Im zweiten Posting dann etwas Verfahrensrechtliches, und zwar der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.05.2024 – 1 ORbs 31 SsBs 12/24 – zur Verletzung der Öffentlichkeit. Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren, die Ausführungen des OLG haben aber auch Bedeutung in Strafverfahren.
Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, u.a. mit der Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Die hat Erfolg. Das OLG hat das AG-Urteil aufgehoben:
„Die Verfahrensrüge, mit welcher der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Öffentlichkeit gemäß §§ 169 Abs. 1 GVG, 338 Nr. 6 StPO i. V. m. §§ 71 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG rügt, ist zulässig erhoben und führt in vorliegender Konstellation auch in der Sache zum Erfolg.1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrem Votum vom 2. April 2024 hierzu wie folgt aus:
„Gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO müssen die den geltend gemachten Verfahrensfehler begründenden Tatsachen so genau und vollständig mit-geteilt werden, dass dem Rechtsbeschwerdegericht allein anhand der Begründungsschrift und ohne Rückgriff auf den Akteninhalt die Prüfung ermöglicht wird, ob ein Verfahrensfehler, auf dem das Urteil beruhen kann, vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (OLG Koblenz, Beschluss vom 09.06.2006 – 1 Ss 161/06; Be-schluss vom 25.06.2012 – 1 SsRs 47/12; Beschluss vom 24.07.2012 – 1 SsRs 63/12).
Zur Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit, der auch im Bußgeld-verfahren gilt (OLG Schleswig, Beschluss vom 31.03.2022 — II OLG 15/22, BeckRS 2022, 14674 m.w.N.), gehört dazu die Angabe, der tatsächlichen konkreten Umstände, aus denen sich ergibt, dass das Gericht die Öffentlichkeit beschränkt hat (BGH, Beschluss vom 10.01.2006 1 StR 527/05, NJW 2006, 1220, 1221 f.) und warum es den Verfahrensverstoß zu vertreten hat (BGH, Beschluss vom 28.09.2011 – 5 StR 245/11, NStZ 2012, 173, 174 m.w.N.). Hingegen muss nicht dargelegt werden, dass sich tatsächlich jemand von der Teilnahme an der Verhandlung hat abhalten lassen (OLG Schleswig a. a. O.).
Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung gerecht.
Dass der Verteidiger des Betroffenen aufgrund des von ihm vor der Hauptverhandlung wahrgenommenen Fehlen des Aushangs um die Möglichkeit einer Verletzung der Öffentlichkeit wusste, führt nicht zum Verlust der Rüge. Denn diese könnte selbst dann zulässig erhoben werden, wenn er selbst den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt hätte (BGH, 1 ORbs 31 SsBs 12/24 Beschluss vom 31.01.1967 – 5 StR 650/66, NJW 1967, 687).“
Dem tritt der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung bei.
2. In der Sache ist die Verfahrensrüge begründet. Dadurch, dass – soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren feststellbar – letztlich keinerlei Aushang auf die im hiesigen Verfahren sattgehabte Sitzung am 26. Oktober 2023 hinwies, war der Öffentlichkeitsgrundsatz in unzulässiger Weise beschränkt und zwingt zur Aufhebung des ergangenen Urteils.
a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit aus § 169 Abs. 1 GVG soll die Kontrolle der Rechtspflege durch die Allgemeinheit ermöglichen und zählt zu den wesentlichen rechtsstaatlichen Strukturprinzipien des Strafprozesses. Er verlangt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit erhalten muss, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuschauer teilzunehmen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2023 – 1 StR 20/06, Rn. 10; Urteil vom 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – alle Fundstellen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zitiert nach juris). Dies umfasst auch über ausreichende Informationen über Ort und Zeit einer Gerichtsverhandlung zu verfügen. Ausreichend hierfür ist, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten hiervon Kenntnis zu verschaffen und dass der Zutritt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten eröffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66). Regelmäßig genügt wird dem Informationsbedürfnis durch einen entsprechenden Aushang („Terminsrolle“) am Sitzungssaal oder an anderer (zentraler) Stelle im Gerichtsgebäude (vgl. KG, Urteil vom 12. Dezember 2022 – (3) 121 Ss165/22). Daran fehlt es hier.
