Die Frage, ob auch der ortsansässige Rechtsanwalt die bei seiner Akteneinsicht entstandene Aktenversendungspauschale als notwendige Auslage ersetzt verlangen kann, ist in der Rechtsprechung nicht unumstritten. Mit der Problematik hat sich jetzt auch noch einmal der VerfGH Berlin im VerfGH Berlin, Beschl. v. 13.05.2025 – 94/23 – befasst.
Das AG Berlin Tiergarten hatte mit Beschl. v. 12.07.2023 (327 Ds] 232 Js 312/19 29207 V (10/19; dazu Keine Erstattung der Aktenversendungspauschale? oder: Man möchte schreien, wenn man es liest) die von einem Verteidiger bei der Festsetzung der Pflichtverteidigergebühren geltend gemachte Aktenversendungspauschale nicht als notwendige Auslage anerkannt und die Festsetzung insoweit abgelehnt. Das hatte das AG damit begründet, dass die bei dem ortsansässigen Verteidiger die Kosten der Akteneinsicht nicht gesondert anzusetzen seien, diese seien in der Grund- und Verfahrensgebühr des RVG enthalten. Es bleibe dem ortsansässigen Anwalt überlassen, ob er sich die Akte bei Gericht zur Einsicht abholt und wieder zurückbringt, ohne dass er Zeit-, Fahrt- und Parkaufwand hierfür gesondert in Rechnung stellen kann oder sich dies als persönlichem und bereits abgegoltenem Vorteil ersparen möchte und das Gericht bittet, die Akte ausnahmsweise entgegen der ansonsten üblichen Praxis und unter Zusage der Kostenübernahme übersenden zu lassen. Notwendig sei dies aus der vorgenannten Alternativmöglichkeit allerdings schon sprachnotwendig nicht.
Dagegen hat der Rechtsanwalt Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der er unter Verweis auf die Rechtsprechung des VerfGH Berlin (VerfGH, Beschl. v. 18.5.2022 – VerfGH 91/21, dazu AG: Aktenversendungspauschale als Servicepauschale, oder: VerfGH: Nein, das ist willkürlich) eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 10 Abs. 1 der Verfassung von Berlin (VvB) gerügt hat. Die Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg:
„Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg, weil sie jedenfalls unbegründet ist. Die Ablehnung der Erstattung der Auslagenversendungspauschale verletzt vorliegend nicht Art. 10 Abs. 1 VvB in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
Ein Richterspruch verstößt gegen das Willkürverbot, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht. Dies ist etwa der Fall, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (Beschluss vom 18. Mai 2022 – 91/21 – Rn. 8 m.w.N.). Die verfassungsrechtliche Kontrolle einer Verletzung des Willkürverbots durch Gerichtsentscheidungen greift damit nicht bei jedem Fehler in der Rechtsanwendung ein (Beschluss vom 27. April 2022 – VerfGH 106/20 – Rn. 11; st. Rspr.). Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den Einzelfall sind vielmehr Sache der Fachgerichte und der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof grundsätzlich entzogen (Beschluss vom 27. April 2022 – VerfGH 130/20 – Rn. 7).
Das Amtsgericht Tiergarten hat die Notwendigkeit der Auslage im Sinne von § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i. V. m. § 91 Abs. 2 ZPO mit dem Argument verneint, der einem Rechtsanwalt durch Akteneinsicht entstehende Aufwand sei mit der Grund- und Verfahrensgebühr des RVG abgegolten. Insbesondere dem ortsansässigen Anwalt bleibe es überlassen, ob er sich die Akte bei Gericht zur Einsicht abhole und wieder zurückbringe, ohne dass er Zeit-, Fahrt- und Parkaufwand hierfür gesondert in Rechnung stellen könne oder ob er sich dies als persönlichen und bereits abgegoltenen Vorteil erspare und das Gericht bitte, die Akte ausnahmsweise entgegen der ansonsten üblichen Praxis und unter Zusage der Kostenübernahme zu übersenden. Notwendig sei Letzteres aufgrund der vorgenannten Alternativmöglichkeit allerdings nicht. Auch die Kosten der Rücksendung der Akte seien über die pauschalen Postauslagen hinaus nicht in Ansatz zu bringen.
