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Haft I: Haftgrund der sog. Schwerkriminalität, oder: Analoge Anwendung ist „dünnes Eis“

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Nach dem „Strafvollzugstag“ gestern dann heute ein Haft-Tag, also Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 20.06.2023 – 4 Ws 88/23. Das OLG hat Stellung genommen zur Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 2 StPo – Haftgrund der sog. Schwerkriminalität.

Die StA wirft dem Angeschuldigten vor, seine Stieftochter in der Zeit von 2012 bis 2017 sexuell missbraucht zu haben. Im Einzelnen wirft sie ihm neun Fälle schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StGB a.F. sowie einen Fall des sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 3 StGB a.F. vor.

Deswegen hat die StA den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten unter Berufung auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO beantragt. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die in der Anklageschrift aufgeführten Straftatbestände seien in § 112 Abs. 3 StPO nicht ausdrücklich benannt, so dass diese Norm keine Anwendung finde. Im Übrigen lägen weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr vor. Wegen der Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.

Dagegen die Beschwerde der StA, die keinen Erfolg hatte.

Zur Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO führt das OLG aus:

„Entgegen der Ansicht des Landgerichts findet § 112 Abs. 3 StPO auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. – analoge – Anwendung. Zutreffend ist zwar, dass § 112 Abs. 3 StPO grundsätzlich nur auf die Normen Anwendung findet, die enumerativ in § 112 Abs. 3 StPO aufgezählt werden (vgl. Böhm in MüKOStPO, 2. Aufl. 2023, StPO, § 112, Rn. 88; Graf in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 112, Rn. 41), wozu § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. nicht zählt. Insoweit ist die Regelung des § 112 Abs. 3 StPO aber analog anzuwenden.

Die Gesetzesbegründung steht dem nicht entgegen. Ein Wille des Gesetzgebers, Straftaten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder am 1. Juli 2021 begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich auszuschließen, ist nicht ersichtlich.

Ausweislich des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung vom 21. Oktober 2020 sollte in Fällen schwerer sexualisierter Gewalt gegen Kinder die Anordnung der Untersuchungshaft erleichtert werden (Seite 2 des Gesetzesentwurfes). Durch die Aufnahme des mit der Regelung des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. wortgleichen § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. in den Katalog des Untersuchungshaftgrundes der Schwerkriminalität in § 112 Absatz 3 StPO soll die hohe Bedeutung des geschützten Rechtsgutes zum Ausdruck gebracht werde (Seite 54 des Gesetzesentwurfes). Dass der Gesetzgeber sog. Altfälle anders bewerten wollte, ist nicht ersichtlich und erscheint dem Senat abwegig. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Aufnahme des dem § 176c Abs. 1 Nr. 2a) StGB n.F. entsprechenden § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. übersehen hat. Es liegt damit eine planwidrige Regelungslücke vor und eine Analogie ist aufgrund der Gleichheit des gesetzlich nicht geregelten Falls mit dem gesetzlich geregelten Fall geboten. Aufgrund des identischen Regelungsgehalts dieser beiden Normen kann der Bedeutung des geschützten Rechtsguts nur Rechnung getragen werden, wenn auch die Taten erfasst werden, die längere Zeit zurückliegen. Das Analogieverbot des § 103 Abs. 2 GG steht dem nicht entgegen, da dieses nicht auf das Strafverfahrensrecht Anwendung findet (vgl. BGH, Beschl. v . 25. November 2006 – 1 BGs 184/2006).“

Ich habe Bedenken, ob das richtig ist. Der § 112 Abs. 3 StPO ist ja schon eine Art Ausnahmevorschrift. Und die wendet man analog an? Und das bei einem Haftgrund (!!)?

Aber: Die Anwendung hat hier nichts gebracht, denn:

„Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO sind vorliegend jedoch nicht erfüllt. Der Haftgrund der Schwerkriminalität ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass nach den Umständes des Falles die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr nicht auszuschließen sein darf oder die ernstliche Befürchtung besteht, dass der Beschuldigte weitere Straftaten ähnlicher Art begehen werde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.). Es müssen auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnten. Der zwar nicht mit „bestimmten Tatsachen” belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen. (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65 in BVerfGE 19, 342 ff.).

Zutreffend hat das Landgericht einen solchen Verdacht vorliegend verneint. Zwar hat der Angeschuldigte mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Allerdings hat der Angeschuldigte – wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat – bisher keinerlei Fluchttendenzen gezeigt. Unter dem 4. Mai 2023 ist dem Angeschuldigten die Anklageschrift zugestellt worden; dennoch ist nicht bekannt, dass er nunmehr Tendenzen in diese Richtung gezeigt hätte. Dies trotz des Umstandes, dass er, wie sich aus dem durch die Polizei ausgewerteten Chat zwischen ihm und seiner Ehefrau ergibt, eine realistische Straferwartung hat. In diesem Chat hat der Angeschuldigte geäußert, er werde „bestimmt 5-10 Jahre eingesperrt“ werden.

