Archiv der Kategorie: Verfahrensrecht

OWi II: Alte „Sitzungsrolle“ am Saal als Aushang, oder: Kenntnis des Verteidigers schadet nicht

entnommen wikimedia.org
Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Im zweiten Posting dann etwas Verfahrensrechtliches, und zwar der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.05.2024 – 1 ORbs 31 SsBs 12/24 – zur Verletzung der Öffentlichkeit. Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren, die Ausführungen des OLG haben aber auch Bedeutung in Strafverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, u.a. mit der Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Die hat Erfolg. Das OLG hat das AG-Urteil aufgehoben:

„Die Verfahrensrüge, mit welcher der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Öffentlichkeit gemäß §§ 169 Abs. 1 GVG, 338 Nr. 6 StPO i. V. m. §§ 71 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG rügt, ist zulässig erhoben und führt in vorliegender Konstellation auch in der Sache zum Erfolg.

1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrem Votum vom 2. April 2024 hierzu wie folgt aus:

„Gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO müssen die den geltend gemachten Verfahrensfehler begründenden Tatsachen so genau und vollständig mit-geteilt werden, dass dem Rechtsbeschwerdegericht allein anhand der Begründungsschrift und ohne Rückgriff auf den Akteninhalt die Prüfung ermöglicht wird, ob ein Verfahrensfehler, auf dem das Urteil beruhen kann, vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (OLG Koblenz, Beschluss vom 09.06.2006 – 1 Ss 161/06; Be-schluss vom 25.06.2012 – 1 SsRs 47/12; Beschluss vom 24.07.2012 – 1 SsRs 63/12).

Zur Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit, der auch im Bußgeld-verfahren gilt (OLG Schleswig, Beschluss vom 31.03.2022 — II OLG 15/22, BeckRS 2022, 14674 m.w.N.), gehört dazu die Angabe, der tatsächlichen konkreten Umstände, aus denen sich ergibt, dass das Gericht die Öffentlichkeit beschränkt hat (BGH, Beschluss vom 10.01.2006 1 StR 527/05, NJW 2006, 1220, 1221 f.) und warum es den Verfahrensverstoß zu vertreten hat (BGH, Beschluss vom 28.09.2011 – 5 StR 245/11, NStZ 2012, 173, 174 m.w.N.). Hingegen muss nicht dargelegt werden, dass sich tatsächlich jemand von der Teilnahme an der Verhandlung hat abhalten lassen (OLG Schleswig a. a. O.).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung gerecht.

Dass der Verteidiger des Betroffenen aufgrund des von ihm vor der Hauptverhandlung wahrgenommenen Fehlen des Aushangs um die Möglichkeit einer Verletzung der Öffentlichkeit wusste, führt nicht zum Verlust der Rüge. Denn diese könnte selbst dann zulässig erhoben werden, wenn er selbst den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt hätte (BGH, 1 ORbs 31 SsBs 12/24 Beschluss vom 31.01.1967 – 5 StR 650/66, NJW 1967, 687).“

Dem tritt der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung bei.

2. In der Sache ist die Verfahrensrüge begründet. Dadurch, dass – soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren feststellbar – letztlich keinerlei Aushang auf die im hiesigen Verfahren sattgehabte Sitzung am 26. Oktober 2023 hinwies, war der Öffentlichkeitsgrundsatz in unzulässiger Weise beschränkt und zwingt zur Aufhebung des ergangenen Urteils.

a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit aus § 169 Abs. 1 GVG soll die Kontrolle der Rechtspflege durch die Allgemeinheit ermöglichen und zählt zu den wesentlichen rechtsstaatlichen Strukturprinzipien des Strafprozesses. Er verlangt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit erhalten muss, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuschauer teilzunehmen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2023 – 1 StR 20/06, Rn. 10; Urteil vom 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – alle Fundstellen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zitiert nach juris). Dies umfasst auch über ausreichende Informationen über Ort und Zeit einer Gerichtsverhandlung zu verfügen. Ausreichend hierfür ist, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten hiervon Kenntnis zu verschaffen und dass der Zutritt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten eröffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66). Regelmäßig genügt wird dem Informationsbedürfnis durch einen entsprechenden Aushang („Terminsrolle“) am Sitzungssaal oder an anderer (zentraler) Stelle im Gerichtsgebäude (vgl. KG, Urteil vom 12. Dezember 2022 – (3) 121 Ss165/22). Daran fehlt es hier.

