzleikraft am 08.11.2023 Diktate in vorrangigen Strafsachen zu schreiben hatte, hätte sie die vorliegende, als solche gekennzeichnete Haftsache gleich am 08.11.2023 bearbeiten müssen und hätte das Schreiben des 19-seitigen Urteils auch gut im Rahmen ihrer fünfstündigen Arbeitszeit an diesem Tag bewältigen können, so dass der Entwurf dem Vorsitzenden bereits am nächsten Tag (09.11.2023) hätte wieder vorliegen können. Auch dieser hätte den Entwurf noch am Tag des Vorfindens auf seinem Schreibtisch (14.11.2023) sowie – im Hinblick auf seine halbe Stelle auch noch – am Folgetag (15.11.2023) korrekturlesen, fertigstellen, unterschreiben und zu den Akten bringen müssen, anstatt dies wegen der parallelen Vorbereitung auf eine nicht vorrangige neue Hauptverhandlung am 16.11.2023, die er vielmehr – wie zuvor schon die Sitzung vom 06.11.2023 – hätte aufheben müssen, um einen weiteren Tag (bis zum Morgen des 16.11.2023) zu verschieben. Dann wären es von der Wiederaufnahme der Dienstgeschäfte des Vorsitzenden bis zum Eingang des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle insgesamt nur acht statt zwölf Arbeitstage (zehn statt 16 Kalendertage) gewesen. Die Vorbereitung einer Nichthaftsache hat gegenüber der raschen Absetzung eines überfälligen Urteils zurückzutreten (KG StV 2016, 798).

Der Umstand, dass drei der insgesamt vier und damit der Großteil der zu viel benötigten Arbeitstage nicht vom Vorsitzenden selbst, sondern von der gleichzeitig mit Straf- und Zivilsachen sowie einer Krankheitsvertretung belasteten Teilzeitkraft der Phonokanzlei verursacht wurden, vermag nicht zu einer anderen Würdigung führen, weil es sich um Umstände handelt, die die Organisation des Gerichts betreffen, und solche Umstände in der Regel schon eine Fristüberschreitung nicht zu rechtfertigen vermögen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 275 Rn. 14 m. w. N.), was dann erst recht für die Zeit nach Wegfall des Hindernisses gelten muss. Auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift lässt sich nichts Anderes ableiten. Die Urteilsabsetzungsfrist, die das Beschleunigungsgebot konkretisiert, soll verhüten, dass ein längeres Hinausschieben der Urteilsabfassung die Zuverlässigkeit der Erinnerung der erkennenden Richter beeinträchtigt und zu einer Darstellung der Sach- und Rechtslage in den Urteilsgründen führt, bei der nicht mehr gesichert ist, dass sie der das Urteil tragenden Ansicht der Richter bei der Beratung entspricht (vgl. Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 275 Rn. 2 m. w. N.). Dieser Gesetzeszweck ist auch dann verletzt, wenn zwischen dem vollständigen Diktieren des Urteils und der abschließenden Unterschrift unangemessen viel Zeit verstreicht. Das gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als zusätzlich das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu beachten war.

Die unangemessen lange Zeit zwischen dem Fertigstellen des Diktats und dem Eingang des Urteils auf der Geschäftsstelle von sieben Arbeitstagen kann im vorliegenden Fall schließlich auch nicht dadurch als kompensiert angesehen werden, dass der Vorsitzende etwa das Urteil mit überobligatorischer Beschleunigung vollständig diktiert hätte. Letzteres gilt zwar für den 07.11.2023 selbst, als der Vorsitzende das Urteil trotz seines Arbeitskraftanteils von nur 0,5 ganztägig zu Ende diktiert hat, genügt aber nicht, um die insgesamt vier zu viel benötigten Arbeitstage zu kompensieren.“

Urteil I: Erneut: „es fehlt die Unterschrift der Richter“, oder: Der BGH erklärt es noch einmal…

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Und dann auf in die 12 KW./2024, und zwar mit zwei Entscheidungen, die sich mit Entscheidungen – Beschlüssen und Urteilen – befassen.

Die erste Entscheidung kommt vom BGH; es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 20.02.2024 – 3 StR 428/23. Der behandelt die Anhörungsrüge des Verurteilten gegen einen Beschluss des Senats und den Rechtsbehelf gegen die darin getroffene Kostenentscheidung werden verworfen. Da die Ausführungen des BGH – zumindest teilweise – auch auf Urteile passen, läuft der Beitrag unter dem Stichwort: „Urteil“.

