Archiv der Kategorie: Verfahrensrecht

Einstellung des OWi-Verfahrens wegen Verjährung, oder: I.d.R. Auslagenerstattung durch die Staatskasse

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Ich beginne den Gebührentag heute mit einigen Entscheidungen zur Auslagenerstattung (des Bußgeldverfahrens) nach Einstellung des Verfahrens. Dazu stelle ich aber jeweils nur die Leitsätze der Entscheidungen vor, da ich zu der Problematik in der letzten Zeit ja einige Entscheidungen vorgestellt habe und die Argumentation letztlich immer gleich ist.

Hier kommen dann also:

Die Möglichkeit, nach § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO von einer Erstattung der notwendigen Auslagen abzusehen, besteht nur dann, wenn zusätzlich zu dem Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es als billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen. Das ist, wenn der Grund für den Eintritt des Verfahrenshindernisses der Verjährung darin liegt , dass eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheids beim früheren Betroffenen wegen fehlender Datumsangabe der Zustellung auf dem Briefumschlag nicht erfolgt ist, nicht der Fall.

Liegt der Eintritt des für die Verfahrensbeendigung maßgeblichen Verfahrenshindernisses nicht in der Sphäre des Betroffenen, ist es nicht grob unbillig, im Fall der Einstellung des Bußgeldverfahrens die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen. Das ist der Fall, wenn der Eintritt der Verfolgungsverjährung allein auf die unwirksame Zustellung des Bußgeldbescheides, die auf dem fehlenden Datum auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks beruhte, zurückzuführen ist.

Da es bereits den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO entspricht, dass der Verurteilung lediglich ein Verfahrenshindernis entgegensteht, müssen, wenn bei einer Einstellung von einer Auslagenerstattung durch die Staatskasse abgesehen werden soll, weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen. Das ist nicht der Fall, wenn der Eintritt des Verfahrenshindernisses, wie z.B. der Eintritt der Verjährung, allein von staatlicher Seite zu verantworten ist.

Revision III: Rügen in Zusammenhang mit Sky-ECC-Chat, oder: Verspätete Absetzung des Urteils

Und dann habe ich in diesem Posting noch einmal etwas zur Begründung der Revision, und zwar ausreichende Begründung von Verfahrensrügen (des Verteidigers.

Dazu weise ich zunächst hin auf den BGH, Beschl. v. 09.10.2024 – 2 StR 182/24 – , in dem es u.a. auch um die ausreichende Begründung von Verfahrensrügen in Zusammenhang mit Sky-ECC-Chats geht. Dazu der BGH:

„Mit ihren Verfahrensbeanstandungen kann die Revision nicht durchdringen.

1. Die Rüge, die frühzeitige Vernehmung des Ermittlungsführers der Polizei verstoße „gegen §§ 250, 261 StPO sowie den Grundsatz Fair Trial“, ist unbegründet. Die Reihenfolge der Vernehmung von Zeugen steht im pflichtgemäßen richterlichen Ermessen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 58 Rn. 4; KK-StPO/Bader, 9. Aufl., § 58 Rn. 3, jeweils mwN). Dieses ist hier offensichtlich nicht verletzt.

2. Soweit die Revision eine „Aufklärungsrüge hinsichtlich Verwertbarkeit der Chat[s] aus SKY ECC“ erhebt, kann dahinstehen, ob die nur auszugsweise Wiedergabe eines Ablehnungsbeschlusses oder das Fehlen eines in diesem Ablehnungsbeschluss in Bezug genommenen Anwaltsschriftsatzes zur Unzulässigkeit der Rüge führt. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Aus den Gründen des Beschlusses der Strafkammer vom 5. Juni 2023, mit dem sie den Antrag auf „Vervollständigung der Chats“ und auf Beiziehung der „originalen“ Rohdaten zur Akte abgelehnt hat, musste sich die Strafkammer nicht zu weiteren Ermittlungen dazu gedrängt sehen, ob die französischen Behörden verfahrensrelevante Daten zurückhalten und diese auf erneute Aufforderung zu erlangen gewesen wären. Anhaltspunkte dafür, dass einzelne für das Verfahren relevante Chats aus den „Originaldaten“ zurückgehalten oder inhaltlich verändert worden waren, sind auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens nicht ersichtlich. Eine sachgerechte Verteidigung war dem Angeklagten möglich.

