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Pflichti III. Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, oder: (Mehrfach) prozessordnungswidriges Verhalten?

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Und zum Tagesschluss dann noch etwas zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, und zwar den LG Köln, Beschl. v. 14.09.2023 – 321 Ks 1/23 – zur Aufhebung wegen grob prozessordnungswidrigen Verhaltens des Pflichtverteidigers.

Das LG hat in dem Beschluss die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben und hat das auf drei Gründen gestützt. Wenn man den umfangreich begründeten Beschluss liest und hat man schon den Eindruck, dass es da beim LG hoch her gegangen ist. Ich stelle hier jetzt nicht die ganze Begründung vor. Das ist/wäre zu umfangreich, sondern nehme nur den ersten Punkt. Den Rest bitte selbst lesen.

Das LG führt u.a. aus:

„Die Bestellung von Rechtsanwalt V. als Pflichtverteidiger war gem. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 2. Alt. StPO aufzuheben, da ein sonstiger Grund i.S.d. Vorschrift vorliegt, der die Aufhebung der Bestellung gebietet. Ein solcher liegt vor, wenn sich der Verteidiger grobe Pflichtverletzungen zuschulden kommen lässt, die den Zweck der Pflichtverteidigung, nämlich dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf sicherzustellen, ernsthaft gefährden. Der Verteidiger ist nämlich verpflichtet, an einer sachdienlichen und prozessual geordneten Verfahrensführung mitzuwirken sowie den Verfahrensabschluss in einer angemessenen Zeit zu fördern. Sein Vorgehen muss er auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken; er hat also insbesondere die verfahrensleitende Rolle des Vorsitzenden, wie sie sich aus §§ 238 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO ergibt, zu akzeptieren und sich rein obstruktiver Maßnahmen zu enthalten. Nehmen störende Unterbrechungen der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden oder andere Maßnahmen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß an, so kann der Pflichtverteidiger folglich im Ausnahmefall als ultima ratio „aus wichtigem Grund“ entlassen werden.

Diese Voraussetzungen sind in mehrfacher Hinsicht erfüllt, da Rechtsanwalt V. auch nach bereits erfolgter Abmahnung vom 12.4.2023 sein grob prozessordnungswidriges Verhalten fortgesetzt hat, indem er den Vorsitzenden erneut in ehrverletzender Weise angegangen ist, diesem dienstpflichtwidrige Verhaltensweisen vorgeworfen, die Durchführung eines Hauptverhandlungstermins verhindert und eine falsche anwaltliche Versicherung abgegeben hat.

Im Einzelnen gilt Folgendes:

1. Anlass für die Abmahnung vom 12.4.2023 waren eine Vielzahl seit Beginn der Hauptverhandlung abgegebener prozessual unzulässiger Äußerungen des Verteidigers, insbesondere solche mit unangemessenen, teilweise beleidigenden und die Autorität, Integrität und Person des Vorsitzenden herabsetzenden Zwischenbemerkungen. Aufgrund des anders nicht abstellbaren Verhaltens des Verteidigers, das insgesamt nicht als anlassbezogene Reaktion anderer Beteiligter oder des Verfahrensablaufs i.S.d. § 43a Abs. 3 BRAO aufzufassen war, wurde Rechtsanwalt V. die o.a. Abmahnung erteilt. Auf den Inhalt wird hiermit ergänzend Bezug genommen. Unter anderem enthielt die Abmahnung folgenden Hinweis:

„…Es wird weiter darauf hingewiesen, dass die vorstehenden herabsetzenden Äußerungen von Rechtsanwalt V. in einer Reihe mit in den vergangenen Hauptverhandlungstagen vielfach von ihm vorgebrachten unangemessenen, teilweise beleidigenden und die Autorität, Integrität und Person des Vorsitzenden herabsetzenden Zwischenbemerkungen waren. Teilweise richteten sich Äußerungen von Rechtsanwalt V. auch gegen die Autorität des gesamten Spruchkörpers. Hinzu kommt, dass Rechtsanwalt V. – verstärkt seit März 2023 – dazu übergegangen ist, dem Vorsitzenden bei seiner Verhandlungsleitung bei sich fast jeder bietenden Gelegenheit ins Wort zu fallen, so dass es für den Vorsitzenden mittlerweile nahezu unmöglich geworden ist, einen Satz ungestört zu Ende führen zu können. Diese Art der – unautorisierten – „Wortmeldung“ ist ebenfalls grob prozessordnungswidrig und führt dazu, dass dem Vorsitzenden seine ihm gem. § 238 Abs. 1 StPO obliegende Prozessleitungsbefugnis erheblich erschwert, teilweise sogar unmöglich gemacht wird, da dieser Verhaltensweise – wie in der Vergangenheit mehrfach praktiziert – nur dadurch – wenn auch nur jeweils für kurze Zeit – begegnet werden kann, dass entweder das Mikrofon stumm geschaltet oder die Sitzung für einen kurzen Zeitraum unterbrochen wird.