Auch ist vorliegend ein Verdunkelungsverdacht nicht gegeben…..“

Und da frage ich mich natürlich: Warum entscheidet man die Frage der analogen Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO, wenn es darauf dann letztlich nicht ankommt. Dann kann man die Frage auch offen lassen, bevor man sich auf „dünnes Eis“ begibt.

U-Haft: Haftgrund „Wiederholungsgefahr“, oder: Wenn die „einschlägige Tat“ mehr als 5 Jahre zurückliegt

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Die 31. KW des Jahres 2021 beginne ich mit zwei Entscheidungen zum Ermittlungsverfahren.

Als erste Entscheidung stelle ich den LG Halle, Beschl. v. 11.06.2021 – 3 Qs 58/21– vor. Das LG nimmt in einem Verfahren wegen eines BtM-Verstoßes zu den Haftgründen Stellung. Das AG war zunächstvon Flucht- und Wiederholungsgefahr ausgegangen, dann im Haftprüfungstermin aber nur noch von Widerholungsgefahr. Das LG hat auf die Haftbeschwerde des Kollegen Funck, der mir den Beschluss geschickt hat, den Haftbefehl aufgehoben:

„Die Kammer geht zunächst wie das Amtsgericht davon aus, dass keine Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht. Der Beschuldigte hat einen festen Wohnsitz, eine Arbeitsstelle und lebt zwar von der Mutter seines Kindes getrennt, praktiziert aber das Wechselmodell, bei dem das Kind in jeder zweiten Woche bei ihm wohnt, Zwar hat der Beschuldigte aufgrund seiner auch einschlägigen Vorstrafen und seines Bewährungsversagens bei einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe sicherlich eine unbedingte Freiheitsstrafe zu erwarten. Diese dürfte sich aber, da der Beschuldigte zum ersten Mal wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (die frühere Verurteilung bezog sich lediglich auf den unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) aufgefallen ist und es sich um die weiche Droge Marihuana handelt, bei der hier festgestellten etwa 18-fachen Überschreitung des Grenzwertes zur nicht geringen Menge dennoch noch im unteren Bereich des Strafrahmens bewegen. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch unter Berücksichtigung des drohenden Bewährungswiderrufs, der eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten betrifft, die familiären und sozialen Bindungen des Beschuldigten ausreichend, um dem sich aus der Straferwartung ergebenden Fluchtanreiz entgegenzuwirken.

Die Kammer hält aber auch den Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht für gegeben. Dringenden Tatverdacht unterstellt, wäre der Beschuldigte dringend verdächtig, wiederholt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Tat nach § 29a Abs. 1 BtMG begangen zu haben, wobei sich die wiederholte Tatbegehung aus dem Urteil des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 15. 06. 2018 ergibt, mit dem der Beschuldigte wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt wurde, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Jedoch sind für die Kammer keine bestimmten Tatsachen ersichtlich, die die Gefahr begründen, dass der Beschuldigte vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werde. Die dem Urteil vom 15. 06. 2018 zu Grunde liegende Tat wurde am 31. 08. 2016 begangen, liegt also fast fünf Jahre zurück. Mit einem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, wie es ihm hier vorgeworfen wird, ist der Beschuldigte noch nie aufgefallen. Seit der Verurteilung vom 15. 06. 2018 ist er strafrechtlich nicht mehr anderweitig in Erscheinung getreten. Eine so starke Innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten, die die Besorgnis begründen könnte, er werde die Serie gleichartiger Straftaten noch vor der Verurteilung wegen der Anlasstat fortsetzen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 112a Rn. 14) vermag die Kammer bei dem Beschuldigten bei der gebotenen engen Auslegung des § 112a StPO (vgl. Böhm in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage, § 112a Rn. 14) vor diesem Hintergrund nicht zu erkennen.

Soweit der Beschuldigte vom Amtsgericht Halle (Saale) am 08. 04. 2010 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und diverser anderer Straftaten verurteilt wurde, kann dies zur Begründung der Wiederholungsgefahr nicht herangezogen werden, da sich daraus nicht ergibt, dass es sich bei dem (bloßen) Besitz von Betäubungsmitteln um eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat handelt und die Tat im Übrigen mittlerweile mindestens zwölfeinhalb Jahre zurückliegt. Weitere Straftaten nach dem BtMG sind nicht aktenkundig.“

U-Haft II: Haftgrund Wiederholungsgefahr, oder: Welcher Vermögensschaden muss angerichtet sein?

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Die zweite „Haftentscheidung“ kommt mit dem OLG Celle, Beschl. v. 14.02.2020 – 2 Ws 49/20 – vom OLG Celle. Das positioniert sich hinsichtlich des Haftgrundes der so. Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO)  in der Frage, ab wann bei Vermögensserienstraftaten von einer „die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Straftat“ auszugehen ist. Die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur ja nicht unstrittig.