Der 3. Strafsenat hatte die Revision des Verurteilten gegen ein Urteil des LG Koblenz mit Beschluss vom 09.01.2024 gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen und ihm die Kosten des Rechtsmittels auferlegt. Mit Schreiben vom 23.01.2024 hat der Verurteilte beantragt, „alle Beschlüsse, die meine grundsätzliche geschützte Freiheit einschränken(,) aufzuheben“. Der Senat habe ihm weder in angemessenem Umfang rechtliches Gehör gewährt noch den Beschluss korrekt unterschrieben. Mit weiterem Schreiben vom 31.01.2024 hat der Verurteilte sein Begehr dahin präzisiert, seine „Beschwerde vom 23.01.2024“ umfasse auch die Entscheidung über die Kosten für das Revisionsverfahren.

Der BGH hat das als Anhörungsrüge gewertet und das Vorbringen zurückgewiesen:

„2. Das erste Schreiben des Verurteilten ist als Anhörungsrüge (§§ 300, 356a StPO) auszulegen. Diese ist zulässig, jedoch unbegründet, weil der Anspruch des Verurteilten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht verletzt ist. Der Senat hat zu berücksichtigendes entscheidungserhebliches Vorbringen des Verurteilten im Revisionsverfahren nicht übergangen. Ebenso wenig hat er Verfahrensstoff verwertet, zu dem der Verurteilte nicht gehört worden ist, oder in sonstiger Weise dessen Anspruch auf rechtliches Gehör missachtet. Sollte der Verurteilte eine Auseinandersetzung mit bestimmtem Revisionsvorbringen vermissen, kann daraus nicht auf einen Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs geschlossen werden, weil § 349 Abs. 2 StPO eine Begründung des die Revision verwerfenden Beschlusses nicht vorsieht. Auch verfassungsrechtlich ist eine solche bei letztinstanzlichen Entscheidungen grundsätzlich nicht erforderlich (s. BVerfG, Beschluss vom 30. September 2022 – 2 BvR 2222/21, NJW 2022, 3413 Rn. 27 mwN; BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2021 – 3 StR 170/21, juris Rn. 3).

Soweit der Verurteilte bemängelt, dass der ihm übersandte Beschluss lediglich von einer Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet ist, gilt:

Die von den Richtern unterschriebenen Originale von Urteilen und Beschlüssen verbleiben bei den Akten. An die Verfahrensbeteiligten werden sogenannte Ausfertigungen herausgegeben. Das sind Abschriften oder Ablichtungen des Originals mit dem Ausfertigungsvermerk der Geschäftsstelle, der von einem Urkundsbeamten unterschrieben und mit einem Dienstsiegel versehen wird (§ 169 Abs. 2 ZPO). Nach diesen Vorgaben ist auch im vorliegenden Fall verfahren worden.

3. Die vom Verurteilten jedenfalls mit dem zweiten Schreiben zum Ausdruck gebrachte Beanstandung der Kostenentscheidung im Revisionsverfahren bleibt ebenfalls erfolglos.

a) Als (sofortige) „Beschwerde“ gegen den Kostenausspruch (vgl. § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 StPO) verstanden, wäre sie unzulässig. Denn Entscheidungen eines Senats des Bundesgerichtshofs sind nach § 304 Abs. 4 Satz 1 StPO generell nicht beschwerdefähig.

b) Sofern die Schreiben des Verurteilten gemäß § 300 StPO als Gegenvorstellung auszulegen sein sollten, wäre eine solche jedenfalls unbegründet, weil die Kostenentscheidung im Beschluss des Senats vom 9. Januar 2024 der Sach- und Rechtslage entspricht. Deshalb kann dahinstehen, unter welchen Umständen eine Gegenvorstellung zulässig ist, mit der ein Revisionsführer beanstandet, das Revisionsgericht habe ihm zu Unrecht Kosten oder Auslagen auferlegt (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2022 – 3 StR 452/20, juris Rn. 6 mwN).“

Ich bitte an alle „Unterzeichnungskritiker“, also alle diejenigen, die immer wieder beanstanden, dass die ihnen zugestellte/übersandte Ausfertigung einer Entscheidung – hier war ein Beschluss, häufig sind es Urteile – nicht unterschrieben ist, die oben – entgegen der sonstigen Übung auch fett formatierte – Passage zu lesen und endlich mit den immer wieder kehrenden Angriffen: „Das Urteil ist nicht unterschrieben, also ist es nicht in der Welt“, aufzuhören. Die Ausfertigungen, die die Partei erhält, ist/wird nicht unterschrieben. Unterschrieben wird das Original, das in der Akte bleibt. Und um einem Einwand vorzubeugen: Ja, das Rechtsmittelgericht, prüft das Urteil/den Beschluss, ob er im Original unterschrieben ist, und zwar von Amts wegen. Davon kann man ausgehen.