3. Zu der „Aufklärungsrüge hinsichtlich Übersetzungen der verschiedenen Chats“ und der „Rüge der fehlerhaften Bescheidung des Beweisantrags hinsichtlich Eurojust und Kenntnis der deutschen Vertreter bzgl. franz. Verfahren SKYECC“, befindet sich zwar eine ausreichend lesbare Revisionsbegründung in der Hauptakte, so dass § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt ist.

Ohne Rechtsfehler hat die Strafkammer aber den Antrag auf Neuübersetzung der SkyECC-Chats zurückgewiesen. Wie das Landgericht die Überzeugung vom Übereinstimmen der Übersetzung mit den fremdsprachigen Chatnachrichten gewann, blieb ihm nach Maßgabe der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) überlassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. November 2018 – 3 StR 339/18; vom 13. Februar 2019 – 2 StR 485/18, Rn. 10). Die von der Revision angeführten „exemplarischen Übersetzungsfehler“ boten keinen Anlass für die Beiziehung weiterer Übersetzer, zumal die Strafkammer den Einwänden der Verteidigung auch durch Einvernahme der beteiligten Dolmetscher nachgegangen war.

Die Bewertung des Antrags auf Einvernahme deutscher Vertreter bei Europol und Eurojust als Beweisermittlungsantrag ist ebenso rechtsfehlerfrei wie die Annahme des Landgerichts, dass auch die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) vor dem Hintergrund der bereits erhobenen Beweise deren Einvernahme nicht gebiete.

4. Auch soweit die Revision eine fehlerhafte Bescheidung eines Beweisantrags „hinsichtlich der Kenntnis des deutschen Vertreters“ bei Eurojust rügt, befindet sich eine ausreichend lesbare Revisionsbegründung in der Hauptakte. Die Rüge ist gleichwohl unzulässig, weil die Revision versäumt, mit der Rüge den vom beanstandeten Ablehnungsbeschluss in Bezug genommenen weiteren Beschluss der Strafkammer vorzulegen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Rüge wäre auch unbegründet, da die Strafkammer zu Recht von einem Beweisermittlungsantrag ausgegangen ist, dem nachzugehen die Aufklärungspflicht nicht drängte.

5. Die Rüge eines Verstoßes gegen § 261 StPO wegen der Verwertung von SkyECC-Chats ist unzulässig. Die Revision versäumt es, die zur Begründung des – in einem Verwertungswiderspruch geltend gemachten – Verwertungsverbots in Bezug genommenen Dokumente (ein Haftbefehl, der aufgehoben worden sein soll, die Europäischen Ermittlungsanordnungen, ein französischer Beschluss „vom 16.12.2020″) vorzulegen. Damit sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen nicht so vollständig und so genau dargelegt, dass dem Senat allein auf Grund dieser Darlegung die Prüfung möglich wäre, ob der Verfahrensmangel festzustellen ist, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden.“

Und als zweite Entscheidung dann noch der auch nicht mehr ganz „taufrische“ OLG Celle, Beschl. v. 25.11.2024 – 2 ORs 127/24 – zur ausreichenden Begründung der Revision, mit der eine Verletzung des § 338 Nr. 7 geltend gemacht wird, also verspätete Absetzung des Urteils. Dazu das OLG:

1. Die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 7 i.V.m. § 275 Abs. 1 S. 2 StPO ist in der Regel zulässig erhoben, wenn der Beschwerdeführer das Datum der Urteilsverkündung, die Zahl der Haupt-verhandlungstage, den Fristablauf und den Eingang der schriftlichen Urteilsurkunde bei der Geschäftsstelle mitteilt.

