Archiv der Kategorie: Verfahrensrecht

U-Haft II: In der JVA Laptop für die Akteneinsicht, oder: „Kurze“ Fahrt zur Vorführung vor zuständigen Richter

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Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen betreffend das „U-Haft-Verfahren“.

Zunächst der Hinweis auf den LG Nürnberg, Beschl. v. 07.11.2023 – 13 Qs 56/23 – zur Frage der Form der Akteneinsicht in Akten mit besonders großem Aktenumfang, wenn der Beschuldigte inhaftiert ist. Dazu das LG (im Leitsatz):

Dem Beschuldigten ist in Strafverfahren mit besonders großem Aktenumfang zur effektiven Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht auch in Form von elektronischen Dokumenten, die auf einem Laptop eingesehen werden können, zu gewähren: Die Staatsanwaltschaft hat der JVA ggf. eine verschlüsselte CD-ROM mit der Akte im pdf-Format zu übersenden und die JVA dem Beschuldigten sodann einen Laptop mit der aufgespielten elektronischen Akte in einem besonderen Haftraum zur Verfügung stellen.

Und dann der AG Nürnberg, Beschl. v. 31.10.2023 – 58 Gs 12014/23 -, mit dem das AG einen Haftbefehl aufgehoben hat. Begründung:

„Der Haftbefehl war aus den folgenden Gründen aufzuheben:

1. Dem Vollzug des Haftbefehls steht der Spezialitätsschutz des § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.12.2012, Aktenzeichen: 1 StR 165/12) entfällt ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis gemäß Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Euro-päischen Auslieferungsübereinkommens jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Rechtsfolgen hingewiesen wurde oder diese Rechtsfolgen aus anderen Gründen kannte. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Braunschweig (Beschluss vom 26.08.2019, Aktenzeichen: 1 Ws 154/19) entspricht die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG derjenigen des Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens.

Der vorliegenden Akte kann nicht entnommen werden, dass der Beschuldigte auf die Rechtsfolgen des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG hingewiesen wurde oder die Rechtsfolgen ander-weitig kannte.

2. Die Vorführung vor den nächsten Richter des Amtsgerichts Fulda verstieß gegen § 115 StPO. Der Beschuldigte wurde am 17.10.2023 um 19:20 Uhr aufgrund des vorliegenden Haftbefehls ergriffen. Eine Pkw-Fahrt von Fulda nach Nürnberg dauert laut Google-Maps etwa drei Stunden, sodass eine Vorführung vor den zuständigen Richter des Amtsgerichts Nürnberg am 18.10.2023 möglich gewesen wäre.2

Interessant m.E. vor allem wegen der Ausführungen des AG unter 2.

U-Haft I: Fluchtgefahr bei Schwerkriminalität, oder: Wenn der Beschuldigte schwer krank ist

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Heute dann zunächst allen einen schönen Nikolaustag mit hoffentlich prall gefüllten Stiefeln. Ich habe den „Stiefel“ hier heute mit Entscheidungen zur U-Haft gefüllt. Ich habe einiges zusammengefasst, das sich während des Urlaubs doch einiges angesammelt hat und ich daher in meinem Ordner ein wenig Platz schaffen muss.

Ich beginne mit dem OLG Dresden, Beschl. v. 01.11.2023 – 1 Ws 226/23 – zur Fluchtgefahr bei Delikten der Schwerkriminalität. Das OLG hat in einem Verfahren mit einem Totschlagsvorwurf das (weitere) Vorliegen eines Haftgrundes verneint.

„Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nicht.

Zwar hat der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung angesichts der Schwere der ihm zur Last gelegten Tat mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Es ist jedoch vorliegend ausgeschlossen, dass der von dieser Straferwartung ausgehende Fluchtanreiz die konkrete Gefahr begründet, dass der Beschuldigte – auf freiem Fuß belassen – sich dem Verfahren entziehen wird, selbst wenn Fluchtgefahr nicht verlangt, dass dies auf Dauer geschieht, sondern ein gegebenenfalls vorübergehendes Sichentziehen, was den Fortgang des Strafverfahrens verhindert, genügt. Der Beschuldigte ist pp. Jahre alt und verfügt über enge soziale Bindungen zu pp. Er leidet unter einer schweren Erkrankung, die palliativ zu behandeln ist.