Zur Info: Für Kommentare zu diesem Beitrag gilt: Ich habe die Kommentarfunktion offen gelassen. Sollten es allerdings zu viele und zu heftige Kommentare werden, wird sie geschlossen. Und ja, auch wenn das dem ein oder anderen nicht gefällt: was „zu viel“ und „zu heftig“ ist, bestimme ich, da es mein Blog ist. Das kann man nicht gut finden, ist aber so.

beA II: beA/elektronisches Dokument im Strafrecht, oder: Wiedereinsetzung, Ersatzeinreichung, Email

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Und nach der kleinen RÜ zum beA im Zivilverfahren (vgl. hier: beA I: beA/elektronisches Dokument im Zivilrecht, oder: aktuelle Software, Zustellung, Ersatzeinreichung) nun etwas zum Straf-/OWi-Verfahren, und zwar:

  • BGH, Beschl. v. 06.02.2024 – 6 StR 609/23 – zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision, in dem sich ein Dissens bei den Strafsenaten des BGH andeutet/ankündigt:

„(1) Der Senat vermag der Rechtsansicht des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht zu folgen, wonach die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrags in Fällen, in denen die vorübergehende technische Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument geltend gemacht wird, einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 5. September 2023 – 3 StR 256/23, NStZ-RR 2023, 347). Gestützt wird dieses Erfordernis auf die für eine zulässige Ersatzeinreichung von Schriftsätzen gemäß § 130d Satz 3 ZPO entwickelten Anforderungen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. September 2022 – XII ZB 264/22, NJW 2022, 3647; vom 1. März 2023 – XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762). Mit den an die Darlegung des technischen Defekts gestellten Anforderungen soll eine missbräuchliche Übersendung von Schriftsätzen im Zivilprozess nach den allgemeinen Vorschriften verhindert werden (vgl. BT-Drucks. 17/12634 S. 27 zu § 130d ZPO). Während das Verschulden des Verfahrensbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO demjenigen der Partei gleichsteht und daher die Wiedereinsetzung gemäß § 233 Satz 1 ZPO versagt werden kann, wenn die elektronische Übermittlung etwa wegen eines technischen Fehlers fehlschlägt und der Anwalt nicht die Möglichkeit ergreift, das Dokument nach den allgemeinen Vorschriften fristwahrend zu übermitteln (vgl. BGH, Beschluss vom 1. März 2023 – XII ZB 228/22, NJW-RR 2023, 760, 762), erscheint die Übertragung der insoweit entwickelten Grundsätze auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß §§ 44, 45 StPO nicht sachgerecht, weil das Verschulden des Verteidigers bei der formwidrigen Übermittlung von Schriftsätzen dem Angeklagten nicht als eigenes zuzurechnen ist (vgl. BVerfG, NJW 1994, 1856; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2023 – 5 StR 145/23, NJW 2023, 3304).

(2) Es kann letztlich dahinstehen, ob das vom 3. Strafsenat postulierte Darlegungserfordernis anzunehmen ist. Denn hier würde das Vorbringen des Antragstellers diesen Anforderungen gerecht, weil es mit Blick auf den glaubhaft gemachten Hardware-Defekt am Kanzleirechner, über den das besondere elektronische Anwaltspostfach geführt wurde (§ 31a BRAO), und die Dauer der Störung eine verständliche und geschlossene Schilderung enthielte.“

Im Falle einer im Verantwortungsbereich der Justiz zu verortenden Störung, die den beA-Empfang bei allen Gerichten im Lande (über einen längeren Zeitraum und) über den Ablauf der Einlegungsfrist hinaus unmöglich machen, bedarf es einer sonst erforderlichen anwaltlichen Versicherung – insbesondere von Umständen, die sich der genaueren Kenntnis des Versichernden zu Ursachen und Ausmaß der Störung entziehen – ausnahmsweise nicht, um den Anforderungen des § 32 d Satz 3 und Satz 4 StPO zu genügen.

1. Die Rechtsmitteleinlegung durch genügt nicht der gesetzlichen Schriftform gemäß § 32a Abs. 3 StPO, wenn die Email weder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der das Dokument verantwortenden Person versehen noch vom Verfasser signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht worden ist.

2. Dem Schriftformerfordernis wird aber ausnahmsweise dadurch genügt, wenn die Email ausgedruckt und zur Akte genommen wurde. Aus dem Schriftstück muss dann jedoch der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, schon im Zeitpunkt des Eingangs der Erklärung bei Gericht hinreichend zuverlässig entnommen werden können.

Welche Auslagenerstattung nach Zurückverweisung?, oder: Auslegung von „Die Kosten des Termins….“

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Wird ein Urteil im Revisions- oder Rechtsbeschwerdeverfahren aufgehoben, stellt sich ggf. nach der abschließenden Entscheidung im neuen Erkenntnisverfahren die Frage, welche Gebühren die Staatskasse ggf. als notwendige Auslagen des Beschuldigten/Betroffenen tragen muss. Das LG Magdeburg befasst sich in LG Magdeburg, Beschl. v. 14.2.2024 – 26 Qs 6/24 mit einer amtsgerichtlichen Kostenentscheidung in einem Verfahren, in dem zunächst ein Verwerfungsurteil ergangen war. Zudem nimmt es zur Verfahrensgebühr Stellung.