Es wird darauf hingewiesen, dass weitere unsachliche, ehrverletzende Äußerungen die Grenze des zulässigen prozessualen Verhaltens weit überschreiten und als grobe Pflichtverletzungen Zweifel an der Bereitschaft zu einer sachgerechten Verteidigung begründen und daher Anlass geben können, die Rücknahme der Beiordnung von Rechtsanwalt V. als Pflichtverteidiger – ohne weitere Abmahnung – in Betracht zu ziehen. Es ist nämlich anerkannt, dass für einen Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung jeder Umstand in Betracht kommt, der den Zweck der Bestellung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand und den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu sichern, ernsthaft gefährdet (BGH NJW 2001, 625; BVerfG NJW 1998, 444.). Grobe Pflichtverletzungen – etwa die fehlende Bereitschaft zur sachgerechten Verteidigung – können daher die Aufhebung einer Beiordnung rechtfertigen (vgl. auch KG NStZ-RR 2009, 209; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2009, 243 ff; OLG Köln NJW 2005, 3588 f. m.w.N.). Der Verteidiger ist verpflichtet, an einer sachdienlichen und prozessual geordneten Verfahrensführung mitzuwirken sowie den Verfahrensabschluss in einer angemessenen Zeit zu fördern (BGH 1 StR 544/09). Sein Vorgehen muss er auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränken; er hat also insbesondere die verfahrensleitende Rolle des Vorsitzenden, wie sie sich aus § 238 Abs. 1, 240 Abs. 2 StPO ergibt, zu akzeptieren und sich rein obstruktiver Maßnahmen zu enthalten. Nehmen störende Unterbrechungen der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden oder andere Maßnahmen ein nicht mehr hinnehmbares Ausmaß an, so kann der Pflichtverteidiger folglich im Ausnahmefall „aus wichtigem Grund“ entlassen werden (BGH NStZ 1997, 46 f.; NStZ 1988, 510; BVerfG NJW 1975, 1015 ff.).

Der Vorsitzende geht davon aus, dass Rechtsanwalt V. nach dieser Abmahnung von weiteren grob prozessordnungswidrigen Verhaltensweisen einschließlich solcher Äußerungen absehen wird.“

Die Rechtsanwalt V. erteilte Abmahnung ist jedoch ohne dauerhafte Wirkung geblieben. Der Verteidiger hat sein erheblich prozessordnungswidriges Verhalten – wie im Folgenden ausgeführt wird – weiter fortgesetzt.

2. Rechtsanwalt V. hat den Vorsitzenden im Hauptverhandlungstermin vom 00.0.2023 (erneut) in unsachlicher, ehrverletzender Weise angegangen und zu Unrecht einer erheblichen Dienstpflichtverletzung beschuldigt.

a) Gegenstand der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung am 00.0.2023 war die (wiederholte) Befragung des Sachverständigen Prof. Dr. K.. Diese wurde vor der Unterbrechung zwecks Mittagspause maßgeblich von Rechtsanwalt V. durchgeführt, der den Sachverständigen ausführlich zu einer in dessen Gutachten erwähnten „Experimentalgruppe“ (Menschen mit prothetischer Versorgung) befragte. In der dann eingelegten Mittagspause bestand innerhalb der Kammer Unklarheit, ob der Sachverständige die zur Experimentalgruppe gehörenden Personen – entweder bewusst oder versehentlich – mit „Kontrollgruppe“ bezeichnet hatte, was für die Zulässigkeit der weiteren Befragung Auswirkungen gehabt hätte. Insofern hatte die Kammer in einem zuvor verkündeten Beschluss nämlich ausgeführt, dass abgesehen von den Kontrollgruppen kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den im Gutachten erwähnten Studien und dem im hiesigen Verfahren erstatteten Sachverständigengutachten besteht, sodass etwaige Fragen hierzu keinen Sachbezug aufweisen. Um zu klären, ob die vorherigen Äußerungen des Sachverständigen möglicherweise auf Seiten der Kammer falsch verstanden worden waren, begab sich der Vorsitzende vor Wiedereintritt in die Hauptverhandlung zum Sachverständigen, der sich – wie auch Frau Staatsanwältin A. und (zumindest zeitweise) Rechtsanwalt Z. – bereits im Sitzungssaal befand. Rechtsanwalt V. war zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen.

