Schlagwort-Archive: analoge Anwendung

Haft I: Haftgrund der sog. Schwerkriminalität, oder: Analoge Anwendung ist „dünnes Eis“

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Nach dem „Strafvollzugstag“ gestern dann heute ein Haft-Tag, also Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 20.06.2023 – 4 Ws 88/23. Das OLG hat Stellung genommen zur Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 2 StPo – Haftgrund der sog. Schwerkriminalität.

Die StA wirft dem Angeschuldigten vor, seine Stieftochter in der Zeit von 2012 bis 2017 sexuell missbraucht zu haben. Im Einzelnen wirft sie ihm neun Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB a.F. sowie einen Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 3 StGB a.F. vor.

Deswegen hat die StA den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten unter Berufung auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO beantragt. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die in der Anklageschrift aufgeführten Straftatbestände seien in § 112 Abs. 3 StPO nicht ausdrücklich benannt, so dass diese Norm keine Anwendung finde. Im Übrigen lägen weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.

Dagegen die Beschwerde der StA, die keinen Erfolg hatte.

Zur Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO führt das OLG aus:

„Entgegen der Ansicht des Landgerichts findet § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. – analoge – Anwendung. Zutreffend ist zwar, dass § 112 Abs. 3 StPO grundsätzlich nur auf die Normen Anwendung findet, die enumerativ in § 112 Abs. 3 StPO aufgezählt werden (vgl. Böhm in MüKOStPO, 2. Aufl. 2023, StPO, § 112, Rn. 88; Graf in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 112, Rn. 41), wozu § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. nicht zählt. Insoweit ist die Regelung des § 112 Abs. 3 StPO aber analog anzuwenden.

Die Gesetzesbegründung steht dem nicht entgegen. Ein Wille des Gesetzgebers, Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1. Juli 2021 begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich auszuschließen, ist nicht ersichtlich.

Ausweislich des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung vom 21. Oktober 2020 sollte in Fällen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Anordnung der Untersuchungshaft erleichtert werden (Seite 2 des Gesetzesentwurfes). Durch die Aufnahme des mit der Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. wortgleichen § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. in den Katalog des Untersuchungshaftgrundes der Schwerkriminalität in § 112 Absatz 3 StPO soll die hohe Bedeutung des geschützten Rechtsgutes zum Ausdruck gebracht werde (Seite 54 des Gesetzesentwurfes). Dass der Gesetzgeber sog. Altfälle anders bewerten wollte, ist nicht ersichtlich und erscheint dem Senat abwegig. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme des dem § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. entsprechenden § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. übersehen hat. Es liegt damit eine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie ist aufgrund der Gleichheit des gesetzlich nicht geregelten Falls mit dem gesetzlich geregelten Fall geboten. Aufgrund des identischen Regelungsgehalts dieser beiden Normen kann der Bedeutung des geschützten Rechtsguts nur Rechnung getragen werden, wenn auch die Taten erfasst werden, die längere Zeit zurückliegen. Das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG steht dem nicht entgegen, da dieses nicht auf das Strafverfahrensrecht Anwendung findet (vgl. BGH, Beschl. v . 25. November 2006 – 1 BGs 184/2006).“

Ich habe Bedenken, ob das richtig ist. Der § 112 Abs. 3 StPO ist ja schon eine Art Ausnahmevorschrift. Und die wendet man analog an? Und das bei einem Haftgrund (!!)?

Aber: Die Anwendung hat hier nichts gebracht, denn:

„Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO sind vorliegend jedoch nicht erfüllt. Der Haftgrund der Schwerkriminalität ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass nach den Umständes des Falles die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sein darf oder die ernstliche Befürchtung besteht, dass der Beschuldigte weitere Straftaten ähnlicher Art begehen werde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.). Es müssen auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnten. Der zwar nicht mit „bestimmten Tatsachen” belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen. (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.).

Zutreffend hat das Landgericht einen solchen Verdacht vorliegend verneint. Zwar hat der Angeschuldigte mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Allerdings hat der Angeschuldigte – wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat – bisher keinerlei Fluchttendenzen gezeigt. Unter dem 4. Mai 2023 ist dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugestellt worden; dennoch ist nicht bekannt, dass er nunmehr Tendenzen in diese Richtung gezeigt hätte. Dies trotz des Umstandes, dass er, wie sich aus dem durch die Polizei ausgewerteten Chat zwischen ihm und seiner Ehefrau ergibt, eine realistische Straferwartung hat. In diesem Chat hat der Angeschuldigte geäußert, er werde „bestimmt 5-10 Jahre eingesperrt“ werden.