Das AG hatte im Hauptverhandlungstermin am 15.08.2022 den Einspruch des Betroffenen gegen einen gegen ihn wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung erlassenen Bußgeldbescheid verworfen, weil der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung ohne Entschuldigung ferngeblieben sei  (§§ 73, 74 Abs. 2 OWiG). Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat das OLG das AG-Urteil mit Beschluss vom 06.03.2023 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des AG zurückverwiesen. Das AG hat den Betroffenen dann mit Urteil vom 04.09.2023 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt. Die Kostenentscheidung lautete wie folgt: „„Die Kosten des Termins vom 15.08.2022 und des Rechtsbeschwerdeverfahrens und die insoweit notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last. Im Übrigen trägt der Betroffene die Kosten des Verfahrens.”

Der Verteidiger des Betroffenen hat die Festsetzung der von der Staatskasse zu erstattenden Auslagen des Betroffenen beantragt. Dabei hat er für den Hauptverhandlungstermin vom 15.08.2022 eine Verfahrensgebühr Nr 5109 VV RVG und eine Terminsgebühr Nr. 5110 VV RVG nebst Abwesenheitsgeldern und Postpauschale Nr. 7002 VV RVG sowie die Verfahrensgebühr Nr. 5113 VV nebst einer weiteren Pauschale Nr. 7002 VV RVG geltend gemacht.

Die Bezirksrevisorin beim LG hat Einwendungen gegen die Geltendmachung der Verfahrensgebühr gemäß Nr. 5109 VV RVG sowie der Pauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG für das erstinstanzliche Verfahren erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der Staatskasse neben den notwendigen Auslagen des Betroffenen für das Rechtsbeschwerdeverfahren nur noch die notwendigen Auslagen für den Termin am 15.08.2022 auferlegt worden seien. Die Verfahrensgebühr und auch die Pauschale seien jedoch nicht für den Termin selbst, sondern für das „übrige” Verfahren entstanden. Diese Auslagen seien nicht ausscheidbar und daher nicht zu erstatten.

Das AG hat das anders gesehen und ist dem Kostenfestsetzungsantrag des Betroffenen gefolgt. Die Festsetzung der Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG und der Postpauschale Nr. 7002 VV RVG hat es damit begründet, dass das Verfahren vom OLG an das AG zurückverwiesen worden sei. Damit sei § 21 Abs.1 RVG einschlägig.

Dagegen hat die Bezirksrevisorin sofortige Beschwerde eingelegt, der das AG nicht abgeholfen und die Sache dem LG zur Entscheidung vorgelegt hat. Dort hatte die sofortige Beschwerde Erfolg:

„Die sofortige Beschwerde der Landeskasse hat auch in der Sache Erfolg. Das Amtsgericht hat zu Unrecht die Festsetzung der dem Betroffenen aufgrund der Kostengrundentscheidung des Urteils des Amtsgerichts Wernigerode vom 04.09.2023 zu erstattenden notwendigen Auslagen auch auf die beantragte Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG sowie die Postpauschale, jeweils nebst 19 % Umsatzsteuer, erstreckt. Zur Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen der Bezirksrevisorin in ihrer Stellungnahme vom 18.10.2023 sowie in ihrer Beschwerdebegründung vom 04.12.2023, denen sich die Kammer nach kritischer Prüfung vollinhaltlich anschließt, Bezug genommen. Die Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG entsteht unabhängig von der Durchführung eines Hauptverhandlungstermins und kann daher nicht – wie die Verteidigung meint – untrennbar mit einem solchen verbunden sein. Ebenso wenig ergibt sich vorliegend aus der Regelung des § 21 Abs. 1 RVG eine Erstattungsfähigkeit der Verfahrensgebühr Nr. 5109 und der Postpauschale im Wege der Festsetzung der dem Betroffenen zu erstattenden notwendigen Auslagen. Es mag nach dieser Vorschrift eine weitere Verfahrensgebühr angefallen sein, allerdings ist diese nach der Kostengrundentscheidung des Urteils vom 04.09.2023 nicht von der Landeskasse, sondern vom Betroffenen zu tragen.“

