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Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

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Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

Pflichti I: Einiges Neues zu den Beiordnungsgründen, oder: Vollstreckung, Einziehung, Schwere der Tat u.a.

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Bevor es dann morgen noch einen „Gebührentag“ gibt und dann das Pfingstwochenende kommt, stelle ich heute erst noch einmal Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da haben sich seit dem letzten „Pflichti-Tag“ wieder einige angesammelt.

Hier zunächst eine Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, allerdings – wie gewohnt – nur die Leitsätze:

1. In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019.

2. Zu den Gründen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren über die Reststrafenaussetzung.

1. Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf.

2. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft.

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird.

Ist der „Vorgang“ wegen der Aktenführung unübersichtlich ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann.

Pflichti I: Etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: U-Haft im Ausland, Höhe der Strafe, Strafvollstreckung

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Heute stelle ich dann Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Es haben sich wieder einige angesammelt. Herzlichen Dank allen Kollegen für die Einsendung.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen zu Beiordnungsgründen. Hier sind die Leitsätze zu:

1. Zur Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, wenn zwar gegen den Beschuldigten im Ausland Untersuchungshaft vollstreckt worden ist, dem Beschuldigten aber bei einer Auslieferung nach Deutschland wegen des Spezialitätsgrundsatzes keine Untersuchungshaft droht.
2. Daher gilt, nicht schon jede zu erwartende Freiheitsstrafe, sondern erst eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe, sollte in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers geben
3. Zur verneinten Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage.

    1. Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren.
    2. Die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist im Vollstreckungsverfahren nicht anwendbar; insofern richtet sich die Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO analog.

U-Haft II: Nettostrafererwartung von noch 2 Jahren, oder: Das reicht immer noch für Fluchtgefahr

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Ich hatte vorhin ja schon in Zusammenhnag mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 – 4 Ws 302/22 – auf die Bedeutung der Straferwartung für die Frage der Fluchtgefahr hingewiesen (vgl. U-Haft I: Nachlässigkeiten begründen keine Flucht, oder: (Hohe) Straferwartung reicht allein nicht). Dem OLG hatten da bis zu rund 3 Jahre und 6 Monate drohende Freiheitsstrafe nicht für die Annahme von Fluchgefahr gereicht.

Dass es – leider – auch anders geht, zeigt der BGH, Beschl. v. 04.07.2022 – StB 27/22. Mit dem Beschluss hat der BGH über die Haftbeschwerde eines Angeklagten entschieden, der sich seit dem 16.07.2020 wegen 57 Fällen von Volksverhetzung und wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in U-Haft befindet. Der Angeklagte ist vom OLG zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war. Gegen das OLG-Urteil vom 27.05.2022 – hat der Angeklagte am 01.06.2022 Revision und gegen die Haftfortdauerentscheidung Beschwerde eingelegt. Er macht – wie bereits in vorangegangenen Schriftsätzen – geltend, dass er am sog. Messie-Syndrom erkrankt sei, weshalb er in seine Wohnung zu seinen Habseligkeiten zurückkehren wolle und nicht fliehen werde. Den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft hält er wegen des nahezu erreichten Halbstrafenzeitpunkts zudem für unverhältnismäßig.

Der BGH sieht das anders:

„2. Es besteht weiterhin Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es noch immer wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte im Fall der Freilassung dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen werde. In die gebotene Würdigung aller Umstände ist einzustellen, dass er bei hypothetischer Rechtskraft seiner Verurteilung in dieser Sache mit einer weiteren Inhaftierung von gut zwei Jahren zu rechnen hätte. Insoweit ist die zu verbüßende Zeit maßgeblich, die nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB verbleibt, und eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu bedenken. Selbst bei dem Zwei-Drittel-Termin des § 57 Abs. 1 StGB handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets ausscheidet. Dem Erstgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt bei der diesbezüglichen Einschätzung ein Beurteilungsspielraum zu (BGH, Beschluss vom 20. April 2022 – StB 16/22, juris Rn. 11 mwN).