Bereits vor seiner Festnahme am 01. September 2023 wies er einen deutlich beeinträchtigten Gesundheitszustand auf, wie sich sowohl den detaillierten Angaben pp. in ihrer Vernehmung vom pp. als auch der Dokumentation der Hausärztin pp. entnehmen lässt, wonach ab dem 10. August 2023 beim Beschuldigten unter anderem ein deutlicher Gewichtsverlust sowie Kraftlosigkeit bzw. Schwäche dokumentiert sind. Soweit die Kammer in der angefochtenen Entscheidung unter Bezugnahme auf die Aussagen der Zeugin pp. – Pflegerin der Geschädigten – sowie der Zeugin pp. – Hausärztin der Geschädigten und des Beschuldigten – zugrunde gelegt hat, der Beschuldigte habe den Haushalt geführt und die Ehefrau des Beschuldigten in die Praxis begleitet, so beziehen sich diese Angaben ersichtlich auf den Zeitraum vor der Diagnosesteilung beim Beschuldigten, die im Juli 2023 erfolgt ist. Nach seiner Inhaftierung hat sich der bereits deutlich beeinträchtigte Gesundheitszustand nochmals erheblich verschlechtert, wie insbesondere der Stellungnahme der JVA vom 26. Oktober 2023, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, entnehmen lässt. Angesichts der dort beschriebenen körperlichen und geistigen Verfassung des Beschuldigten, der bereits stark von seiner schweren Erkrankung gezeichnet ist, sieht es der Senat vorliegend als ausgeschlossen an, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen wird,

Es besteht dementsprechend auch der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) nicht.

§ 112 Abs. 3 StPO lässt nach dem Wortlaut bei den darin aufgeführten Straftaten der Schwer-kriminalität die Anordnung der Untersuchungshaft auch dann zu, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs, 2 StPO nicht besteht. Bei der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts (BVerfGE 19, 342, 350 ff; BVerfG NJW 1966, 772) gebotenen verfassungskonformen Auslegung ist die Vorschrift wegen eines sonst darin enthaltenen offensichtlichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haft-befehls nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne die Verhaftung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte, Genügen kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, ferner die ernstliche Befürchtung, der Täter werde weitere Taten ähnlicher Art begehen, Ausreichend aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass eine verhältnismäßig geringe oder entfernte Gefahr in dieser Art besteht, Wenn allerdings nach den Umständen des Einzelfalls gewichtige Gründe gegen jede Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem Haftbefehl nach § 112 Abs. 3 StPO abzusehen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 20. April 2022, Az.; StB 15/22 – juris; BGH, Beschluss vorn 23. Dezember 2009, Az,; StB 51/09 – juris).

Unter Berücksichtigung dessen und der unter 1. genannten Umstände, aufgrund derer der Senat im Ergebnis seiner Prüfung eine bestehende Fluchtgefahr beim Beschuldigten ausschließt, scheidet daher auch der Haftgrund der Schwerkriminalität aus.“

Unterbringung III: Neuregelung des § 64 StGB, oder: Neufälle/Altfälle – OLG Celle zum anwendbaren Recht

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Und als dritte Entscheidung zur Probelmati: Altes/Neues Recht bei der Unterbringung?, dann hier noch der OLG Celle, Beschl. v. 20.11.2023 – 2 Ws 317/23.

Der Verurteilte ist durch Urteil des LG Braunschweig vom 09.01.2023 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen und unter Einbeziehung weiterer Strafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach Verbüßung von Untersuchungs- und Organisationshaft wurde der Verurteilte am 04.04.2023 im Maßregelvollzug in der Psychiatrischen Klinik L. aufgenommen.

Mit Beschluss vom 10.10.2023 hat die Strafvollstreckungskammer des LG Lüneburg die Unterbringung in der Entziehungsanstalt für erledigt erklärt, die Reststrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, den Eintritt der Führungsaufsicht festgestellt und diese näher ausgestaltet. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, der Überprüfung sei die seit dem 01.10.2023 geltende neue Rechtslage zugrundezulegen. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, den Beschwerdeführer durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen, seien angesichts der fehlenden Erreichbarkeit und der ablehnenden Haltung des Beschwerdeführers zu der ihm angebotenen Behandlung nicht gegeben.

Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde. die keinen Erfolg hatte. Das OLG führt zum anwendbaren Recht aus:

„Der Erörterung bedarf lediglich die Frage, welche Fassung des § 64 StGB der gem. § 67e Abs. 2 StGB durch das Landgericht zu treffenden Entscheidung zugrunde zu legen war.

Gem. § 67d Abs. 5 StGB hat das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für erledigt zu erklären, wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 StGB nicht mehr vorliegen.

Diese Vorschrift des § 64 StGB wurde durch das am 1. Oktober 2023 in Kraft getretene Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26.07.2023 (BGBl. I Nr. 203) neu gefasst. Während nach § 64 a. F. StGB eine Fortdauer der angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt „eine hinreichend konkrete Aussicht“ voraussetzte, den Verurteilten durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen, bedarf es nunmehr „tatsächlicher Anhaltspunkte“, aufgrund derer diese Erwartung gerechtfertigt ist.

Da die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers gem. § 64 StGB bereits vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig wurde, stellt sich die Frage, ob sich die Frage der Fortdauer der Vollstreckung nach altem oder neuem Recht richtet.

Der Senat erachtet unter Berücksichtigung des Wortlautes der einschlägigen Vorschriften (vgl. im Folgenden die Ausführungen unter 1.), des gesetzgeberischen Willens und aufgrund systematischer Erwägungen (im Folgenden 2.) sowie nach Sinn und Zweck der Gesetzesänderung (3.) die Anwendung des § 64 StGB in der derzeit gültigen Fassung für angezeigt. Diesem Verständnis stehen auch weder das Rückwirkungsverbot (4.) noch unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung gem. § 67e StGB entgegen (5.).

Im Einzelnen:

1. Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 wurde auch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch geändert und ein neuer Artikel 316o eingefügt. In Abs. 2 dieser Vorschrift wird für die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen nach § 63 oder § 64 des Strafgesetzbuches § 67 StGB in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung für anwendbar erklärt.

Nach dem eindeutigen Wortlaut von Artikel 316o Abs. 2 EGStGB haben mithin – von Fragen der Reihenfolge der Vollstreckung gem. § 67 StGB abgesehen – die aktuell gültigen Vorschriften für die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen nach § 63 oder § 64 Anwendung zu finden.

2. Diese Auslegung entspricht auch dem aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen gesetzgeberischen Willen.

Dem Gesetzgeber war – wie aus der in Artikel 316o Abs. 2 EGStGB getroffenen Regelung deutlich wird – bewusst, dass sich infolge der Neufassung des § 64 StGB die Frage stellt, ob die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringungen nach altem oder neuem Recht erfolgt und dass es einer expliziten Regelung bedarf, wenn das bisherige Recht im Rahmen der Vollstreckung Anwendung finden soll. Denn in den Gesetzgebungsmaterialien ist festgehalten, dass die in Artikel 316o Abs. 2 EGStGB neu eingeführte Regelung der Anwendbarkeit von § 67 StGB a.F. eine Abweichung von dem in § 2 Absatz 6 StGB enthaltenen Grundsatz, wonach bei Maßregeln der Besserung und Sicherung das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht anwendbar ist, darstellt (BT-Drucksache 20/5913, S. 77).

Während § 67 StGB in der bis zum 1. Oktober 2023 geltenden Fassung für den Fall der Vollstreckung der Maßregel vor der Strafe die Möglichkeit einer Aussetzung der Maßregel nach Verbüßung der Hälfte der Strafe unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 zur Bewährung vorsah, ist nach der Neufassung dieser Vorschrift eine derart frühzeitige Entlassung zur Bewährung nur noch möglich, wenn die (deutlich strengeren) Voraussetzungen des § 57 Absatz 2 StGB entsprechend erfüllt sind.

Der Umstand, dass durch Art. 316o Abs. 2 EGStGB eine explizite Regelung der Fortgeltung alten Rechts allein für § 67 StGB und insbesondere für die dort geregelte Frage der frühst möglichen Aussetzung der Maßregel zur Bewährung getroffen wurde, lässt im Umkehrschluss den gesetzgeberischen Willen, dass sich die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringungen nach neuem Recht richten muss, eindeutig erkennen.

Denn über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich – wie hier – nichts anderes bestimmt ist, gem. § 2 Abs. 6 StGB nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Nach dieser Vorschrift sind die Voraussetzungen der seit 1. Oktober 2023 geltenden Neufassung des § 64 StGB auch im Erkenntnisverfahren auf „Altfälle“ anzuwenden (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – 5 StR 246/23 –, juris; BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2023 – 6 StR 405/23 –, juris).