Die Entscheidung ist zutreffend. M.E. kommt es bei der Bewertung der Entscheidung zunächst auf die vom LG angesprochenen Fragen des Entstehens der Verfahrensgebühr und der Terminsgebühr sowie die der Frage der Zurückverweisung (§ 21 Abs. 1 RVG) an. Insoweit stellt das LG zutreffend dar, dass die Terminsgebühr nach Vorbem. 5. Abs. 3 VV RVG und auch Vorbem. 4 Abs. 3 VV RVG für die Teilnahme des Rechtsanwalts an einem Termin entsteht. Es handelt sich um eine der in den Vorbem. 5 Abs. 2 VV RVG bzw. Nr. 4 Abs. 2 VV RVG erwähnten besonderen Gebühren. Die durch sie abgegoltene Teilnahme wird nicht von einer Verfahrensgebühr (für das gerichtliche Verfahren) erfasst. Die erfasst nur das (allgemeine) Betreiben des Geschäfts (zum Abgeltungsbereich der Gebühren Burhoff AGS 2022, 1 und 97). Und man muss auch nicht darüber streiten, dass durch die Zurückverweisung der Sache gem. § 21 Abs. 1 RVG alle Gebühren – mit Ausnahme der Grundgebühr – noch einmal entstehen, da es sich nach Zurückverweisung um eine neue Angelegenheit i.S. von § 15 RVG handelt (vgl. dazu Burhoff AGS 2023, 102; Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Teil A Rn 2690 ff.). Damit hat das LG Recht, wenn es – unter Bezugnahme auf die Bezirksrevisorin ausführt -, dass durch den Termin vom 15.8.2022 eine Verfahrensgebühr Nr. 5109 VV RVG nicht mehr entstehen konnte. Denn die war bereits durch die sonstigen Tätigkeiten des Verteidigers im gerichtlichen Verfahren – unabhängig von der Hauptverhandlung entstanden. Es handelt sich nicht (mehr) um „die Kosten des Termins ….“.

Haft III: Unüberwachter Besuch beim Mitbeschuldigten, oder: Verteidiger/Rechtsanwalt unter Generalverdacht?

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Und dann zum Tagesschluss noch der OLG Hamburg, Beschl. v. 28.02.2024 – 1 Ws 10/24. Mit dem Beschluss habe ich meine Probleme, und nicht nur ich, sondern der Kollege, der mir den Beschluss geschickt hat, der Kollege Fülscher aus Kiel, auch.

Der Kollege ist Verteidiger in einem noch laufenden Verfahren vor dem LG Hamburg wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Zunächst ist in dem Verfahren gegen den Mandanten des Kollegfen und dessen Bruder, im Folgenden ist das der Angeklagte, gemeinsam ermittelt worden. Später hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Mandanten des Kollegen abgetrennt. Der Angeklagte/Bruder befindet sich seit November 2020 wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft befindet und er ist am 19.o1.2024 – noch nicht rechtskräftig – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden.

Kurz vor Abschluss der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten hat der Kollege beantragt, den Angeklagten gemeinsam mit seinem Mitverteidiger ohne Überwachung in der JVA sprechen zu dürfen. Er hat die Erteilung einer entsprechenden Besuchserlaubnis beantragt. Diesen Antrag hat der Vorsitzende der Strafkammer abgelehnt.

Dagegen die Beschwerde, die das OLG zurückgewiesen hat:

„a) Einem unüberwachtem Besuch bei dem Angeklagten durch die Verteidiger des ehemaligen Mitbeschuldigten pp. steht bereits das Haftstatut, das anordnet, dass Besuche zu überwachen sind, entgegen.

aa) Das Haftstatut ist rechtmäßig erlassen worden uno ist aufgrund der Besonderheiten im hiesigen Fall auch nach Durchführung der Hauptverhandlung zur Vermeidung von Verdunklungshandlungen weiterhin erforderlich.

(1) Über die bloße Freiheitsentziehung hinausgehende Beschränkungen auf der Grundlage von § 119 Abs. 1 StPO sind nur zulässig. wenn für eine Gefährdung des Haftzwecks konkrete Anhaltspunkte vorliegen (BVerfG, Beschl. v. 30. Oktober 2014 – 2 BA 1513/14, juris Rn. 18; OLG Celle, Beschl. v. 22. Februar 2019 – 3 Ws 67/19, juris Rn. 10 f.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 26. September 2018 – 1 Ws 207/18, juris Rn. 3; KG Berlin, Beschl. v. 12. August 2013 – 4 Ws 102-103/13, juris Rn. 11). Hierbei muss der zu schützende Haftzweck nicht gleichzeitig nach Lage des Falles einen Haftgrund bilden (HansOLG in Bremen, Beschl. v. 10. Mai 2022 – 1 Ws 30/22, juris Rn. 13 m.w.N.). Eine Anordnung kann daher auch dann auf Verdunkelungsgefahr gestützt werden, wenn die Untersuchungshaft alleine auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird.

Maßgeblich für eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 StPO ist, ob bestimmte Umstände es nach einer Wahrscheinlichkeitsprognose nahelegen, dass der Beschuldigte ohne Beschränkungsanordnung im Untersuchungshaftvollzug Handlungen begehen könnte, die den Haftzwecken zuwiderlaufen.