2. Solange die Akten noch in Papierform geführt werden, geschieht die von § 275 Abs. 1 S. 5 StPO verlangte Dokumentation des Eingangs der vollständigen Urteilsgründe üblicherweise durch den Vermerk der Geschäftsstelle auf der Urteilsurschrift; angesichts dessen bedarf es für eine den Anforderungen gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügende Verfahrensrüge der Verlet-zung der Urteilsabsetzungsfrist über die Benennung des Eingangsvermerks der Geschäftsstelle hinaus nur dann der Mitteilung eines aktenkundigen richterlichen Vermerks, wenn dieser sich zu dem Umstand verhält, dass das unterschriebene Urteil „auf den Weg zur Geschäftsstelle“ verbracht wurde und insoweit einen vom Eingangsvermerk abweichenden, früheren Zeitpunkt benennt.

Revision II: Rüge eines Beweisverwertungsverbotes, oder: Wenn die allgemeine Sachrüge nicht reicht

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Im zweiten Posting stelle ich dann zwei Entscheidungen vor, die Revisionen der StA zum Gegenstand haben und von den Revisionsgerichten – BGH bzw. BayObLG – als unzulässig verworfen worden sind. Gibt es also auch 🙂 .

Es handelt sich zunächst um den BGH, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 StR 107/24. Da heißt es beim BGH:

„1. Die Verfahrensrügen dringen nicht durch, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechen und daher unzulässig sind.

a) Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau darzulegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Für den Revisionsvortrag wesentliche Schriftstücke oder Aktenstellen sind im Einzelnen zu bezeichnen und – in der Regel durch wörtliche Zitate beziehungsweise eingefügte Abschriften oder Ablichtungen – zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22 Rn. 5 mwN).

b) Die Staatsanwaltschaft wird dem für keine der erhobenen Verfahrensbeanstandungen gerecht.

aa) Soweit sie eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) mit der Begründung rügt, das Landgericht habe die für die Prüfung des Beweisverwertungsverbots erforderlichen Prozesstatsachen nur unzureichend aufgeklärt, legt sie bereits nicht dar, weshalb sich dem Landgericht das Rechtshilfeersuchen an die US-amerikanischen Behörden zur Erlangung weiterer Informationen zur Identität des Drittlandes mit Blick auf die Beweisaufnahme aufdrängen musste. Nach den durch die Strafkammer in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunden sieht sich das Federal Bureau of Investigation (FBI) weder jetzt noch in der Zukunft in der Lage, die Identität des Drittlandes freizugeben (vgl. Schreiben des US-Justizministeriums vom 22. Dezember 2021). Aus dem Schreiben des US-Justizministeriums vom 3. Juni 2021 ergibt sich zudem, „dass das FBI keine Zusicherung hinsichtlich zusätzlicher Unterstützung (…) macht, die das FBI oder der ursprüngliche Eigentümer der Informationen, wenn dies nicht das FBI ist, bereit sein könnte, zu leisten, um die Verwendung der Information in solchen Gerichtsverfahren zu erleichtern“. Anhaltspunkte, die aus der Sicht der Strafkammer eine hiervon abweichende Auskunft des US-Justizministeriums hinsichtlich der Identität des Drittlandes bzw. einer etwaigen deutschen Beteiligung erwarten ließen, lässt die Revisionsbegründung nicht erkennen. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus der Beantwortung der in dem Verfahren pp.  der Generalstaatsanwaltschaft F.                            gestellten Rechtshilfeersuchen. Denn diese betrafen nach dem Revisionsvortrag die Zurverfügungstellung der vom FBI erhobenen Beweismittel sowie Ausführungen zu der Rechtmäßigkeit der Maßnahme aus amerikanischer Sicht und gerade nicht Informationen zu dem Drittland, das um Vertraulichkeit gebeten hatte.