3. Dieses Verständnis entspricht auch dem Sinn und Zweck, der mit der Gesetzesänderung angestrebt wurde. Denn die Neufassung des § 64 StGB erfolgte insbesondere mit dem Ziel, die Maßregel wieder stärker auf die tatsächlich behandlungsbedürftigen Straftäter zu konzentrieren und so zur Entlastung der Entziehungsanstalten beizutragen (BT-Drucksache 20/5913, S. 77). Gerade die nach der alten Fassung des § 67 StGB vorgesehene, lediglich vom Vorliegen der Voraussetzungen gem. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 abhängige Möglichkeit der Halbstrafenentlassung stellte zur Überzeugung des Gesetzgebers einen sachwidrigen Anreiz für eigentlich therapieunwillige Angeklagte mit hohen Begleitstrafen dar und führte zu einer Überbelegung der Maßregelvollzugskliniken mit „falschem Klientel“ (BT-Drucksache 20/5913, S. 77). Dem Ziel, die Überbelegung zu reduzieren, dient auch die Neufassung des § 64 StGB im Hinblick auf das Erfordernis der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ (BT-Drucksache 20/5913, S. 48).

4. Ungeachtet des Umstandes, dass die h.M. in Rechtsprechung und Literatur von der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 6 StGB ausgeht und ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG bei Maßregeln der Besserung und Sicherung von vornherein verneint (Dannecker/Schuhr in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 2 Zeitliche Geltung, Rn. 170 m.w.N.), steht auch das Rückwirkungsverbot einer Anwendung des neuen Rechts auf „Altfälle“ nicht entgegen.

Denn während die vom Gesetzgeber gem. Artikel 316o Abs. 2 EGStGB vorgenommene Durchbrechung des Grundsatzes aus § 2 Abs. 6 StGB erforderlich war, um denjenigen, der durch eine vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringung nach § 64 im Maßregelvollzug untergebracht ist, vor einem mit der Änderung des § 67 StGB einhergehenden Nachteil – namentlich der höheren Anforderungen unterliegenden Möglichkeit einer Halbstrafentlassung – zu bewahren, ist dies hinsichtlich der übrigen Neuregelungen durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 nicht zwingend der Fall. Denn die Dauer der Unterbringung im Maßregelvollzug gem. § 64 StGB kann bei zugleich verhängter niedriger Begleitstrafe die Dauer der Inhaftierung im Strafvollzug deutlich übersteigen, so dass mit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Maßregelvollzug gem. § 67d Abs. 5 i.V.m. § 64 S. 2 StGB in zahlreichen Fällen ein kürzerer Freiheitsentzug einhergehen kann.

5. Schließlich stehen der dargelegten Anwendbarkeit des § 64 StGB in der aktuellen Fassung auf die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt auch keine hiermit einhergehenden gravierenden Schwierigkeiten in der vollstreckungsrechtlichen Prüfung entgegen.

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer gem. § 67e Abs. 1 StGB von Amts wegen nicht nur ein Prüfungsrecht; vielmehr ist sie von Amts wegen verpflichtet, allen Anhaltspunkten nachzugehen, die darauf hinweisen, dass die Erledigung einer Maßregel angezeigt ist, was grundsätzlich auch der Fall sein kann, wenn sich der Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit der weiteren Unterbringung vor Ablauf der Prüfungsfristen des § 67e StGB ändert (OLG Hamm, Beschluss vom 28. März 2019 – III-3 Ws 99/19 –, juris; Peglau in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage 2022, § 67e, Rn. 12, Fischer, StGB 70. Auflage 2023, § 67e, Rn. 2). Dies führt jedoch nicht zu einer Verpflichtung, nunmehr von Amts wegen die Fortdauer jeder vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringung gem. § 64 StGB zu prüfen. Denn Anhaltspunkte für eine Erledigung der Maßregel ergeben sich aus einer Gesetzesänderung erst dann, wenn Untergebrachter, Vollstreckungsbehörde oder Maßregelvollzugseinrichtung aufgrund der Gesetzesänderung zu der Einschätzung gelangen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nicht mehr vorliegen, und dies der Strafvollstreckungskammer zur Kenntnis bringen. „

Unterbringung II: Erstes zur Neuregelung des § 64 StGB, oder: Neufälle/Altfälle – anwendbares Recht

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Und im zweiten Posting geht es dann auch noch einmal um das anwendbare Recht in sog. Altfällen.