Bei Tatbeteiligten gilt im Hinblick auf eine Verdunkelungsgefahr der Erfahrungssatz. dass der unkontrollierte Informationsaustausch untereinander die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung mit sich bringt. Absprachen zwischen Mittätern im Hinblick auf das Vorgehen im Prozess, insbesondere hinsichtlich des Einlassungsverhaltens, liegen jedenfalls in den Fällen nahe. in denen die Angeklagten nicht geständig sind (vgl. KG, Beschl. v. 7. August 2014 – 1 Ws 52/14, NStZ-RR 2014, 377; Beschl. v. 12. August 2013 – 4 Ws 102-‚103/13, StV 2014, 229 und Beschl. v. 7. Februar 2012 – 4 Ws 11/12, juris Rn. 31; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 119 StPO, Rn. 7; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 119 R1. 42). Hinweise auf konkrete Vorhaben des Gefangenen sind dafür nicht erforderlich. Zur Begründung der Gefahr können vielmehr auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen, wie die Art der dem Inhaftierten zur Last gelegten Taten und ihrer Begehung, herangezogen werden (KG Berlin, Beschl. v. 7. August 2014 – 1 Ws 52/14, juris Rn. 6; Krauß in BeckOK StPO, 50. Edition, § 119 Rn. 12 m.w.N.; Lind/Gärtner in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 119 Rn. 21). Dies gilt insbesondere bei Tätergruppen, die im Rahmen der Begehung der wahrscheinlichen Straftaten gezeigt haben, gegen gesetzliche Regeln geplant, wiederholt und systematisch zu verstoßen. Relevant sind hiernach insbesondere Fälle der organisierten Kriminalität (Krauß a.a.O.).

Dementsprechend ist gerade im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität die Anordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 Satz 1 StPO oftmals geboten, da erfahrungsgemäß damit zu rechnen ist, dass ein Beschuldiger auf andere. namentlich auf Beteiligte der Betäubungsmittelgeschäfte. unlauter einwirken wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -, Rn. 19, BeckRS 2014, 59292).

Nach Durchführung der Hauptverhandlung in der letzten Tatsacheninstanz kommen Beschränkungen wegen Verdunkelungsgefahr regelmäßig nur noch in Betracht. wenn im Hinblick auf eine mögliche Aufhebung des Urteils der Beweiswert der gewonnenen Beweismittel durch Verdunkelungshandlungen noch gefährdet sein kann (Krauß, a a.O.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 8. Februar 2022 – 1 Ws 21/22, Rn. 11, BeckRS 2022, 2423: OLG Köln, Beschl. v. 15. März 2021 – 2 Ws 133/21, BeckRS 202‘ , 22217).

(2) Gemessen hieran liegen weiterhin – auch nach erstinstanzlicher Verurteilung – hinreichend konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass ohne die Beschränkungsanordnungen eine unlautere Einflussnahme auf die Wahrheitsermittlung durch den Angeklagten zu besorgen ist.

Der Charakter der wahrscheinlichen Straftaten und die Art und Weise der Tatbegehung lassen darauf schließen, dass der Angeklagte eine hohe Bereitschaft und Fähigkeit mit sich bringt, Regeln zu missachten und zu umgehen (dazu nachfolgend (a)). Aktuell besteht zudem unverändert eine Sach- und Beweislage fort, bei der der Angeklagte deswegen Anlass zu rechtswidrigen Verdunkelungsmaßnahmen hat, weil diese auch weiterhin erfolgreich sein können (dazu nachfolgend (b), vgl. dazu auch Senat. Beschl. v. 4. Mai 2023 – 1 Ws 29/23).

(a) Bereits der Tatvorwurf der bandermäßigen Begehung begründet die hohe und reale Gefahr der Abstimmung eines Aussageverhaltens. Gegen den Angeklagten besteht der dringende Verdacht, sich im Rahmen des ihm vorgeworfenen Tatgeschehens in planvoll-professioneller Weise hochkonspirativ in Bandenstrukturen bewegt und reit den anderen Tatbeteiligten abgestimmt und organisiert zu haben. Hiernach steht nach Lage des vorliegenden Einzelfalles zu befürchten, dass die ein gespielten Tat- und Kommunikationsmuster der Beteiligten für eine rechtswidrige Abstimmung im Hinblick auf das vorliegende Verfahren nutzbar gemacht werden könnten.

Hinzu kommt, dass das Wirken des Angeklagten schon während der Tatbegehung zielgerichtet auf Verdunkelung ausgerichtet war. Der Angeklagte und die mitangeklagten Bandenmitglieder sowie weitere Tatbeteiligten verhielten sich hochkonspirativ. Sie kommunizierten miteinander mit Krypto-Handys über die Kommunikationsplattformen EncroChat und SkyECC. Angesichts der schon während der Tatbeteiligung vom Angeklagten vorgenommenen intensiven und professionellen Bemühungen zur Vermeidung der Wahrheitsfindung durch Ermittlungsorgane steht zu befürchten, dass er ihm beim Vollzug der Untersuchungshaft gewährte Freiräume auch dazu nutzen würde, Verdunkelungshandlungen vorzunehmen.