Auch ist vorliegend ein Verdunkelungsverdacht nicht gegeben…..“

Und da frage ich mich natürlich: Warum entscheidet man die Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO, wenn es darauf dann letztlich nicht ankommt. Dann kann man die Frage auch offen lassen, bevor man sich auf „dünnes Eis“ begibt.

Pflichti I: Wieder etwas zu Beiordnungsgründen, oder: Schwere der Tat, Waffengleichheit, Beweisverwertung

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Es haben sich wieder ein paar Entscheidungen angesammelt. Nichts Weltbewegendes, aber es lohnt sich :-).

Zunäch dann die Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – und auch ein wenig Verfahrensrecht. Ich stelle aber nur die Leitsätze vor, und zwar:

1. Nach ganz überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafenbildung erreicht wird.

2. Eine – auch entsprechende – Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen.

1. Gegen die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht dem Beschuldigten ein Beschwerderecht zu, nicht aber dem nicht beigeordneten Rechtsanwalt. Im Zweifel ist zwar davon auszugehen, dass eine Einlegung eines Rechtsmittels nicht im eigenen Namen des Verteidigers erfolgt. Dies gilt allerdings nicht, wenn sich aus den Umständen die Beschwerdeeinlegung im eigenen Namen des Verteidigers ergibt.

2. Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile, wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.

3. Zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern.

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

Na, zufrieden? Ich denke, dass man das sein kann, denn insbesondere die Entscheidungen des LG Magdeburg und des LG Nünrberg-Fürth sind „sehr schön“.

Zu der verfahrensrechtlichen Porblematik bei LG Koblenz kann man nur sagen: Selbst schuld, denn warum macht man nicht deutlich, dass der Mandant Rechtsmittel einlegt?

Teilnahme an der SV-Exploration des Mandanten, oder: Keine Vernehmungsterminsgebühr, auch nicht analog

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und für das zweite Posting hatte ich dann noch eine „richtige“ RVG-Entscheidung, und zwar den OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.01.2023 – 2 Ws 156/22 (S).

Das OLG nimmt in der Entscheidung noch einmal zur Frage der Zulässigkeit einer analogen Anwendung der Nr. 4102 VV RVG Stellung. Die hatte die Nebenklägervertreterin geltend gemacht. Sie hatte den Anfall der Gebühr damit begründet, dass sie an der sachverständigem Begutachtung der Nebenkläger teilgenommen habe. Dafür sei die Gebühr angefallen.

Die Rechtsanwältin hatte mit dem Ansatz beim OLG – kein Glück. Das hat eine für sie positive Entscheidung des LG aufgehoben:

„Zu Unrecht hat das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss der Rechtsanwältin für die Teilnahme an der sachverständigen Begutachtung die Gebühr nach Nr. 4102 VV RVG zugesprochen.

Die Frage, ob es sich bei der Regelung in Nr. 4102 VV RVG um eine abschließende Regelung handelt, die eine entsprechende Anwendung ausschließt, wird unterschiedlich beantwortet. In der Rechtsprechung wird, zumindest teilweise, eine entsprechende Anwendung für zulässig gehalten (vgl. etwa LG Hamburg, Beschluss vom 24. November 2016, Az.: 617 Ks 22/16, m.w.N., zitiert nach juris).

Verneint wird die Möglichkeit einer analogen Anwendung vor allem in der Literatur (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG VV 4102 Rn.5; BeckOK RVG/Knaudt RVG VV 4102 Rn. 11, Burhoff in Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4102 VV Rn. 45) und der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 8. August 2011, Az.: 1 Ws 89/11; KG, Beschluss vom 18. November 2011, Az.: 1 Ws 86/11; OLG Köln, Beschluss vom 23. Juli 2014, Az.: III-2 Ws 416/14; alle zitiert nach juris).

Der Senat folgt letzterer Auffassung.