Vorliegend hat das Oberlandesgericht nachvollziehbar dargelegt, dass und warum es eine Strafaussetzung für unverantwortbar hält: Der Angeklagte habe in der Hauptverhandlung bis zuletzt antisemitische Hetze betrieben und den Holocaust geleugnet. Noch in seinem letzten Wort habe er unter anderem wörtlich ausgeführt, dass Juden weltweit ausgerottet werden müssten. Vor diesem Hintergrund wird einer Aussetzung aller Voraussicht nach das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit entgegenstehen (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB).

Die wiederholten staatsfeindlichen Äußerungen des Angeklagten, die sich in den abgeurteilten Straftaten und seinen zahlreichen Schreiben an den Senat finden, belegen zudem, dass er die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland und ihre Strafverfolgungsorgane zutiefst verachtet. Infolgedessen ist nicht zu erwarten, dass er bereit sein wird, Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen freiwillig Folge zu leisten.

Was die fluchthemmenden Umstände angeht, haben sich auch mit Blick auf das Vorbringen in der Haftbeschwerde keine entscheidungserheblichen Änderungen seit der Entscheidung des Senats vom 12. Januar 2022 ergeben. Die Sammelleidenschaft des Angeklagten hat ihn in der Vergangenheit ebenso wenig von Auslandsreisen abgehalten wie der Umstand, dass er langjähriger Sozialhilfeempfänger ist. Auf den Nichtabhilfebeschluss des Oberlandesgerichts wird insoweit ergänzend Bezug genommen.

Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

3. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor insbesondere mit Blick auf die zur Fluchtgefahr dargelegten Gründe nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der verhängten Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen ist nach der letzten Haftfortdauerentscheidung des Senats weiterhin ausreichend beachtet worden.“

U-Haft I: Nachlässigkeiten begründen keine Flucht, oder: (Hohe) Straferwartung reicht allein nicht

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Ich habe seit längerem keine Beschlüsse zur U-Haft mehr vorgestellt. Jetzt hat sich einiges angesammelt, das ich heute vorstellen möchte.

An der Spitze der („schöne“) OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 – 4 Ws 302/22, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Der Kollege verteidigt in einem Verfahren wegen eines Vergewaltigungsverdachts. Der Angeklagte hat sich zunächst aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls vom 03.07.2019 bis zum 02.09.2019 in Untersuchungshaft befunden.

Im ersten Rechtsgang hat das LG den Angeklagten mit Urteil vom 09.12. 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil des LG mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 29.10.2021 hat die nunmehr zuständige Strafkammer des LG den Haftbefehl vom 03.07.2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben. In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches dann am 09.05.2022 bei Gericht einging.

Am 02.06.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 07.03.2022 nicht auffindbar. Das LG hat sodann am 09.06.2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom selben Tag hat das LG zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13.06.2022 ausgeführt.

Nur zwei Tage später, am 15.06.2022, hat der Kollege dann der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt. Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt. Am 23.06.2022 nehmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem AG vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrecht erhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 01.07.2022 dem LG vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg. Das OLG bejaht den dringenden Tatverdacht, hat aber das Vorliegen eines Haftgrundes verneint. Der Angeklagte sei nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO (gewesen):

„2. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund. Der Angeklagte war nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.

a) Zwar war der Angeklagte nicht nur in vorliegender Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar. Auch hat er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigt die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft jedoch nicht.

Denn der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOk StPO/Krauß, 43. Ed., § 112, Rn. 18). Es muss sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810, Rn. 42). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründet den Haftgrund der Flucht dagegen nicht.

b) Gemessen hieran erweist sich der angefochtene Beschluss als rechtsfehlerhaft.