bb) Die Beanstandung der Verletzung des § 261 StPO in Form einer Ausschöpfungsrüge mit der Begründung, das Landgericht habe zu Unrecht angenommen, die Erkenntnisse aus dem sichergestellten Chatverkehr des Angeklagten über den Krypto-Messengerdienst Anom seien nicht verwertbar, ist bereits deshalb unzulässig, weil die Revision keinen vollständigen Vortrag dazu enthält, ob die Chat-Nachrichten zum Inbegriff der Hauptverhandlung gemacht worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2023 – 1 StR 316/23 unter 1.; vgl. auch Sander in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 261 Rn. 266). Die Beschwerdeführerin trägt lediglich vor, dass das Selbstleseverfahren durchgeführt und die „ANOM-Chats (…) als Urkunden im Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO eingeführt wurden“, ohne die Protokollierung des Abschlusses der Selbstlesung (§ 249 Abs. 2 Satz 3 StPO) mitzuteilen. Dieser Vortrag wäre aber zur Prüfung einer Verletzung des § 261 StPO durch Nichtausschöpfung zu berücksichtigender Beweismittel erforderlich gewesen; denn dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung (§ 249 Abs. 2 Satz 3 StPO) verwehrt, die Urkunde zur Urteilsfindung heranzuziehen (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2012 – 5 StR 412/12, BGHSt 58, 61 Rn. 9). Erst durch die Feststellung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO wird beweiskräftig vollzogen, dass der außerhalb der Hauptverhandlung erhobene Urkundsbeweis dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2010 – 3 StR 76/10 Rn. 10).“

Und als zweite Entscheidung dann das BayObLG, Urt. v. 03.02.2025 – 203 StRR 573/24, mit folgendem Leitsatz:

Die Begründung der Revision allein mit der allgemeinen Sachrüge ist nicht ausreichend, wenn sich die Revision gegen ein Urteil mit mehreren selbständigen Tatvorwürfen richtet, da dann der Umfang des Revisionsan­griffs unklar bleibt.

 

 

 

 

Revision I: Unkenntnis des Gerichts von der Revision, oder: Nachträgliche Ergänzung der Urteislsgründe?

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Heute ist dann mal wieder ein Revisionstag, also Entscheidungen aus dem Revisionsverfahren.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem BGH, Beschl. v. 25.02.2025 – 5 StR 719/24. Es geht in der Entscheidung um die Frage der Zulässigkeit der Ergänzung der Urteilsgründe im Revisionsverfahren. Wenn man es liest, stutzt man, aber: Es kann gehen/zulässig sein.

Das LG hat den Angeklagten wegen Brandstiftung in mehreren Fällen verurteilt. Dagegen die Revision, mit der der Angeklagte einen Verstoß gegen § 338 Nr. 7 StPO geltend gemacht hatte. Die Revision hatte keinen Erfolg:

„1. Entgegen der Auffassung der Revision war das Landgericht berechtigt, das zunächst abgekürzt abgefasste Urteil nach Kenntnis vom Eingang der Revisionseinlegung in entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO zu ergänzen, so dass die Rüge nach § 338 Nr. 7 StPO unbegründet ist (vgl. zur unterschiedlichen revisionsrechtlichen Behandlung des gerügten Mangels BGH, Beschluss vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340 mwN).

a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde: Nachdem das Urteil am 12. Juni 2024, dem vierten Hauptverhandlungstag, in Anwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers gesprochen worden war, legte der Angeklagte über seinen Verteidiger am 13. Juni 2024 form- und fristgerecht Revision ein. Der Schriftsatz wurde wirksam elektronisch an das Landgericht übermittelt, aber vom Geschäftsstellenbeamten aufgrund einer „technischen Fehlbedienung“ nicht abgerufen und vorgelegt, so dass die für die Urteilsabfassung zuständigen Richter keine Kenntnis davon hatten. Sie fassten deshalb ein abgekürztes Urteil ab. Dieses ging – mit einem Rechtskraftvermerk versehen – dem Verteidiger am 26. August 2024 mit einfacher Post zu. Der Verteidiger rief am gleichen Tag den Vorsitzenden der Strafkammer an und zeigte sich über den Rechtskraftvermerk verwundert. Auf Aufforderung des Vorsitzenden ermittelte der zuständige Geschäftsstellenbeamte, dass die Revisionseinlegung unbearbeitet im elektronischen Postfach lag. Am folgenden Tag forderte der Vorsitzende die Akten an, die unmittelbar anschließend bei ihm eingingen. Die Strafkammer fasste daraufhin ein ergänztes vollständiges Urteil ab und gab dieses am 7. Oktober 2024 auf die Geschäftsstelle. Es wurde dem Verteidiger anschließend zugestellt.