Wie die Rechtsbeschwerde durch Vorlage entsprechen der Lichtbilder und anwaltlich versichert vorträgt, war zur hiesigen Terminsstunde noch eine Sitzungsrolle vom Vormittag angebracht, die über öffentliche Verhandlungen der Zivilabteilung in Sitzungssaal 107 informierte. Ein Aushang für die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den Betroffenen unmittelbar an der Tür in den Sitzungssaal fehlt indes. Ein entsprechender Aushang befand sich auch nicht an anderer (zentraler) Stelle des Amtsgerichts, etwa im Eingangsbereich. Für eine interessierte Öffentlichkeit war damit nicht erkennbar, dass über-haupt eine Sitzung und dass konkret in dem Verfahren gegen den Betroffen die Hauptverhandlung in Sitzungssaal 107 stattfand. Für eine Nachfrage bei der Wachtmeisterei hinsichtlich einer Verlegung der Hauptverhandlung gegen den Betroffenen in einen anderen Sitzungssaal bestand angesichts dieses Aushangs keine Veranlassung; es konnte vielmehr davon ausgegangen werden, dass in Sitzungssaal 107 überhaupt keine Verhandlung am Nachmittag des 26. Oktober 2023 stattfindet.

b) Dieser Verstoß ist dem Gericht auch zuzurechnen. Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Votum vom 2. April 2024 aus:

„Zwar hat die Vorsitzende ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 15.02.2024 grundsätzliche die Sichtbarkeit und Richtigkeit des Aushangs vor dem Sitzungssaal an jedem Verhandlungstag überprüft und bei Fehlen eines Aushangs die zuständige Geschäftsstelle telefonisch über das Fehlen informiert, die diesen dann angebracht habe. Seit Übernahme des Ordnungswidrigkeitendezernats am 04.10.2023 erinnere sie sich konkret an zwei Fälle, in denen der Sitzungsaushang gefehlt habe. Ob dies am hier gegenständlichen Verhandlungstag der Fall gewesen sei, wisse sie aber nicht mehr.

Die dienstlichen Stellungnahmen der Geschäftsstellen erweisen sich insoweit ebenfalls als unergiebig, da diese ebenfalls keine konkrete Erinnerung an den konkreten Verhandlungstag mehr haben.

Danach aber kann – da die dienstliche Stellungnahme der Vorsitzenden dies nicht näher eingrenzt – nicht ausgeschlossen werden, dass der Vorsitzenden bereits innerhalb des kurzen Zeitraums von wenigen Wochen, innerhalb dessen sie für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständig war bis zur Hauptverhandlung in der Sache, das Fehlen des notwendigen Aushangs bereits aufgefallen war und sie die Geschäftsstelle angewiesen hatte, diesen noch anzubringen. Mithin bestand für sie ein konkreter Anlass das Vorhandensein eines aktuellen Aushangs am Verhandlungstag zu überprüfen, was hier indes offenbar unterblieben ist.