Dazu bin ich u.a. auf den BGH, Beschl. v. 25.10.2023 – 5 StR 246/23 – und den BGH, Beschl. v. 04.10.2023 – 6 StR 405/23 – gestoßen. In beiden Fällen hat der BGH im Erkenntnisverfahren die Anwendung des neuen Rechts auf „Altfälle“ „gefordert.

In dem dem Beschluss vom 25.10.2023 zugrunde liegenden Verfahren hatte das LG den Angeklagten wegen 21 Fällen des schweren Bandendiebstahls, wobei es dreimal beim Versuch blieb, und zwei weiteren Fällen des Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, eine Einziehungsentscheidung getroffen, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass zwei Jahre der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen sind. Die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat zur Aufhebung der Unterbringungsentscheidung geführt:

„Die Ausführungen des Landgerichts belegen nicht, dass die Voraussetzungen der seit 1. Oktober 2023 geltenden und nach § 2 Abs. 6 StGB auch für Altfälle maßgeblichen Neufassung des § 64 StGB vorliegen, was der Senat nach § 354a StPO zu beachten hat. Beim Angeklagten liegt zwar ein langjähriges Abhängigkeitssyndrom hinsichtlich „Crystal“ (Metamphetamin) vor, das den von der Neufassung des § 64 Satz 1 StGB vorausgesetzten Begriff einer Substanzkonsumstörung erfüllt (vgl. näher BT-Drucks. 20/5913 S. 69). Die bisherigen Feststellungen belegen aber nicht, dass die Taten des Angeklagten im Sinne der Neuregelung „überwiegend“ hierauf zurückgehen.

Der Gesetzgeber hat hierzu ausgeführt (BT-Drucks. 20/5913 S. 69 f.): „Durch die Ergänzung des Wortes ‚überwiegend‘ soll nunmehr gesetzlich konkretisiert werden, unter welchen Voraussetzungen ein kausaler Zusammenhang zwischen ‚Hang‘ und ‚Anlasstat‘ angenommen werden kann. Nur für den Fall, dass die rechtswidrige Tat überwiegend auf den Hang der Person, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, zurückgeht, ist ein solcher künftig anzunehmen. ‚Überwiegend‘ ursächlich ist der ‚Hang‘ für die ‚Anlasstat‘, wenn dieser mehr als andere Umstände für die Begehung der Tat ausschlaggebend war … Die Mitursächlichkeit des Hangs für die Tat ist für die Annahme der Kausalität also nur noch dann ausreichend, wenn sie quantitativ andere Ursachen überwiegt. Eine Mitursächlichkeit des ‚Hangs‘ für die ‚Anlasstat‘ unterhalb dieser Schwelle reicht für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals nicht mehr aus. Das Vorliegen dieses Kausalzusammenhangs ist durch das Tatgericht – ggf. unter sachverständiger Beratung – positiv festzustellen.“

Das Landgericht hat bei seiner Prüfung – zum damaligen Zeitpunkt zutreffend – diesen strengeren Anordnungsmaßstab nicht vor Augen gehabt und deshalb seine Feststellungen nicht daran ausgerichtet. Die vom Landgericht getroffene Feststellung, der offenbar über keine nennenswerten anderweitigen Einkünfte im Tatzeitraum verfügende Angeklagte habe die Taten „(auch) zur Finanzierung seines … Betäubungsmittelkonsums begangen“, belegt – auch wenn sie nach dem damaligen Rechtszustand ausreichend war – ein solches Überwiegen nicht. Soweit das Landgericht darauf verwiesen hat, der Angeklagte habe das Metamphetamin gezielt vor Tatbegehung eingenommen, um Hemmungen zu beseitigen, bleibt unberücksichtigt, dass ein symptomatischer Zusammenhang fehlen kann, wenn sich der Täter ohne Rauschmitteleinfluss zur Tat entscheidet und erst anschließend gezielt durch Einnahme von Rauschmitteln enthemmt, um die Tat leichter begehen zu können (vgl. BGH, Urteil vom 11. September 1990 – 1 StR 293/90, NJW 1990, 3282; Beschluss vom 30. Juni 2016 – 3 StR 231/16; LK-StGB/Cirener, 13. Aufl., § 64 Rn. 39).