b) Das Gericht war zur Ergänzung der Urteilsgründe in entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO berechtigt.

aa) Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass die Möglichkeit zu späterer Urteilsergänzung in entsprechender Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO besteht, wenn das Gericht unverschuldet keine Kenntnis von der Revisionseinlegung hatte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340 mit zust. Anm. Peglau jurisPR-StrafR 15/2024 Anm. 3; vom 29. April 2024 – 6 StR 18/23; vom 4. Oktober 2017 – 3 StR 397/17; vom 20. Dezember 2011 – 2 StR 405/11, NStZ-RR 2012, 118; vom 12. Juni 2008 – 5 StR 114/08, BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 2; vom 8. August 2001 – 5 StR 211/01, Becker, NStZ-RR 2002, 257, 261; vgl. auch BGH, Beschluss vom 9. Februar 1990 – 2 StR 638/89, bei Holtz MDR 1990, 490; KG, Beschluss vom 15. September 2022 – 121 Ss 118/22, StraFo 2022, 471; BayObLG, Beschluss vom 23. Juli 2020 – 201 ObOWi 881/20).

Der Gesetzgeber hat die Folgen eines solchen Geschehens nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt, so dass eine Lücke vorliegt. Diese ist auch planwidrig, weil sie keiner bewussten Entscheidung des Gesetzgebers entspricht. Dass er im Zuge der Gesetzesänderungen zur elektronischen Aktenführung und zum elektronischen Rechtsverkehr insoweit – anders als für andere Konstellationen (vgl. etwa § 32a Abs. 6, § 32d Satz 3, 4 StPO; dazu BT-Drucks. 18/9416, S. 47 f., 51) – keine Sonderregelung getroffen hat, lässt sich sowohl nach der Gesetzessystematik als auch nach den Gesetzesmaterialien nicht als bewusste, eine planwidrige Regelungslücke ausschließende Entscheidung verstehen (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340). Konnte das Gericht von der Revisionseinlegung keine Kenntnis haben und daher die Voraussetzungen für ein abgekürztes Urteil als gegeben erachten, liegt eine vergleichbare Sachlage vor, wie sie der Gesetzgeber mit § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO geregelt hat. In solchen Fällen besteht die Möglichkeit der Ergänzung, um zu verhindern, dass ein Urteil nur deshalb aufgehoben wird, „weil die zur Nachprüfung durch das Revisionsgericht erforderlichen Feststellungen fehlen, deren Angabe das Gericht bei der Urteilsabsetzung für entbehrlich halten durfte“ (vgl. BT-Drucks. 7/551, S. 82; BGH aaO). Die der Prozessökonomie dienende Möglichkeit der Urteilsabkürzung nach § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO wäre zudem faktisch erheblich eingeschränkt, wenn die Gerichte erwarten müssten, abgekürzte Urteilsgründe im Falle eines ihnen nicht bekannten Rechtsmittels nicht mehr ergänzen zu können, und daher vorsorglich davon keinen Gebrauch machen (vgl. BGH aaO).

Allerdings ist eine entsprechende Anwendung wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift auf eng umgrenzte Sachverhalte zu beschränken, in denen das für die Urteilsabfassung zuständige Gericht von der Rechtsmitteleinlegung weder Kenntnis hatte noch nach den konkreten Umständen hätte haben müssen (BGH aaO; vgl. auch KG, Beschluss vom 15. September 2022 – 121 Ss 118/22, StraFo 2022, 471). Abzustellen ist dabei auf die Mitglieder des erkennenden Gerichts, die das Urteil abzufassen haben, denn an sie richtet sich § 267 StPO (vgl. auch Peglau jurisPR-StrafR 15/2024 Anm. 3).