Indem es diese Begründung gibt, setzt sich das Amtsgericht Tiergarten mit dem Begriff der notwendigen Auslagen im Sinne von § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO inhaltlich auseinander. Es vertritt die Auffassung, die Kosten, die durch die Aktenübersendung in seine Kanzlei hinzukommen, seien nicht „notwendig“, wenn der Aufwand, der dem Rechtsanwalt durch Einsichtnahme in die Akte vor Ort oder ihre Abholung bei Gericht entsteht, bereits durch die RVG-Gebühren abgegolten ist.
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Begriff der Notwendigkeit bzw. der notwendigen Auslage im Sinne von § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO damit sprachlich und gedanklich nachvollziehbar ausgelegt. An die Frage der Notwendigkeit von Kosten wird dabei ein strenger Maßstab angelegt: Wenn die – unbestritten notwendige – Akteneinsicht im Gericht bzw. nach dortiger Abholung der Akten möglich ist, ist die Übersendung der Akte in die Kanzlei nicht „notwendig“, um die Akten einsehen zu können. Folglich sind nach Auffassung des Amtsgerichts die durch die Übersendung zusätzlich verursachten Kosten auch nicht „notwendig“.
Diese Sichtweise mag streng gegenüber einem Rechtsanwalt sein, der Akteneinsicht nehmen muss. Es kann aber nicht festgestellt werden, dass sie unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar und folglich willkürlich wäre. Die Frage, ob sie in einfachrechtlicher Hinsicht Zustimmung verdient, ist durch den Verfassungsgerichtshof nicht zu überprüfen.
Soweit der Verfassungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 18. Mai 2022 (VerfGH 91/21) in einem anderen Fall die Versagung einer Aktenversendungspauschale als Verstoß gegen das Willkürverbot angesehen hat, lag dies an der anderslautenden Begründung der dort angefochtenen Entscheidung.“
Man mag es nicht glauben, wenn man es liest: Der VerfGH Berlin macht den – mit Verlaub – „Blödsinn“, den das AG Tiergarten in seinem Beschluss vom 12.7.2023 „verzapft“ hat, mit und segnet die Auffassung des AG, dass die Kosten der Akteneinsicht nicht gesondert anzusetzen seien, weil diese in der Grund- und Verfahrensgebühr des RVG enthalten seien, damit ab. Das ist einfach schlicht weg falsch und wird auch so von keinem anderen Gericht vertreten, jedenfalls ist mir keines bekannt. Und warum das nicht willkürlich sein soll, erschließt sich mir nicht. Denn die Auffassung des AG verkennt – bewusst oder unbewusst – den einfachen Unterschied zwischen anwaltlicher Vergütung und Auslagen (vgl. § 1 Abs. 1 RVG), den offenbar auch der VerfGH nicht zu kennen scheint. Gebühren sind das Entgelt für die Anwaltstätigkeit. Davon zu unterscheiden sind eben die Auslagen. Die Auslagen, die nicht zu den allgemeinen Geschäftskosten gehören, kann der Rechtsanwalt geltend machen, was ausdrücklich in Vorbem. 7 Abs. 1 S. 2 VV RVG geregelt ist. Die Gebühren, die dem Rechtsanwalt zustehen, also Grund- und Verfahrensgebühr, decken die vom Rechtsanwalt gezahlten Auslagen nicht ab. Der hier vom AG gemachte Fehler ist m.E. so eklatant, dass er eben nicht mehr rechtlich vertretbar und folglich willkürlich ist.
Im Übrigen erkenne ich nicht, wo der Unterschied zu der vom Verteidiger angeführten Entscheidung des VerfGH Berlin v. 18.5.2022 (VerfGH 91/21, AGS 2022, 557) liegen soll. Da hatte das AG die Erstattung der Aktenversendungspauschlage mit der Begründung abgelehnt, die könne nicht erstattet werden, weil es sich um eine Zahlung für eine Serviceleistung an den Rechtsanwalt handele, der sich damit eine kostenlose, aber zeitaufwändige Akteneinsicht bei der Bußgeldstelle erspare. Das hatte der VerfGH als unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar gerügt. Was ist an der Begründung des AG in dem nun entschiedenen Fall so anders, dass man nun die Willkür verneint. Letztlich wird der Erstattungsantrag des Rechtsanwalts in beiden Fällen damit beschieden, dass man ihm sagt: Die Abholung der Akten ist möglich, weshalb eine Übersendung der Akten nicht notwendig ist. Wenn wir es trotzdem tun, ist es ein Service, den du bezahlen musst.
Alles in allem: Die vorliegende Entscheidung des VerfGH ist gewogen und leider zu leicht befunden. Oder: Man möchte auch hier schreien…..