Danach scheidet eine entsprechende Anwendung der Nr. 4102 VV RVG auf weitere, dort nicht bezeichnete Tätigkeiten des Rechtsanwalts außerhalb der Hauptverhandlung aus. Bei dieser Regelung handelt es sich um eine Ausnahmeregelung, die abschließend auflistet, für welche Termine außerhalb der Hauptverhandlung der Rechtsanwalt eine Gebühr beanspruchen kann. Dafür spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift, welche in den Ziffern 1 bis 5 einzelne konkret bestimmte Tatbestände regelt und dabei keinen Auffangtatbestand vorsieht (vgl. OLG Saarbrücken a.a.O.; Burhoff a.a.O.). Dem entspricht auch die Vorbemerkung 4.1 Abs. 2 zum 4. Teil VV RVG, wonach durch die (in dem VV bezeichneten) Gebühren die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts entgolten wird. Aus dem Regelungszusammenhang der Gebührenvorschriften in Teil 4 VV RVG folgt demnach, dass Termine außerhalb der Hauptverhandlung grundsätzlich nicht zusätzlich vergütet werden (vgl. OLG Saarbrücken a.a.O.; KG a.a.O.), sondern regelmäßig durch die jeweilige Verfahrensgebühr mit abgegolten sind (Burhoff in Burhoff/Volpert, a.a.O.).

Die Teilnahme des Verteidigers etwa an der Exploration seines Mandanten durch einen psychiatrischen Sachverständigen kann im Rahmen der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG angemessen berücksichtigt werden, dem beigeordneten Rechtsanwalt bleibt gegebenenfalls der Weg über § 51 RVG, sofern die Gebühren für den gerichtlich bestellten Rechtsanwalt in einer Gesamtschau nicht zumutbar erscheinen (KG a.a.O.; Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O.). Dieses Ergebnis dürfte auch der gesetzgeberischen Intention bei der Einführung der gebührenrechtlichen Regelungen in Teil 4 VV RVG entsprechen. Dabei sollten weitere Tätigkeiten des Verteidigers, die damals nicht oder nur unzureichend honoriert worden waren, in Zukunft gebührenrechtlich angemessene Berücksichtigung finden (BT-Drs. 15/1971, S. 220). Nach der Gesetzesbegründung spricht nichts dafür, dass es sich bei der Regelung in Nr. 4102 VV RVG lediglich um eine beispielhafte Aufzählung von Tätigkeiten außerhalb der Hauptverhandlung handeln sollte (vgl. dazu auch OLG Saarbrücken a.a.O.; KG a.a.O.).

Stimmt. Habe ich doch schon immer gesagt 🙂 .

Wichtig!! KG zur Anrechnung von (Rest)Vorschüssen, oder: Angriff der Staatskasse abgewehrt

© Alex White – Fotolia-com

Den Opener macht heute der KG, Beschl. v. 29.03.2017 – 1 Ws 19/16. Auf diesen Beschluss habe ich schon länger gewartet, gestern habe ich ihn nun – druckfrisch – bekommen. Es handelt sich um die Beschwerdenentscheidung zum LG Berlin, Beschl. v. 31.03.2016 – (538 KLs) 283 Js 2801/14 29103V (7/15) Kbd1 (dazu: Vorschussanrechnung, oder: Der „Dreh“ der Bezirksrevisorin mit der „wirtschaftlichen Obergrenze“). In der Entscheidung steckt eine Menge Geld für (Pflicht)Verteidiger.

Ich erinnere: In dem Verfahren geht es um die Anrechnung von Vorschüssen/Zahlungen, die der betroffene Kollege als Wahlverteidiger für das Ermittlungsverfahren von seinem Mandanten erhalten hat, auf die gesetzlichen Gebühren, die der Kollege, der später dann zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, für das gerichtliche Verfahren erhält. Es war nach der Anrechnung auf die Gebühren für das Ermittlungsverfahren noch ein „Restvorschuss“ übrig geblieben, den der Bezirksrevisor nun auf die Gebühren für das gerichtliche Verfahren anrechnen wollte.

Ich hatte in dem o.a. ja schon gewettert, dass das nicht geht. Dem steht § 58 Abs. 3 Satz 1 RVg entgegen. Und – so auch das LG Berlin: Etwa anderes ergibt sich auch nicht aus dem durch das 2. KostRMoG eingefügten § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG.