Nichts Anderes dürfte gelten, wenn die Vorsitzende – wozu sich die dienstliche Stellungnahme ebenfalls nicht verhält – den Aushang vom Vortag irrtümlich nicht als solchen wahrgenommen, sondern als Aushang für den aktuellen Sitzungstag angesehen hätte. Denn auch in diesem Falle wäre sie ihrer Sorgfaltspflicht zur Wahrung der Öffentlichkeit nicht hinreichend nachgekommen.“

Diesen Erwägungen tritt der Einzelrichter des Senats bei. Für die Vorsitzende hätte aufgrund des vorherigen, zweimaligen Fehlens des Sitzungsaushangs innerhalb weniger Wochen Veranlassung bestanden, die Richtigkeit des Sitzungsaushangs zu überprüfen, zumal sie (unwidersprochen) den Sitzungssaal durch die Zuschauertür betreten hatte, mithin an dem unzutreffenden Aushang vorbeigegangen war, und sie den Saal am Nachmittag des 26. Oktober 2023 im Anschluss an vorausgegangene Termine (hier der Zivilabteilung) nutzte.

Da es sich bei dem Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit um einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund handelt (§ 338 Nr. 6 StPO i. V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG), vermutet das Gesetz unwiderleglich, dass das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Auf die entsprechende Rüge hin war das Urteil daher aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Alzey zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).“

Also Augen auf. Und: Man muss ja nicht alles erzählen/kund tun, was man dann entdeckt 🙂

Verkehrsrecht III: Entziehung der FE nach 9 Monaten, oder: Verstoß gegen des Verhältnismäßigkeitsgebot

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Und dann noch der LG Hamburg, Beschl. v. 05.08.2024 – 612 Qs 67/24  – ebenfalls zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach längerem Zeitablauf nach der Anlasstat.

Das AG hat dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis in einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort vorläufig entzogen. Dagegen dann die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„2. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Beschuldigten durch das Amtsgericht Hamburg stellt sich im vorliegenden Fall mit Blick auf die Verfahrensdauer als nicht mehr verhältnismäßig dar.

a) Es besteht indes der dringende Tatverdacht, dass der Beschuldigte eine Straftat nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen hat.

…..

3. Der Beschuldigte ist nach vorläufiger Würdigung der Beweislage auch als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Dies folgt aus der vorliegend einschlägigen und nicht widerlegten Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB in Verbindung mit § 142 StGB.

…..

4. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Amtsgericht Hamburg genügt jedoch mit Blick auf die Verfahrensdauer nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist aufzuheben, wenn durch schwerwiegende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens eintritt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 14.02.2006 – Az. 1 Ws 119/06, Rn. 21, juris). Dies gilt insbesondere für eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens, die den Beschuldigten sodann in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verletzt (BVerfG, Beschluss vom 15.03.2005 – 2 BvR 364/05, NJW 2005, 1767 (1768)). Es sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Darüber hinaus ist grundsätzlich in den Blick zu nehmen, dass wenn der Beschuldigte nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitz seiner Fahrerlaubnis ist und beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilnimmt, sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis wächst, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert (zum Ganzen: KG, Beschluss vom 08.02.2017 – Az. 3 Ws 39/17, BeckRS 2017, 113772).

Gemessen an diesen Maßstäben stellt sich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegend als nicht mehr verhältnismäßig dar.

Dabei ist die erhebliche, gegen das Beschleunigungsgebot verstoßende Verfahrensdauer zwischen der hochwahrscheinlich begangenen Tat und den ersten Maßnahmen der Strafermittlungsbehörden in den Blick zu nehmen. Die Tat wurde seitens der Zeugin pp. durch eine E-Mail ihres Rechtsanwaltes pp. am 20.09.2023 dem Polizeikommissariat 43 zur Kenntnis gebracht (Bl. 5 ff. d.A.). Als nächstes Schriftstück befindet sich ein Schreiben des Rechtsanwalts pp. vom 13.11.2023 in der Akte, in dem dieser mitteilt, dass die Akte nicht mehr benötigt werde (Bl. 11 d.A.). In der Akte folgt sodann ein Vermerk der Polizeidienststelle VD 42 vom 09.04.2024, in dem mitgeteilt wird, dass die Sachbearbeitung übernommen wurde. Demzufolge sind fast sieben Monate vergangen, ohne dass ersichtliche Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Der Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erging sodann am 16.06.2024 (Bl. 31 d.A.) und damit mehr als neun Monate nach der hochwahrscheinlich begangenen Tat, was bereits für sich genommen in erheblicher Spannung zum Charakter des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO als Eilmaßnahme steht.