Nachdem der Vorsitzende gegenüber dem Sachverständigen erklärt hatte, dass eine Unklarheit aufgetreten sei, fragte er bei diesem nach, ob er bei seinen vorherigen Ausführungen die Kontrollgruppe möglicherweise als Experimentalgruppe, also die prothetisch Versorgten dieser Gruppe, bezeichnet habe. Dieser entgegnete, dass er sich daran nicht erinnern könne, dies aber auch nicht gänzlich auszuschließen vermöge. Ferner stellte der Sachverständige erneut klar, dass die Experimentalgruppe Gegenstand seiner Studien gewesen sei, er aber dem Gutachten einen Vergleich mit der Kontrollgruppe zu Grunde gelegt habe. Diese bestünde aus 13 und weiteren 44 Personen. Der Vorsitzende erklärte dem Sachverständigen sodann, dass er diese Unklarheit zu Beginn der sogleich fortzusetzenden Hauptverhandlung noch einmal ansprechen und ihn anschließend dazu befragen werde. Danach war das Gespräch mit dem Sachverständigen beendet.

Nach Eintritt in die Hauptverhandlung wurden die Verfahrensbeteiligten von den aufgetretenen Unklarheiten unterrichtet. Insbesondere stellte der Vorsitzende voran, dass Unklarheit darüber bestanden habe, ob der Sachverständige die zur Experimentalgruppe gehörenden Personen mit „Kontrollgruppe“ bezeichnet hatte und stellte daran anschließend klar, dass künftige Fragen, die die Experimentalgruppe beträfen, entsprechend dem zuvor verkündeten Kammerbeschluss als nicht zur Sache gehörend zurückgewiesen werden könnten. Rechtsanwalt Z. intervenierte, dass er die Unterhaltung mit dem Sachverständigen „über Dinge“ habe beobachten können. Zwar habe er diese wegen der Entfernung „akustisch nicht genau verstehen können“, habe aber deutlich dabei das Wort „Kontrollgruppe“ wahrgenommen. Er bat sodann um Mitteilung des Gesprächsinhalts. Dieser Bitte ist der Vorsitzende nachgekommen und hat Rechtsanwalt Z. mitgeteilt, dass mit dem Sachverständigen „genau über dieses Thema“ (sc. mögliche Verwechslung der Gruppen) gesprochen worden sei und alles, was besprochen worden sei, soeben bekannt gegeben worden sei. Im Fortgang der weiteren Diskussion, die dazu führte, dass der Vorsitzende wiederholt den Inhalt des Gesprächs wiedergab, jedoch eine weitere Stellungnahme ablehnte, äußerte Rechtsanwalt V., dies sei eine Salamitaktik. Der Vorsitzende habe (in dem Gespräch mit dem Sachverständigen Prof. Dr. K.) „wesentliche Teile der Beweisaufnahme durchgespielt“ und dies den Verfahrensbeteiligten „verheimlicht“, dies sei ein „Skandal“, der Vorsitzende betreibe eine „Salamitaktik“, was einem „Teilschweigen eines Beschuldigten“ gleichkomme. Nachdem der Vorsitzende – unter Zurückweisung des Vorwurfs – erklärte, er verwahre sich gegen diese Vorwürfe, und erneut darauf hinwies, dass nunmehr aufgrund einer zwischenzeitlichen Stellungnahme des Sachverständigen zur Zusammensetzung der Kontrollgruppe ausreichend klargestellt sei, was Gegenstand der Besprechung mit dem Sachverständigen gewesen sei, rief Rechtsanwalt V. in den Raum, „… nachdem Sie dies mit ihm geübt haben!“ Daraufhin forderte der Vorsitzende Rechtsanwalt V. erneut und eindringlich auf, die Unterstellung dolosen Verhaltens und den Vorwurf der Manipulation der Beweisaufnahme zu unterlassen. Rechtsanwalt V. erwiderte im weiteren Verlauf der Diskussion gegenüber dem Vorsitzenden, dass dieser sich jetzt „äußerst dünnhäutig“ verhalte und äußerte weiter: „Der getroffene Hund bellt!“.