Gegen ein zielgerichtetes Untertauchen spricht schon, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen anbrachte. Dies ergibt sich zum einen aus den vorgelegten Lichtbildern, zum anderen aber auch aus den im Rahmen der polizeilichen Anschriftenüberprüfung gewonnenen Erkenntnissen. Dass es sich nicht um eine Scheinanschrift handelte, belegen überdies die Angaben einer von den Polizeibeamten befragten Hausbewohnerin, die die regelmäßige Anwesenheit des Angeklagten in seiner Wohnung ausdrücklich bestätigte. Weiter konnte der Angeklagte problemlos und ohne dass es besonderer Fahndungsmaßnahmen bedurft hätte zeitnah an seiner Wohnanschrift festgenommen werden.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger unmittelbar nach dem Erlass des Einstellungsbeschlusses sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift mitteilen ließ. Er hat seine Wohnanschrift gegenüber dem Landgericht also nicht länger verschwiegen oder gar zu verheimlichen versucht, sondern diese im Gegenteil sogar aktiv offenbart.

All dies spricht gegen die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe es zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Verfahren gegen ihn aufgrund seines Wohnsitzwechsels nicht durchgeführt werden kann, zumal sein Aufenthaltsort vor Erlass des Haftbefehls leicht über eine Anfrage bei seinem Verteidiger hätte abgeklärt werden können.

3. Darüber hinaus sind auch keine anderen Haftgründe ersichtlich.

Verdunkelungsgefahr liegt ersichtlich nicht vor und es sind auch keine hinreichend konkreten Tatsachen ersichtlich, auf die die Annahme von Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte. Zwar hat der Angeklagte im Fall der Verurteilung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen, wenngleich dann im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre, dass die Tat zwischenzeitlich mehr als drei Jahre zurückliegt. Zudem vermag die Straferwartung alleine Fluchtgefahr ohnehin nicht zu begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112, Rn. 24). Darüber hinaus hat sich der Angeklagte — wohl wissend, dass ihm eine erhebliche, nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe droht — dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere ist er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen, ohne dass dies durch Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden musste. Der Umstand, dass er sich an zwei Verhandlungstagen nicht unerheblich verspätete, rechtfertigt die Annahme von Fluchtgefahr nicht.

Weiter kommt hinzu, dass der Angeklagte auch dann keine Fluchtvorbereitungen traf, als der stellvertretende Vorsitzende in einem mit dem Verteidiger geführten Telefonat am 1. Ju-ni 2022 signalisierte, dass eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich aus Sicht der Straf-kammer wohl nicht in Betracht komme. Dennoch ließ der Angeklagte, unmittelbar nachdem der Einstellungsbeschluss ergangen war, von seinem Verteidiger seine aktuelle Anschrift mitteilen. Auch blieb er in der Folge dort aufhältig. Fluchtgefahr scheidet deshalb aus.“

Der Entscheidung ist nichts hinzuzufügen, außer, dass sie zutreffend ist. Sie ist zudem ein schöner Beweis, dass die Kontrollmechanismen auch im Haftrecht (noch) funktionieren. Man ist zudem erfreut über den Hinweis des Senats an die Strafkammer, dass man die Anschrift des Angeklagten beim Verteidiger hätte abklären können. Das OLG geht also wohl von der Notwendigkeit eines solchen Anfrage aus, wobei dahin gestellt bleiben soll, ob darauf eine Antwort erfolgt. Aber: Fragen kann man ja mal.

Zu begrüßen ist auch die Auffassung des OLG, dass alleine die – eine „hohe“ – Straferwartung nicht ausreicht, um die Fluchtgefahr zu begründen. Dabei geht es hier – die Vorstellungen der Strafkammer als richtig unterstellt – um ein Strafe von mehr als zwei Jahre bis zu der im ersten Rechtsgang verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen. Das ist eine Strafhöhe, bei der andere Gerichte ohne Probleme Fluchtgefahr angenommen hätten. Dazu nachher mehr.