bb) Die Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendung von § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO liegen nach diesen Maßstäben vor. Ein Verschulden der für die Urteilsabsetzung zuständigen Mitglieder der erkennenden Strafkammer an ihrer Unkenntnis von der Revisionseinlegung ist nicht ersichtlich. Ihnen war die Revisionseinlegung nicht vorgelegt worden und sie hatten – soweit ersichtlich – auch sonst keine Kenntnis von diesem Umstand. Zwar lag kein „technischer“ Fehler vor (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 15. Mai 2024 – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340), sondern – wie die Revision zutreffend vorträgt – eine Fehlbedienung. Allerdings waren die Kammermitglieder hierfür nicht verantwortlich. Der Fall gleicht damit denjenigen bereits vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen, in denen eine Revisionseinlegung zwar wirksam bei der Poststelle des Gerichts eingegangen war (vergleichbar dem Eingang im elektronischen Postfach), dies aber – ohne dass ein technischer Fehler vorlag – den für die Urteilsabsetzung zuständigen Mitgliedern der erkennenden Strafkammer aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen unbekannt blieb (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2024 – 6 StR 18/23: Revisionseinlegung der Staatsanwaltschaft geht zwar auf der Poststelle ein, gelangt aber nicht zu den Akten; vom 4. Oktober 2017 – 3 StR 397/17: Revision des Angeklagten geht rechtzeitig per Fax ein, gelangt nicht zu den Akten, sondern wird später in einem Lastenaufzug gefunden; vom 20. Dezember 2011 – 2 StR 405/11, NStZ-RR 2012, 118: die Revision wird rechtzeitig eingelegt, kann aber im Geschäftsgang verloren gegangen sein, zu den Akten gelangt sie nicht; ebenso Peglau jurisPR-StrafR 15/2024 Anm. 3).

c) Weil das in zulässiger Weise entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzte Urteil innerhalb der am 27. August 2024 mit Akteneingang neu beginnenden Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO vollständig auf die Geschäftsstelle gelangt ist, liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO nicht vor.“

SV III: Mündliche Anhörung des SV durch die StVK, oder: Bloßes Schweigen ist kein Verzicht

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Und zum Schluss der heutigen Berichterstattung habe ich hier dann noch den OLG Hamm, Beschl. v. 07.08-2025 – III-1 Ws 76/25  – zur Erforderlichkeit der mündlichen Anhörung des Sachverständigen im Verfahren betreffend die sog. Zwei-Drittel-Aussetzung.

Die Strafvollstreckungskammer hat den Verurteilten im Beisein seines Verteidigers zur Aussetzung der Reststrafe angehört. Ein sodann eingeholtes schriftliches Prognosegutachten im Sinne von § 454 Abs. 2 StPO übersandte sie an den Verurteilten und seinen Verteidiger, die auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichteten. Dann wurde das Vollstreckungsheft einschließlich des Prognosegutachtens an die Staatsanwaltschaft zur Antragstellung und mit der Bitte um Mitteilung innerhalb von zwei Wochen, ob auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet werde. Die Staatsanwaltschaft übersandte das Vollstreckungsheft unter Bezugnahme auf ihren, mit dem einer bedingten Aussetzung des Strafrestes nicht widersprochen worden war. Im Übrigen äußerte sie sich nicht zu einem Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen. Die StVK hat dann zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen dann später die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

„Die gemäß § 454 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig. Insbesondere hat die Staatsanwaltschaft nicht wirksam auf das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde verzichtet. Der Rechtsmittelverzicht wird mit Eingang bei Gericht wirksam. Maßgeblich ist insofern allein der zunächst in Form eines Vermerks niedergelegte Rechtsmittelverzicht der Staatsanwaltschaft vom 13.02.2025. Der so erklärte Verzicht ist mit dem Vollstreckungsheft zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt nach dem 20.02.2025 – und damit nach der sofortigen Beschwerde , die auch als Widerruf der Verzichtserklärung auszulegen ist – bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen. Damit ist der Widerruf des Rechtsmittelverzichts wirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 09.08.1995 – 1 StR 699/94; Cierner in: BeckOK StPO, 54. Edition Stand 01.01.2025, § 302 Rn. 22f m.w.N.).

In der Sache hat die sofortige Beschwerde (vorläufig) Erfolg. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.