Weil das Landgericht den durch die Neufassung des § 64 StGB veränderten und für die Senatsentscheidung nach § 2 Abs. 6 StGB und § 354a StPO maßgeblichen Anordnungsmaßstab noch nicht berücksichtigen konnte, bedarf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erneuter Prüfung und Entscheidung. Der Senat hebt die zugehörigen Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen.“

Unterbringung I: Erstes zur Neuregelung des § 64 StGB, oder: Neufälle/Altfälle und Vorwegvollzug

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Und dann ab heute wieder aktuell. Mein Urlaub ist beendet, es gibt also keine vorbereiteten Beiträge mehr.

Und ich beginne heute mit Entscheidungen zur Unterbringung nach § 64 StGB. Da hat sich ja durch die Gesetzesreform im Sommer 2023 einiges geändert (vgl. dazu den Beitrag des RiOLG Hillebrandt aus StRR 7/2023: Die Neuregelung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

ich stelle dazu heute zunächst einen BGH-Entscheidung vor, und zwar den BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 1 StR 354/23 – zur Frage der Anwendung des neuen Rechts mit folgendem Sachverhalt und Gründen des BGH

„Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in zwei Fällen und wegen versuchter Freiheitsberaubung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt; von einem Tatvorwurf zu Lasten einer anderen Geschädigten hat es ihn freigesprochen. Außerdem hat das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet und unter Annahme einer prognostizierten Therapiedauer von einem Jahr und neun Monaten bestimmt, dass neun Monate der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vor der Vollstreckung der Maßregel zu vollziehen sind. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen und formellen Rechts beanstandet, ist aus den zutreffenden Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Allein die Dauer des Vorwegvollzugs, den das Landgericht für sich genommen nach § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB aF rechtsfehlerfrei berechnet hat, bedarf nach Änderung der §§ 64, 67 StGB mit Wirkung zum 1. Oktober 2023 der Neubestimmung durch das Revisionsgericht (§ 2 Abs. 6 StGB, §§ 354a, 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; § 354 Abs. 1 StPO analog).

1. Gemäß § 67 Abs. 5 Satz 1 erster Halbsatz StGB in der Fassung des am 1. Oktober 2023 in Kraft getretenen Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 (BGBl. I Nr. 203) ist der vor der Maßregel zu vollstreckende Teil der Strafe so zu bemessen, dass nach seiner Vollziehung und der anschließenden Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach Erledigung von zwei Dritteln der Strafe möglich ist. Der Senat ist aufgrund der rechtsfehlerfreien Feststellungen und tatgerichtlichen Wertung in der Lage und befugt, die Dauer des Vorwegvollzugs selbst zu berechnen (vgl. zur Anwendung des Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 durch das Revisionsgericht insoweit: BGH, Beschluss vom 15. November 2007 – 3 StR 390/07, BGHR StPO 354 Abs. 1 Maßregelausspruch 1 Rn. 3-7).

2. Allein die bei Inkrafttreten des neuen Maßregelrechts schon rechtskräftigen „Altfälle“ sollen vom neuen Vollstreckungsregime ausgenommen werden; insoweit soll sich die Berechnung des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB aF, also nach dem Halbstrafenzeitpunkt, bestimmen (vgl. BT-Drucks. 20/5913 S. 77 f. und Art. 316o Abs. 1 Satz 1 EGStGB).

3. Die Voraussetzungen der Art. 316o Abs. 1 Satz 2, Art. 313 Abs. 2 EGStGB sind nicht gegeben.

4. Gemäß § 2 Abs. 6 StGB und mangels eingreifender besonderer Übergangsregelung gilt vielmehr die Vollstreckungsvorschrift des § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB nF seit dem 1. Oktober 2023. Dass die den gleichen Zeitpunkt bestimmende Übergangsvorschrift des Art. 316o Abs. 1 Satz 1 EGStGB (neugefasst gemäß dem eingefügten Art. 5 Abs. 2 durch Art. 3 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts vom 18. August 2023 [BGBl. I Nr. 218]) ihrerseits wohl erst zum 1. Februar 2024 in Kraft treten soll, ist demnach unerheblich.“