Hinzu kommt, dass sich der Angeklagte im Rahmen der nunmehr gut dreijährigen Untersuchungshaft bereits diverse Disziplinarverstöße zuschulden kommen lassen und Verdunklungshandlungen vorgenommen hat. So wurden am 13. April und am 28. November 2022 sowie am 30. August 2023 und am 15. Januar 2024 jeweils Mobiltelefone – zuletzt sogar drei Stück – im Haftraum des Angeklagten aufgefunden, mit denen er nachgewiesener Weise auch Kontakt zu seinem Bruder, dem Mandanten des Beschwerdeführers, hatte. Diesbezüglich nimmt der Senat Bezug auf die ausführlichen Darlegungen im landgerichtlichen Beschluss

(b) Das am 19. Januar 2024 gegen den Angeklagten ergangene Urteil des Landgerichts steht der Annahme der Verdunkelungsgefahr nicht entgegen. Es ist noch nicht rechtskräftig. Der Angeklagte hat dagegen ebenso wie mindestens acht der weiteren zehn des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verdächtigen Mitangeklagten Revision eingelegt.

Im Falle erfolgreicher Revision und einer daraus resultierenden notwendigen zweiten Tatsachenverhandlung ist nicht von einer hinreichenden Beweissicherung durch das erste Tatgericht auszugehen. Bei der hier bestehenden, besonderen Beweiskonstellation ist der Beweiswert der gewonnenen Beweismittel durch Verdunkelungshandlungen noch gefährdet.

Es besteht nach wie vor die nicht nur theoretisch mögliche, sondern vielmehr reale Gefahr von verfahrensrelevanten Absprachen der Angeklagten untereinander sowie mit sechs weiteren ehemaligen Mitbeschuldigten, gegen die die jeweiligen Ermittlungsverfahren abgetrennt wurden. Ausweislich des angefochtenen Beschlusses hat sich der Angeklagte schweigend verteidigt. Absprachen sind daher insbesondere vor dem Hintergrund, dass noch Hauptverfahren gegen ehemalige Mitbeschuldigte – wie z.B. den Mandanten des Beschwerdeführers – durchzuführen sind, zu befürchten.

Dass sich ein Großteil der Beweisführung auf die Auswertung vorhandener EncroChat- und SkyECC-Kommunikation gründet, lässt eine reale Verdunklungsgefahr nicht entfallen. Die Kommunikation per Krypto-Handy diente naturgemäß der Abwicklung der Geschäfte, beinhaltete aber naheliegend nicht zuvor gefasste, persönlich getroffene Bandenabsprachen. Nicht zuletzt bedürfen die ausgewerteten Kommunikationen via EncroChat und SkyECC hinsichtlich ihres Aussagegehalts einer Bewertung.

bb) Die Beschränkungen im Haftstatut erweisen sich auch unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung, der schutzwürdigen Interessen des Beschwerdeführers sowie des Zeitablaufs von gut drei Jahren als weiterhin verhältnismäßig.

(1) Sie sind zur Abwehr der weiterhin bestehenden Gefahr von Verdunkelungshandlungen des Beschwerdeführers aus der Haft heraus erforderlich. Auch eine teilweise Aufhebung dieser Beschränkungen kommt nicht in Betracht. Eine Modifikation des Haftstatuts dahingehend. dass Besuche der Verteidiger seines ehemals mitbeschuldigten Bruders ohne Überwachung genehmigt werden, ließe die Gefahr von Verdunkelungshandlungen unmittelbar aufleben. Der Gefahr von Verdunkelungshandlungen kann nur begegnet werden, wenn die Beschränkungen in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten bleiben.

(2) Die Beschränkungen erweisen sich auch als zumutbar. Dabei verkennt der Senat nicht das erhebliche Ausmaß der mit den Beschränkungen -insbesondere in der Summe – verbundenen Beeinträchtigungen der Grundrechte des Angeklagten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Empfang von Besuchen nicht gänzlich untersagt worden, sondern lediglich von der Erteilung einer vorangegangenen Erlaubnis abhängig gemacht worden ist. Besuche sind überwacht möglich.

b) Ein Anspruch auf Genehmigung eines unüberwachten Besuchs ergibt sich auch nicht aus der Stellung des Beschwerdeführers und seines Mitverteidigers als Verteidiger eines ehemaligen Mitbeschuldigten und der für eine sogenannte Sockelverteidigung eventuell förderlichen Abstimmungen.

Dabei kann dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen auch ein berechtigtes Interesse an einer Sockelverteidigung (vgl. hierzu etwa Willnow in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023. vor § 137 Rn. 9 m.w.N.) Grenzen unterliegt.