Hinzu kommt, dass der Beschuldigte zumindest laut der in der Akte befindlichen Auskunft des Kraftfahrbundesamtes vom 07.05.2024 seit der hochwahrscheinlich begangenen Tat am 05.09.2023 beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilgenommen hat, wodurch neben der langen Verfahrensdauer zusätzlich Vertrauen in den – zumindest vorläufigen – Bestand der Fahrerlaubnis beim Beschuldigten entstanden ist.“

Tja, vielleicht ein Phyrrussieg? Einerseits sicherlich sehr schön die Aufhebung, andererseits macht das LG aber – an sich nicht notwendige – Ausführungen zur Tat und zur Beweiswürdigung, die das AG – je nach Einlassung des Beschuldigten – wahrscheinlich mit Freuden lesen wird. Denn da kann es ggf. schän „abschreiben“.

StPO III: StA „verweigert“ ausreichende Ermittlungen, oder: Hauptverhandlung vor der Hauptverhandlung?

Und dann zum Tagesschluss noch der AG Eilenburg, Beschl. v. 13.11.2024 – 8 Ds 962 Js 41314/24 jug.

In dem Verfahren wirft die Staatsanwaltschaft dem 16-jährigen Angeschuldigten, der bei seiner Mutter lebt,vor, sich des Betruges gemäß § 263 Abs. 1 StGB strafbar gemacht zu haben. Dem Angeschuldigten wird im Einzelnen folgendes zur Last gelegt zu haben. Wegen der Einzelheiten des Vorwurfs und des Verfahrensgangs dann bitte im Volltext nachlesen. Hier geht es jetzt nur um die Ausführungen des AG zu seinen Verpflichtungen im Zwischenverfahren.

Das AG hat nämlich die Eröffnung des Hauptverfahrens iaus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da es an einem hinreichenden Tatverdacht fehlt (§ 203 StPO). In dem Zusammenhang „schreibt es der Staatsanwaltschaft ins Stammbuch“:

„….

3. Für das Gericht besteht im vorliegenden Fall auch keine Rechtspflicht nach § 202 StPO, durch eigene umfangreiche Ermittlungen im Zwischenverfahren die Grundlagen für den hinreichenden Tatverdacht zu schaffen (vgl. bereits AG Eilenburg, Beschl. v. 26.09.2022 – 8 Ds 950 Js 50859/21 -, juris). Nach dem Wortlaut des Gesetzes („kann das Gericht zur besseren Aufklärung der Sache einzelne Beweiserhebungen anordnen”) stehen diese Ermittlungen im Zwischenverfahren im Ermessen des Gerichts; hingegen muss es im Hauptverfahren gemäß § 244 Abs. 2 StPO von Amts wegen eine erschöpfende Beweisaufnahme durchführen. Bei den in § 202 StPO benannten Beweiserhebungen kann es sich zudem nur um „einzelne Beweiserhebungen” handeln, also – in diesem Stadium – um eine bloße Ergänzung oder Überprüfung eines von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren bereits weitgehend aufgeklärten Sachverhalts. Würde die Ermittlungsanordnung des Gerichts darauf hinauslaufen, dass erhebliche Teile des Ermittlungsverfahrens nachgeholt werden müssten bzw. dadurch erst die Voraussetzungen eines hinreichenden Tatverdachtes geschaffen werden, so ist für das Verfahren nach § 202 StPO kein Raum (so LG Berlin, Beschl. v. 12.03.2003 – 534 Qs 31/03 -, NStZ 2003, 504 mit zustimmender Anmerkung Lilie, NStZ 2003, 568; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 03.02.2014 – 2 Ws 614/13 -, BeckRS 2016, 18956 m. w. N.).