Entgegen § 454 Abs. 2 S. 3 StPO hat es die Strafvollstreckungskammer unterlassen, den Sachverständigen mündlich anzuhören, obwohl sie dessen gutachterliche Stellungnahme in seinem Gutachten vom 23.12.2024 bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt – und folglich im Sinn des § 454 Abs. 2 S. 1 StPO verwandt – hat (vgl. Senat, Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; Beschluss vom 24.04.2012 – 1 Ws 145/12, juris m.w.N.).

Gemäß § 454 Abs. 2 S. 3 StPO ist der Sachverständige zwingend mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, einem etwa vorhandenen Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist. Auf diese Weise soll den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gegeben werden, das Gutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (OLG Hamm, Beschluss vom 24.07.2008, – 3 Ws 262/08). Die damit nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO erforderliche Anhörung hätte gemäß § 454 Abs. 2 S. 4 StPO nur unterbleiben dürfen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft darauf verzichtet hätten. Hier fehlt es an dem Verzicht der Staatsanwaltschaft. Auf eine entsprechende Anfrage der Strafvollstreckungskammer hat die Staatsanwaltschaft einen Verzicht nicht ausdrücklich erklärt. Ein konkludenter Verzicht der Staatsanwaltschaft liegt ebenfalls nicht vor. Das bloße Schweigen auf eine Zuschrift des Gerichts genügt für die Annahme eines Verzichts nicht, denn der Verzicht auf die mündliche Anhörung muss eindeutig erklärt werden (OLG Celle – Beschluss vom 29.04.2024 – 1 Ws 126/24; vgl auch KG Berlin, NStZ 1999, 319 [320]; NJW 1999, 1797 [1798]zum Verzicht des Verurteilten/Untergebrachten und seines Verteidigers: OLG Hamm, Beschluss vom 30.08.2018 – III – 3 Ws 363/18Senat, Beschluss vom Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; ; Appl, in: KK-StPO, § 454 Rn. 29a; vgl. auch Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 454 Rn. 63 f.). An einer ausdrücklichen Verzichtserklärung der Staatsanwaltschaft fehlt es hier. Ein solcher Verzicht ist insbesondere auch nicht darin zu sehen, dass die Staatsanwaltschaft das Vollstreckungsheft unter Hinweis darauf, einer Aussetzung der Strafe zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt nicht zu widersprechen, an die Strafvollstreckungskammer zurückgesandt hat. Dieser Erklärung ist ein (eindeutiger) Erklärungsgehalt im Sinne eines Verzichts auf die mündliche Anhörung nicht beizumessen. Vielmehr stellt sich die Erklärung als Nichtreaktion auf die gerichtliche Anfrage dar, die vielfältige Ursachen haben kann. Jedenfalls ist daraus nicht zwangsläufig zu erkennen, dass sich die Staatsanwaltschaft nach Kenntnisnahme vom schriftlichen Sachverständigengutachten und des sich aus den Akten ergebenden Sachstandes bewusst dafür entschieden hat, auf eine mündliche Anhörung des Sachverständigen zu verzichten (vgl. dazu: OLG Hamm, Beschluss vom 15.12.2016 – III – 4 Ws 380/16).

Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückweisung der Sache an die mit der Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe trotz mittlerweile erfolgter Verlegung in die JVA Werl nach § 462a Abs. 1 S. 1 StPO befasste Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund (BGH, NJW 1975, 1847). Eine Sachentscheidung durch den Senat gemäß § 309 Abs. 2 StPO ist nicht veranlasst, da der Senat die mangels Verzichtserklärung der Staatsanwaltschaft zwingend erforderliche Anhörung des Sachverständigen im Beschwerdeverfahren nicht nachholen kann (OLG Hamm, Beschluss vom 12.11.2007 – 3 Ws 647/07 = BeckRS 2007, 19259, Rn. 8; OLG Hamm, Beschluss vom 11.01.2012 – 2 StR 346/11 = NStZ 2012, 408; Senat, Beschluss vom Beschluss vom 26.05.2023 – III-1 Ws 95/23; KG Berlin, NStZ 1999, 319 [320]; NJW 1999, 1797 [1798]; vgl. auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Aufl. 2024, § 454 Rn. 46 und § 309 Rn. 8).“