Den wollte die Staatskasse analog auf § 58 Abs. 3 Satz 1 RVG anwenden.  Aus der Regelung in Satz 4 ergebe sich eine wirtschaftliche Obergrenze. Ich hatte bereits an verschiedenen Stellen – mit dem LG Berlin – eine analoge Anwendung verneint. Das KG sieht das nun ähnlich und kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Anrechnung eines „Restvorschusses“ auf Gebühren für andere Angelegenheiten nicht zulässig ist. Es kommt zu dem Ergebnis aber nicht über die Frage: Analoge Anwendung ja oder nein?, sondern sieht in § 58 Abs.3 Satz 4 RVG keine allgemeine Anrechnungsreglung, über die die Anrechnung zulässig wäre.

„Die Auslegung des § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG ergibt, dass es sich hierbei nicht um eine derartige allgemeine Anrechnungsregelung handelt.

Zwar ließe der Wortlaut der Norm ein solches Verständnis zu. Auch stünde die Gesetzessystematik dieser Auslegung nicht entgegen. § 58 Abs. 3 RVG könnte, worauf die Beschwerdeführerin hingewiesen hat, auch folgendermaßen verstanden werden: Satz 1 enthält lediglich die Grundaussage, dass die in einer gebührenrechtlichen Angelegenheit erhaltenen Vorschüsse und Zahlungen auf die von der Staatskasse für diese Angelegenheit zu zahlenden Gebühren anzurechnen sind. Satz 3 regelt, wie und in welchem Umfang angerechnet wird. Satz 4 schließlich erhöht den nach Satz 3 anrechnungsfreien Betrag auf den Betrag der Höchstgebühr, die der Verteidiger als Wahlanwalt in dieser gebührenrechtlichen Angelegenheit geltend machen könnte, und ermöglicht (bzw. ordnet sogar an), dass der darüberhinausgehende gezahlte Betrag auch auf die anderen gebührenrechtlichen Angelegenheiten, insbesondere die Gebühren des gerichtlichen Verfahrens, angerechnet werden kann.

Eine solche Auslegung widerspräche jedoch dem maßgebenden objektivierten Willen des Gesetzgebers (vgl. dazu nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., Einl. Rdn. 193 m.w.N.). Es fehlen jegliche Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des Satzes 4 eine sich auf andere gebührenrechtliche Angelegenheiten erstreckende Anrechnungsregelung einführen wollte, welche in einem deutlichen Gegensatz zur Rechtslage vor und nach der Novellierung des Anwaltsvergütungsrechts durch das 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz gestanden hätte.

Gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 BRAGO waren auf die von der Staatskasse zu zahlenden Gebühren Vorschüsse und Zahlungen anzurechnen, die der Rechtsanwalt vor oder nach der gerichtlichen Bestellung für seine Tätigkeit „in der Strafsache“ von dem Beschuldigten oder einem Dritten erhalten hat. Der Wortlaut und die Gesetzessystematik hätten es zugelassen, diese Norm sehr weit auszulegen und so auch auf die „in der Strafsache“ für die Rechtsmittelinstanz erbrachten Zahlungen auf die Pflichtverteidigergebühren anzurechnen. Gleichwohl entsprach es einhelliger Meinung, dass nur die in ein und derselben Angelegenheit erbrachten Zahlungen anrechnungsfähig waren. Darunter fielen zwar nach damaligem Verständnis das Ermittlungs- und das sich anschließende gerichtliche Verfahren, nicht aber die Rechtsmittelinstanz (vgl. etwa Hartmann, Kostengesetze 33. Aufl., § 101 BRAGO Rdn. 7). Der Gesetzgeber des 1. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes hat diesen Grundsatz der Anrechenbarkeit ausschließlicher solcher Zahlungen, die in derselben gebührenrechtlichen Angelegenheit geleistet wurden, in der Rechtspraxis vorgefunden und in § 58 Abs. 3 RVG (a.F.) an ihm festgehalten. Der durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz eingefügte § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG hat hieran nichts geändert. Zweck der Vorschrift war es ausweislich der Gesetzesmaterialien (allein), die in Rechtsprechung und Schrifttum streitig gewesene Frage zu klären und zu entscheiden, dass der Pflichtverteidiger neben den vollen Pflichtverteidigergebühren zusammen mit den bereits erhaltenen Zahlungen und Vorschüssen nicht mehr als die Höchstgebühren eines Wahlverteidigers erhalten sollte (vgl. BT-Drs. 17/11471 (neu), S. 270 f. unter Hinweis auf Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 19. Aufl., § 58 Rdn. 71; näher dazu Volpert in Burhoff (Hrsg.), RVG – Straf- und Bußgeldsachen a.a.O., § 58 Abs. 3 Rdn. 59 f.). Ein solcher Fall läge etwa vor, worauf das Landgericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend hingewiesen hat, wenn ein Pflichtverteidiger an einer mehr als fünfstündigen Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht teilnimmt, dementsprechend der doppelte Betrag aus den Gebühren Nr. 4108, 4110 VV RVG = 660 Euro anrechnungsfrei bliebe, wohingegen dem Wahlverteidiger gemäß Nr. 4108 VV RVG höchsten 480 Euro zustünden. § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG ermöglicht es, dass unabhängig von der Regelung des Abs. 3 Satz 3 auch unterhalb des Doppelten der Pflichtverteidigergebühren anzurechnen ist, wenn der Rechtsanwalt seine Vergütung in Höhe der höchstmöglichen Wahlanwaltsvergütung erhalten hat (vgl. auch das Fallbeispiel bei N. Schneider/Fölsch in Schneider/Wolf (Hrsg.), Anwaltkommentar RVG a.a.O., § 58 Rdn. 76).