Die in der Folge gestellten Ablehnungsgesuche der Angeklagten D. und X. wurden mit Beschluss der Kammer vom 00.0.2023 als unbegründet verworfen.

b) Dieses Verhalten von Rechtsanwalt V. ist erneut in erheblicher Weise prozessordnungswidrig, da dieser dem Vorsitzenden zu Unrecht eine Beeinflussung der Beweisaufnahme unterstellt hat. Über den Inhalt des Gesprächs hat der Vorsitzende die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung unverzüglich und vollständig – wie oben wiedergegeben – unterrichtet. Danach bestand kein Grund zu der Annahme, in dem – in Anwesenheit der Sitzungsvertreterin – mit dem Sachverständigen geführten Gespräch sei der weitere Inhalt der Beweisaufnahme vorbesprochen und dem Sachverständigen etwaige Antworten vorgegeben worden. Dies, zumal Rechtsanwalt V. bei dem Gespräch selbst nicht anwesend war und sich lediglich auf die Angaben des Rechtsanwalts Z. stützen konnte, der selbst wiederum angegeben hat, er habe dieses wegen der Entfernung „akustisch nicht genau verstehen können“ und lediglich einige Worte des Gesprächs mitbekommen.

Der vorbezeichnete Vorfall wiegt umso schwerer, als Rechtsanwalt V. bereits zu einem früheren Zeitpunkt dem Vorsitzenden zu Unrecht vorgeworfen hatte, in unlauterer Weise Einfluss auf die Beweisaufnahme nehmen zu wollen, weil er Aktenbestandteile vorenthalten habe. Dieser Behauptung liegt folgendes Geschehen zu Grunde:

In den Hauptverhandlungsterminen vom 00. und 00.0.2022 sollte der Sachverständige T. (geprüfter und zertifizierter Sachverständiger für Foto-/Video-Digitale-Forensik, Identifikation lebender Personen anhand von Lichtbildern und der kriminalistischen Forensik – DGuSV e.V.) sein Gutachten mündlich erstatten. Zur Vorbereitung der Gutachtenerstattung erkundigte sich der Sachverständige insbesondere danach, ob es möglich sei, im Saal seine Präsentation abzuspielen, insbesondere ob der Saal mit entsprechenden Beamern, Leinwänden und Audio-Technik ausgestattet sei. Er gedenke, sein Notebook mitzubringen und von diesem aus die Präsentation durchzuführen. Der Vorsitzende bestätigte dies, da die entsprechende Technik vorhanden sei, wies aber auch darauf hin, dass es möglicherweise zu Kompatibilitätsproblemen zwischen dem PC des Sachverständigen und der Beameranlage kommen könne. Daraufhin schlug der Sachverständige vor, die von ihm in einem gängigen Datenformat angefertigte Video-Präsentation auf einen USB-Stick zu kopieren und diesen für die Präsentation benutzen zu wollen, und zwar dergestalt, dass der Stick in den im Sitzungssaal vorhandenen Arbeitsplatzrechner eingesteckt werden solle, von wo aus dann die Beameranlage angesteuert werden könne. Der Sachverständige T. erschien am 00.0.2022 (28. Hauptverhandlungstermin) vor Aufruf der Sache um 9:15 Uhr im Sitzungssaal. Er übergab dem Vorsitzenden, wie abgesprochen, den mitgebrachten USB-Stick. Dieser wurde dann mit Unterstützung eines ebenfalls anwesenden Mitarbeiters der IT-Abteilung des Landgerichts in den im Saal befindlichen, mit der Beameranlage verbundenen Arbeitsplatzrechner des Vorsitzenden eingesteckt. Zur Erstattung des Gutachtens kam es zunächst nicht, weil die Hauptverhandlung wegen eingetretener Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten D. nicht fortgesetzt werden konnte.