So liegt der Fall hier. Relevante Umstände, aus denen auf die Täterschaft des Angeschuldigten M. für den Tatvorwurf vollendeter Betrug geschlossen werden kann, sind im Ermittlungsverfahren nicht festgestellt worden. Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur nicht die Ermittlungen trotz anderslautender formularmäßiger Behauptung bei Anklageerhebung abgeschlossen; sie hat die Ermittlungen regelrecht verweigert.

Es ist aus den oben dargelegten Gründen nicht Aufgabe des Tatrichters, das sich offenkundig aufdrängende Beweisprogramm im Zwischenverfahren abzuarbeiten und damit quasi eine „Hauptverhandlung” vor der Hauptverhandlung durchzuführen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an die Gefahr der Befangenheit, der sich das Gericht aussetzt, das selbst vor Zulassung der Anklage umfangreiche Ermittlungen durchführt (so bereits LG Berlin, a. a. O.). Zutreffend weist Lilie (NStZ 2003, 568) darauf hin, dass § 202 StPO nicht dazu missbraucht werden dürfe, mangelnde staatsanwaltliche Kontrolle polizeilicher Ermittlungstätigkeit im Zwischenverfahren nachzuholen, da es sonst zu einer Schieflage im Verhältnis der Aufgaben zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht käme. Der Nachweis begründeten Tatverdachts dürfe nicht auf die Eingangsgerichte abgewälzt werden. § 202 StPO müsse restriktiv angewendet werden und einen Ausnahmefall bilden.“

StPO II: Bewertung einer Verteidigererklärung, oder: Genauer Wortlaut nur bei Verlesung maßgeblich

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Im zweiten Posting dann der umfangreiche BGH, Beschl. v. 24.10.2024 – 4 StR 249/24. Aus dem interessieren heute hier aber nur die Ausführungen zur Bewertung einer sog. Verteidigererklärung. Der Angeklagte wollte aus der in Form einer Verteidigererklärung angegebenen Einlassung eines Mitangeklagten andere Schlüsse gezogen haben, als vom LG gezogen worden sind. Dazu führt der BGH aus:

„1. Der Inbegriffsrüge (§ 261 StPO), mit der der Beschwerdeführer eine inhaltlich unrichtige Berücksichtigung der Einlassung des nichtrevidierenden Angeklagten K. im Fall II. 22 der Urteilsgründe beanstandet, bleibt der Erfolg versagt.

Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Der Angeklagte K. hat sich in der Hauptverhandlung – ausweislich der Urteilsgründe „abschließend“ – über eine Verteidigererklärung zur Sache eingelassen. Die von seinem Verteidiger hierzu schriftlich abgefasste, mündlich vorgetragene und anschließend vom Angeklagten gebilligte Erklärung wurde im Nachgang zum Hauptverhandlungsprotokoll genommen.

a) § 261 StPO gebietet, bei der Urteilsfindung den gesamten entscheidungserheblichen Beweisstoff, der in der Hauptverhandlung gewonnen wurde, zu berücksichtigen. Das ist vorliegend geschehen. Die Strafkammer hat die Einlassung des Angeklagten K. zur Grundlage ihrer getroffenen Feststellungen gemacht und sich mit ihr eingehend in den Urteilsgründen befasst. Einer hiervon abweichenden Beweiswürdigung steht der Bewertungsvorrang des Tatgerichts entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2018 – 5 StR 90/18).