Ein weitergehender Zweck des § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG als der eben genannte hat im 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz keinen Niederschlag gefunden. Bei dieser Sachlage verbietet sich auch eine analoge Anwendung der Norm. Eine planwidrige Regelungslücke, die Voraussetzung für eine Analogie wäre, besteht nicht.“

Nun, ist mir letztlich egal, wie man zu dem zutreffenden Ergebnis kommt: Ob über die – zu verneinende – Frage, ob § 58 Abs. 3 Satz 4 RVG analog anzuwenden oder über die – verneinte Frage – ob die Vorschrift unmittelbar Anwendung findet, weil sie eine allgemeine Anrechnungsregelung dahingehend enthält, dass Vorschüsse und Zahlungen, die die nach § 58 Abs. 3 Satz 3 RVG verbleibenden Gebühren übersteigen, auch auf Gebühren in anderen Angelegenheiten anzurechnen sind. Entscheidend ist – um es mit Helmut Kohl zu sagen – was hinten raus kommt. Alles andere ist positiver „juristischer Eiertanz“ 🙂 , wobei sich m.E. beide Auffassungen gut vertreten lassen.

Entscheidend für den Verteidiger ist: Angriff der Staatskasse auf die neue Anrechnungsregelung abgewehrt 🙂

AG Oschatz: Der Rechtspfleger entscheidet dann doch nicht, an welchem Termin der Verteidiger teilnehmen darf.

© Ulf Gähme - Fotolia.com

Vor gut einem Monat hatte ich über den Beschluss des Rechtspflegers in einem Verfahren beim AG Oschatz wegen des Vorwurfs des unerlaubten Entfernens vom Unfallort berichtet. In dem war vom gerichtlich bestellten Sachverständigen ein Termin anberaumt worden, die Unfallbeteiligten waren aufgefordert worden, mit ihren Fahrzeugen zu erscheinen. Der Verteidiger erhielt nur eine Terminsmitteilung. Er nahm aber an dem Termin teil und rechnete dann nach Einstellung des Verfahrens gegenüber der Staatskasse auch eine Vernehmungsterminsgebühr Nr. 4102 VV RVG ab. So ist/war der Sachverhalt des AG Oschatz, Beschl. v. 04.04.2012, 1 Ds 253 Js 25756/11.

Der Rechtspfleger hatte weder die Nr. 4102 VV RVG festgesetzt noch die Teilnahme am Termin über § 14 RVG bei der Verfahrensgebühr berücksichtigt. Ersteres ist/war m.E. richtig, das letztere falsch. Die Kommentatoren zu meinem Posting haben es zum Teil anders gesehen (vgl. hier).

Nun liegt die Rechtsmittelentscheidung des AG vor. Der AG Oschatz, Beschl. v. 08.05.2012 – 1 Ds 253 Js 25756/11 – setzt die Gebühr Nr. 4102 VV RVG fest. Nach Auffassung des Amtsrichters kann die Vorschrift analog angewendet werden. M.E. falsch, wenn auch anwaltsfreundlich. Jedenfalls aber insoweit richtig, dass, um die Überschrift des Postings vom 24.04.2012 aufzugreifen: Der Rechtspfleger bestimmt dann doch nicht, an welchem Termin der Verteidiger teilnehmen darf.