Denn jedenfalls führt ein solches Interesse nicht dazu, einem Verteidiger jenseits des Umgangs mit dem von ihm vertretenen Mandanten Sonderrechte auch im Umgang mit Dritten – sei es auch Mitbeschuldigter, – zuzubilligen.

(1) Zu den unabdingbaren Voraussetzungen eines Verteidigungsverhältnisses gehört ein ungehinderter Verkehr zwischen dem Verteidiger und dem von ihm vertretenen Angeklagten. Der Verkehr zwischen Verteidiger und Angeklagtem ist daher. um eine freie und effektive rechtsstaatlich gebetene Verteidigung einschließlich des dafür erforderlichen Vertrauensverhältnisses und dadurch ein faires Verfahren zu gewährleisten (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 7. März 2C12 – 2 BA 988/10 -. Rn. 30), von jeder Behinderung und jeder Erschwerung freigestellt. Unüberwachter mündlicher und schriftlicher Verkehr ist gewährleistet, auch wenn der Angeklagte inhaftiert ist, vgl. § 148 StPO. Der Verteidiger hat ein dabei eigenes Recht auf ungehinderten Verkehr mit seinem inhaftierten Mandanten

(2) Diese Vorgaben betreffen indes. lediglich das Verhältnis des Verteidigers zu dem von ihm vertretenen Mandanten. Das in § 148 Abs. 1 StPO zum Tragen kommende Ziel der „völlig freien Verteidigung“ (vgl. Willnow a.a.O. § 148 Rn. 4) weist insoweit einen besonderen Regelungscharakter auf, als es keine Abwägung mit Belangen der Allgemeinheit an wirksamer Strafverfolgung und Missbrauchsprophylaxe vornimmt, sondern für einen bestimmten Bereich den Belangen effektiver Verteidigung den grundsätzlichen Vorrang einräumt. Wortlaut und Sinn der Vorschrift nach kann die damit einhergehende Unbeschränktheit nur den Kern des strafverfahrensrechtlichen Mandatsverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandanten betreffen (vgl. auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 13. Oktober 2009 – 2 BvR 256/09 -, juris, Rn. 20 ff.) und darf nicht verallgemeinert werden.

Weder aus einer entsprechenden Anwendung des § 148 StPO noch sonst aus Gründen des fairen Verfahrens kann dabei ein Recht des Verteidigers auf eine unbeschränkte oder sonst privilegierte, insbesondere unüberwachte Kommunikation mit einem Mitbeschuldigten oder Zeugen folgen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt. StPO 66. Aufl., § 148 Rn. 2 m.w.N.: Jahn in: Löwe-Rosenberg. StPO, 27. Aufl., § 148 StPO, Rn. 21: OLG Schleswig. Beschl. v. 6. Dezember 2001 – 1 Ws 461/01, juris). Voraussetzung eines fairen Verfahrens und einer wirksamen Verteidigung ist es insbesondere nicht, dass ein Verteidiger Ermittlungsbefugnisse erhält. die nach allgemeinem Recht nicht bestehen. Unterliegen Besuche eines Mitbeschuldigten aufgrund einer rechtmäßigen Anordnung der Überwachung, ist hiernach auch der Verteidiger daran gebunden. Dem Interesse an einer Abstimmung mit Mitbeschuldigten wird dadurch genügt, dass den Verteidigern gemeinsame Gespräche und Abstimmungen des Verteidigungsverhaltens untereinander namentlich im Rahmen einer Sockelverteidigung in den durch das Gesetz gezogenen Grenzen (vgl. nur BGH, Urt. v. 3. Oktober 1979 – 3 StR 264,79, BGHSt 29. 99. 102 ff.) nicht verwehrt sind (Senat, a.a.O., m.w.N.).“

Wie gesagt: Ich habe mit dem Beschluss Probleme. M.E. ist er „grenzwertig.“ Denn:

Das OLG berücksichtigt zu wenig, dass „Mitbeschuldigter“ auf den Mandanten des Kollegen so nicht mehr zutrifft, denn dessen Verfahren ist schon länger abgetrennt.

Zudem: Was soll Ihr Mandat des Kollegen in einem anderen Verfahren, in dem ja ein Urteil vorliegt, noch verdunkeln? Es fehlen zudem konkrete Ausführungen im Hinblick darauf, ob Ihr Mandant verdunkeln würde/hat – EncroChat ist ein Totschlagargument – und vor allem: Ich meine, das OLG hätte sich mal etwas mit dem „Organ der Rechtspflege“ befassen müssen. Welche konkreten Anhaltspunkte hat man, dass der Kollege verdunkelt. So stellt man im Grunde, wenn nicht „Verteidiger“ zumindest aber den Kollegen unter eine Genralverdacht, der an keiner Stelle durch Tatsachen untermauert wird. Ich denke, die gibt es auch nicht.