b) Soweit der Beschwerdeführer hingegen andere mögliche Schlüsse aus der Verteidigererklärung ziehen will als das Tatgericht, bleibt seine Beschwerde erfolglos (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 – 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 21 f.; MüKo-StPO/Bartel, 2. Aufl., § 261 Rn. 436). An einer am Wortlaut der Verteidigererklärung ausgerichteten Richtigkeitskontrolle sieht sich der Senat wegen des Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren gehindert. Der genaue Wortlaut wäre nur im Falle der förmlichen Verlesung der Erklärung im Wege des Urkundenbeweises Maßstab der Überprüfung der Beweiswürdigung gewesen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. August 2018 – 5 StR 183/18 Rn. 8; Beschluss vom 14. August 2003 – 3 StR 17/03, NStZ 2004, 163, 164 mwN). Eine entsprechende Anordnung ist nicht ergangen und musste auch nicht ergehen, denn die Vernehmung eines Angeklagten zur Sache nach § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO unter Verweis auf § 136 Abs. 2 StPO erfolgt grundsätzlich mündlich und kann nicht durch die Verlesung einer Erklärung des Angeklagten durch das Gericht ersetzt werden (vgl. BGH, aaO; Beschluss vom 28. März 2000 – 1 StR 637/99, NStZ 2000, 439; MüKo-StPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 243 Rn. 87).“

StPO I: Gemeinsame Unterbringung in einem Haftraum, oder: Zweck verdeckte Innenraumüberwachung

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Heute gibt es dann drei StPO-Entscheidungen. Zwei kommen vom BGH, eine ist schon ein wenig älter, die dritte Entscheidung kommt von einem AG.

Den Opener macht ich mit dem BGH, Beschl. v. 23.07.2024 – 3 StR 134/24.

Folgender Sachverhalt: Der Angeklagte und der nicht revidierende Mitangeklagte wurden für eine Vorführung beim Haftrichter von R. nach T. gebracht und dort gemeinsam in einer Gewahrsamszelle untergebracht. Zuvor hatte das AG die akustische Innenraumüberwachung dieses Haftraums angeordnet. Als Grund für die gemeinsame Unterbringung teilten die Ermittlungsbeamten den Angeklagten wahrheitswidrig mit, alle anderen Gewahrsamszellen seien belegt. Im Rahmen der Überwachung wurde ein Gespräch aufgezeichnet, in dem der Angeklagte versuchte, den Mitangeklagten zu überreden, die Verantwortung für die Tat auf sich zu nehmen und den Angeklagten zu entlasten.

Der Angeklagte hat der Verwertung dieses Gesprächs in der Hauptverhandlung widersprochen. Das LG hat die Angaben der Angeklagten als verwertbar angesehen.S eine Revision blieb erfolglos:

„3. Davon unabhängig hat die Verfahrensrüge in der Sache keinen Erfolg.

a) Das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren wurzelt im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG). Es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens herabzuwürdigen, und es verpflichtet den Staat zu korrektem und fairem Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. März 2009 – 2 BvR 2025/07, juris Rn. 14 mwN; BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/98, BGHSt 53, 294 Rn. 34 ff.).

aa) Die Ausgestaltung des Strafverfahrensrechts in einer Weise, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens gewahrt wird, ist in erster Linie dem Gesetzgeber und sodann – in den vom Gesetz gezogenen Grenzen – den Gerichten bei der ihnen obliegenden Rechtsanwendung und -auslegung aufgegeben. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht – auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte – ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Forderungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. März 2009 – 2 BvR 2025/07, juris Rn. 15; vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 276; vom 17. Mai 1983 – 2 BvR 731/90, BVerfGE 64, 135, 145 f.). Im Rahmen dieser Gesamtschau sind auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 1978 – 2 BvR 406/77, BVerfGE 47, 239, 250; vom 14. September 1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367, 375). Das Rechtsstaatsprinzip, das die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält, fordert nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts. Es gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 19. Juli 1972 – 2 BvL 7/71, BVerfGE 33, 367, 383; vom 20. Oktober 1977 – 2 BvR 631/77, BVerfGE 46, 214, 222). Der Rechtsstaat kann sich aber nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 19. Juli 1972 – 2 BvL 7/71, BVerfGE 33, 367, 383; vom 20. Oktober 1977 – 2 BvR 631/77, BVerfGE 46, 214, 222; vom 18. März 2009 – 2 BvR 2025/07, juris Rn. 16).