In der Hauptverhandlung am 00.0.2022 (29. Hauptverhandlungstermin) wurde der Sachverständige zu seiner Person befragt und teilte einleitend mit, dass er seine Gutachtenerstattung mit der Präsentation des von ihm erstellten Videos beginnen wolle. Im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung kam es dann zu einer Diskussion unter den Verfahrensbeteiligten um die prozessuale Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise. Während der Vorsitzende durchgängig die Auffassung vertrat, dass der Sachverständige sich bei seiner Gutachtenerstattung Hilfsmitteln bedienen könne, wozu auch das von ihm gefertigte Video zähle, waren die Verteidiger der Auffassung, eine solche Art der Gutachtenerstattung sei „prozessual unzulässig“, das Gutachten sei mündlich zu erstatten. Neben der Frage, ob der Sachverständige das Video abspielen dürfe, verlagerte sich das Thema der Diskussion auch auf die Frage, ob der von dem Sachverständigen übergebene USB-Stick bzw. das auf diesem vorhandene Video durch Übergabe an den Vorsitzenden Aktenbestandteil geworden sei. Ausgehend von diesem von der Verteidigung eingenommenen Standpunkt wurde beantragt, mit der Gutachtenerstattung nicht vor Gewährung von Akteneinsicht in das Video zu beginnen. Der Vorsitzende erörterte daraufhin mehrfach, wie es zur Anfertigung des USB-Sticks und dessen Übergabe gekommen sei und insbesondere, welcher Zweck hiermit verfolgt werden sollte. Hierbei vertrat der Vorsitzende die Auffassung, dass der USB-Stick bzw. dessen Inhalt kein Aktenbestandteil sei, sondern lediglich ein von dem Sachverständigen zurate gezogenes Hilfsmittel, welches er zur Gutachtenerstattung benutzen wolle. Der Sachverständige habe diesen Stick nicht zur Akte gereicht und auch nicht zur Akte reichen wollen. Vom Inhalt des USB-Sticks habe überdies keiner der Kammermitglieder Kenntnis genommen. In der Folge griff Rechtsanwalt V. die Frage der Akteneinsicht erneut auf und vertrat weiterhin die Ansicht, dass der Vorsitzende den USB-Stick in seiner Eigenschaft als Vorsitzender entgegengenommen habe und er damit ein der Akteneinsicht unterliegender Aktenbestandteil geworden sei. Da dieses bereits mehrfach und umfassend erörterte Thema zum wiederholten Male vorgetragen wurde, äußerte der Vorsitzende gegenüber Rechtsanwalt V., dass er „mal etwas Neues“ beanstanden solle. Zur Verdeutlichung seiner Rolle bei der Entgegennahme des Sticks erklärte der Vorsitzende, dass er bei der Entgegennahme des USB-Sticks nicht in seiner Eigenschaft als Vorsitzender, sondern lediglich als „Handlanger“ des Sachverständigen tätig geworden sei, wobei er hiermit die Erwartung verbunden hat, durch diese Wortwahl ausreichend verständlich gemacht zu haben, dass der Sachverständige den Stick nicht zur Akte reichen, sondern unter Mithilfe des Vorsitzenden nur die technischen Voraussetzungen für die von ihm beabsichtigte Videopräsentation schaffen wollte. Rechtsanwalt V. vertrat die Auffassung, wenn „etwas“ zum Vorsitzenden gelange, sei dies in amtlicher Funktion als Vorsitzender und nicht als „Handlanger“ des Sachverständigen geschehen. Der Stick sei bereits jetzt Aktenbestandteil. Weiter führte Rechtsanwalt V. wörtlich aus:

„… und wenn Sie und die übrigen Richter unserem Mandanten und seinen Verteidigern diese wesentlichen Akten weiterhin vorenthalten würden, vor einer Erstattung des Gutachtens, …“,

was den Vorsitzenden dazu veranlasste, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und Rechtsanwalt V. zu unterbrechen, und zwar mit den Worten:

„… Ich enthalte Ihnen hier überhaupt nichts vor! Lassen Sie diese Unverschämtheiten sein!“ .

Weiter führte der Vorsitzende aus, Rechtsanwalt V. versuche seine Person und auch sein Vorgehen, eine vernünftige technische Projektion zu ermöglichen, durch die Behauptung einer Unterschlagung zu diffamieren. Rechtsanwalt V. stellte u.a. den Antrag, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, damit mit seinem Mandanten erörtert werden könne, ob der Vorsitzende wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen sei. Im Übrigen führte er seine weiteren Beanstandungen aus, indem er das Verhalten des Vorsitzenden als „erbärmlich“, wie er es noch nie erlebt habe, bezeichnete.

Das in der Hauptverhandlung vom 00.0.2023 gestellte Ablehnungsgesuch der Angeklagten X. und D. wurde durch Beschluss der Kammer vom 00.0.2023 als unbegründet zurückgewiesen.

….“

Pflichti III: Verteidigung mehrerer Mitbeschuldigter durch Rechtsanwälte derselben Sozietät, oder: Interessenkonflikt

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Und als dritte „Pflichtverteidigerentscheidung“ zum Tagesschluss dann der OLG Bremen, Beschl. v. 02.03.2018 – 1 Ws 12/18. Er behandelt die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung bei der Verteidigung von mehreren Mitbeschuldigten durch Rechtsanwälte derselben Sozietät oder Bürogemeinschaft.