Wie die Rechtsbeschwerde durch Vorlage entsprechen der Lichtbilder und anwaltlich versichert vorträgt, war zur hiesigen Terminsstunde noch eine Sitzungsrolle vom Vormittag angebracht, die über öffentliche Verhandlungen der Zivilabteilung in Sitzungssaal 107 informierte. Ein Aushang für die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den Betroffenen unmittelbar an der Tür in den Sitzungssaal fehlt indes. Ein entsprechender Aushang befand sich auch nicht an anderer (zentraler) Stelle des Amtsgerichts, etwa im Eingangsbereich. Für eine interessierte Öffentlichkeit war damit nicht erkennbar, dass über-haupt eine Sitzung und dass konkret in dem Verfahren gegen den Betroffen die Hauptverhandlung in Sitzungssaal 107 stattfand. Für eine Nachfrage bei der Wachtmeisterei hinsichtlich einer Verlegung der Hauptverhandlung gegen den Betroffenen in einen anderen Sitzungssaal bestand angesichts dieses Aushangs keine Veranlassung; es konnte vielmehr davon ausgegangen werden, dass in Sitzungssaal 107 überhaupt keine Verhandlung am Nachmittag des 26. Oktober 2023 stattfindet.
b) Dieser Verstoß ist dem Gericht auch zuzurechnen. Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Votum vom 2. April 2024 aus:
„Zwar hat die Vorsitzende ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 15.02.2024 grundsätzliche die Sichtbarkeit und Richtigkeit des Aushangs vor dem Sitzungssaal an jedem Verhandlungstag überprüft und bei Fehlen eines Aushangs die zuständige Geschäftsstelle telefonisch über das Fehlen informiert, die diesen dann angebracht habe. Seit Übernahme des Ordnungswidrigkeitendezernats am 04.10.2023 erinnere sie sich konkret an zwei Fälle, in denen der Sitzungsaushang gefehlt habe. Ob dies am hier gegenständlichen Verhandlungstag der Fall gewesen sei, wisse sie aber nicht mehr.
Die dienstlichen Stellungnahmen der Geschäftsstellen erweisen sich insoweit ebenfalls als unergiebig, da diese ebenfalls keine konkrete Erinnerung an den konkreten Verhandlungstag mehr haben.
Danach aber kann – da die dienstliche Stellungnahme der Vorsitzenden dies nicht näher eingrenzt – nicht ausgeschlossen werden, dass der Vorsitzenden bereits innerhalb des kurzen Zeitraums von wenigen Wochen, innerhalb dessen sie für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständig war bis zur Hauptverhandlung in der Sache, das Fehlen des notwendigen Aushangs bereits aufgefallen war und sie die Geschäftsstelle angewiesen hatte, diesen noch anzubringen. Mithin bestand für sie ein konkreter Anlass das Vorhandensein eines aktuellen Aushangs am Verhandlungstag zu überprüfen, was hier indes offenbar unterblieben ist.
Nichts Anderes dürfte gelten, wenn die Vorsitzende – wozu sich die dienstliche Stellungnahme ebenfalls nicht verhält – den Aushang vom Vortag irrtümlich nicht als solchen wahrgenommen, sondern als Aushang für den aktuellen Sitzungstag angesehen hätte. Denn auch in diesem Falle wäre sie ihrer Sorgfaltspflicht zur Wahrung der Öffentlichkeit nicht hinreichend nachgekommen.“
Diesen Erwägungen tritt der Einzelrichter des Senats bei. Für die Vorsitzende hätte aufgrund des vorherigen, zweimaligen Fehlens des Sitzungsaushangs innerhalb weniger Wochen Veranlassung bestanden, die Richtigkeit des Sitzungsaushangs zu überprüfen, zumal sie (unwidersprochen) den Sitzungssaal durch die Zuschauertür betreten hatte, mithin an dem unzutreffenden Aushang vorbeigegangen war, und sie den Saal am Nachmittag des 26. Oktober 2023 im Anschluss an vorausgegangene Termine (hier der Zivilabteilung) nutzte.
Da es sich bei dem Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit um einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund handelt (§ 338 Nr. 6 StPO i. V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG), vermutet das Gesetz unwiderleglich, dass das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Auf die entsprechende Rüge hin war das Urteil daher aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Alzey zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).“
Also Augen auf. Und: Man muss ja nicht alles erzählen/kund tun, was man dann entdeckt 🙂