bb) Das Recht auf ein faires Verfahren umfasst dabei das Recht jedes Angeklagten auf Wahrung seiner Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens. Es hat in dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) und in den Vorschriften der §§ 136a, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO seinen Niederschlag gefunden. Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung bedeutet, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. März 2004 – 1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99, BVerfGE 109, 279, 324; Beschluss vom 13. Januar 1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 49; BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/98, BGHSt 53, 294 Rn. 36).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind das Schweigerecht eines Beschuldigten und seine Entscheidungsfreiheit, in einem Strafverfahren auszusagen oder zu schweigen, – über die Anwendung von Zwang hinaus – dann verletzt, wenn die Strafverfolgungsbehörden in einem Fall, in dem sich der Beschuldigte für das Schweigen entschieden hat, eine Täuschung anwenden, um ihm ein Geständnis oder andere belastende Angaben zu entlocken, die sie in einer Vernehmung nicht erlangen konnten, und die so gewonnenen Geständnisse oder selbst belastenden Aussagen in den Prozess als Beweise einführen (vgl. EGMR, Urteil vom 5. November 2002 – 48539/99, JR 2004, 127 Rn. 50). Ob das Schweigerecht in einem solchen Maß missachtet wurde, dass eine Verletzung von Art. 6 MRK gegeben ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. EGMR, Urteil vom 5. November 2002 – 48539/99, JR 2004, 127 Rn. 51).

Auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das heimliche und täuschende, durch Ermittlungsbehörden veranlasste Ausfragen des Beschuldigten durch private oder verdeckt ermittelnde Personen gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, obwohl hier der Schwerpunkt nicht im Zwang zur Mitwirkung des Beschuldigten, sondern in der Heimlichkeit seiner Ausforschung oder der bewussten Mitteilung eines unvollständigen Sachverhalts liegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. Mai 1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 156 f.; vom 26. April 2017 – 2 StR 247/16, BGHSt 62, 123 Rn. 53 ff. [obiter dictum]; siehe auch KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 56). Entscheidend ist danach, ob der Beschuldigte in einer vernehmungsähnlichen Situation gegen seinen Willen zu einer Selbstbelastung gedrängt wird. Dabei ist zu beachten, ob sich der Beschuldigte in Haft befindet, sich bereits auf sein Schweigerecht berufen hatte und mit welcher Intensität, insbesondere bei beharrlichem Drängen unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses, auf den Beschuldigten staatlich zurechenbar eingewirkt wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Mai 2010 – 5 StR 51/10, BGHSt 55, 138 Rn. 22 ff.; vom 31. März 2011 – 3 StR 400/10, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fair-trial 7 Rn. 12 ff.; vom 27. Januar 2009 – 4 StR 296/08, NStZ 2009, 343, 344; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 56). Überdies besteht ein Beweisverwertungsverbot bei einer heimlichen Überwachung von Ehegattengesprächen in einem eigens dafür zugewiesenen separaten Besuchsraum ohne die übliche erkennbare Überwachung in der Untersuchungshaft (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/98, BGHSt 53, 294 Rn. 37 ff.).

b) Gemessen an diesen Maßstäben ist das Vorgehen der Ermittlungsbeamten hinzunehmen und das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren nicht verletzt. Maßgeblich ist, dass mit der wahrheitswidrigen Angabe der Ermittlungsbeamten, alle anderen Gewahrsamszellen seien belegt, keine Aussage darüber verbunden war, die Angeklagten könnten sich ungestört und ohne jegliche Überwachung über den Tatvorwurf austauschen. Die Mitteilung diente vielmehr lediglich dazu, die Heimlichkeit der angeordneten Überwachungsmaßnahme zu verdecken. Somit ist anders als in dem zuletzt genannten Fall durch das Vorgehen der Polizeibeamten kein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand auf Seiten des Angeklagten und des Mitangeklagten dahin geschaffen worden, sie könnten sich unüberwacht unterhalten. Ein entsprechender Erklärungswert war mit der Erläuterung zur Belegung der Hafträume nicht verbunden.“

Zumindest unschön.