Grundlage des Beschlusses ist folgender Sachverhalt:

Vor dem Landgericht Bremen wird gegen die beiden Angeklagten aufgrund der Anklage der Staatsanwaltschaft Bremen vom 24.01.2018 ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 169 (Angeklagter D.) bzw. in 132 (Angeklagter Y.) Fällen geführt. Insgesamt liegen der Anklage 179 Taten zugrunde, die von den Angeklagten in 122 Fällen gemeinschaftlich, im Übrigen jeweils einzeln handelnd begangen worden sein sollen und bei denen es sich in etwa der Hälfte der Fälle um eine nicht geringe Menge gehandelt haben soll.

Dem Angeklagten Y. wurde am 25.07.2017 im Rahmen der Haftbefehlsverkündung in dieser Sache durch das Amtsgericht Bremen Rechtsanwalt E. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Die Hauptverhandlung vor der Strafkammer 6 des Landgerichts begann am 22.01.2018 und dauert an.

Am 28.12.2017 zeigte Rechtsanwalt F. die Verteidigung des Angeklagten Y. an. Mit Schreiben vom 16.01.2018 beantragte der Angeklagte Y., ihm unter Entpflichtung von Rechtsanwalt E. seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt F. als Pflichtverteidiger beizuordnen. Zur Begründung führte der Angeklagte aus, dass Rechtsanwalt E. in derselben Kanzlei tätig sei wie Rechtsanwalt H. als Verteidiger des Mitangeklagten D. Er befürchte daher eine Interessenkollision und vertraue nicht mehr darauf, durch Rechtsanwalt E. angemessen vertreten zu werden. Mit Schriftsatz vom 20.01.2018 erklärte Rechtsanwalt F., dass der Angeklagte Y. ihm mitgeteilt habe, dass er sich in der Sache einlassen wolle und dass eine entsprechende Erklärung nur im Beisein von Rechtsanwalt F. und nach anwaltlicher Beratung durch diesen erfolgen solle.

Mit Beschluss der Vorsitzenden Richterin der Strafkammer 6 vom 22.01.2018 wurde der Antrag des Angeklagten Y. vom 16.01.2018 abgelehnt.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte Y. mit seiner Beschwerde vom 29.01.2018, der die Vorsitzende am 06.02.2018 nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen hat am 08.02.2018 zu der Beschwerde des Angeklagten Y. Stellung genommen und beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.“

Das OLG hat aufgehoben und zur neuen Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Es stellt seiner Entscheidung folgende Leitsätze voran:

  1. Die Bestellung zum Verteidiger kann schon wegen der Absehbarkeit eines Interessenkonfliktes abgelehnt werden, ohne dass es konkreterer Hinweise auf das Bestehen dieses Konflikts bedarf.
  2. Ein solcher Interessenkonflikt ist bei der Verteidigung von mehreren Mitbeschuldigten durch Rechtsanwälte derselben Sozietät oder Bürogemeinschaft nach allgemeinen Gesichtspunkten grundsätzlich schon immer dann absehbar, wenn eine Anklage wegen einer gemeinsam begangenen Tat vorliegt. Nach den Umständen des konkreten Einzelfalls kann diese Gefahr ausgeräumt sein, was insbesondere auf der Grundlage des Einlassungsverhaltens der Beschuldigten zu überprüfen ist.
  3. Die Abberufung eines Pflichtverteidigers im Hinblick auf das Vorliegen eines Interessenkonflikts wegen der Verteidigung von mehreren Mitbeschuldigten durch Rechtsanwälte derselben Sozietät oder Bürogemeinschaft setzt dagegen grundsätzlich das Vorliegen konkreterer Hinweise auf das Bestehen dieses Konflikts voraus.
  4. Diese Hinweise müssen nicht die Darlegung und Glaubhaftmachung eines Interessenkonflikts in Bezug auf den eigenen Verteidiger durch konkrete Umstände beinhalten, wie dies in sonstigen Fällen der Abberufung eines Verteidigers aus wichtigem Grund erforderlich ist. Diese Erstreckung des Interessenkonflikts ist nach § 3 Abs. 2 BORA bereits in der Verbindung der Rechtsanwälte zur gemeinsamen Berufsausübung normativ vorgegeben.