Hier wird dem Angeschuldigten

„zur Last gelegt, zwischen dem 09.01. und dem 26.09.2019 (richtigerweise dem 23.09.2019) über die Internetverkaufsplattform eBay-Kleinanzeigen Waren aus dem Bereich der Unterhaltungs- und Mobilfunkelektronik angeboten und bundesweit an Erwerber veräußert zu haben, obwohl er weder willens noch in der Lage gewesen sei, die Waren zu liefern. Den vereinbarten Kaufpreis habe er sich von den Geschädigten jeweils direkt auf eines seiner zahlreichen Konten überweisen lassen, nur in einem Fall sei es zu einer Zahlung über den Dienstleister PayPal gekommen. Eine Lieferung des Kaufgegenstands sei in keinem der angeklagten 13 Fällen erfolgt, vielmehr habe er auf Nachfragen der Erwerber überhaupt nicht reagiert oder diese durch Ausreden vertröstet. Der Angeschuldigte habe gehandelt, um sich eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und von einigem Umfang zu sichern.

Die Schadenssummen reichen von 50,- € bis 375,- €, der Gesamtschaden beläuft sich auf 2.695,- €.“

Das OLG bejaht mit dem LG die Voraussetzungen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO und begründet das recht umfangreich unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien. Es hat seiner Entscheidung folgenden Leitsatz gegeben – Rest bitte selbst lesen:

„Auch Betrugsserienstraftaten mit Einzelschäden von deutlich unter 2.000,- € können nach den Umständen des Einzelfalls als die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftaten gelten und dadurch den Haftgrund der Wiederholunsggefahr begründen. Als Umstände des Einzelfalls können neben der Schadenshöhe insbesondere auch die Beweggründe und Ziele des Täters, die aus der Tat sprechende Gesinnung und der bei ihr aufgewendete Wille, die Art der Ausführung und die weiteren Auswirkungen der Tat, ferner das Vorleben des Täters und sein Nachtatverhalten herangezogen werden.“

U-Haft I: Keine U-Haft im „Augsburger Königsplatz-Fall“, oder: Deutliche Worte vom BVerfG

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An sich hatte ich heute einen OWi-Tag vorgesehen. Aber ich habe mich umentschieden und bringe drei Entscheidungen zur U-Haft.

An der Spitze der BVerfG, Beschl. v. 09.03.2020 – 2 BvR 103/20. Der ist im sog. Augsburger Königsplatzfall ergangen. In dem wird u.a. gegen den 17-jährigen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung geführt. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen „als Teil einer Gruppe von sieben Personen am 6. Dezember 2019 gegen 22.40 Uhr im Bereich des Königsplatzes in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden Geschädigten S. und M. getroffen zu sein. Der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten hätten bereits seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte gepflegt und sich als Ausdruck der Zusammengehörigkeit gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Geschädigten S. und einer oder mehrerer Personen aus der Gruppe entwickelt habe, hätten der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten den Geschädigten S. umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle Beschuldigten seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, den Geschädigten S. entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen, sei es verbal, körperlich oder auch durch schiere physische Präsenz und Demonstration der Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem allein in ihrer Mitte stehenden Geschädigten S. Auf diese Weise hätten der Zusammenhalt und die zahlenmäßige Überlegenheit der Gruppe jedem der Beschuldigten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die übrigen Gruppenmitglieder angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.2

Das AG Augsburg hatte gegen den Beschuldigten U-Haft angeordnet, die dagegen gerichtete Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte beim LG Erfolg, das LG hat den dringenden Tatverdacht verneint. Dagegen dann die weitere Beschwerde der StA, die dazu geführt hat, dass das OLG den Haftbefehl wieder erlassen hat. Und dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die zur Aufhebung des Haftbefehls und zur Zurückverweisung der Sache an das OLG geführt hat.

Das BVerfG führt – nachdem es zu den Grundsätzen betreffend Haftentscheidungen „referiert“ hat – zur Sache aus:

Wiederholungsgefahr als Haftgrund, oder: Wann reichen Betrugstaten aus?

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Zum Tagesschluss dann noch eine haftrechtliche Entscheidung. Das OLG Hamburg nimmt in dem OLG Hamburg, Beschl. v. 20.07.2017 – 2 Ws 110/17, den mir der Kollege Diedrich aus Hamburg übersandt hat – besten Dank – im Verfahren der „Sechs-Monats-Prüfung“ nach §§ 121, 122 StPO zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) Stellung. Grundlage des Haftbefehls waren zwei Betrugstaten, und zwar einmal Anmietung eines Pkw und zum anderen Buchung einer Reise. Dem OLG reichen diese Taten nicht zur Begründung der Wiederholungsgefahr aus:

„Bei den Anlasstaten muss es sich ferner — in jedem Einzelfall (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn. 9 m,w.N.) — um die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Taten handeln. An Anordnung und Vollzug der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr sind im Hinblick auf ihren Charakter als präventive Sicherungshaft aus verfassungsrechtlichen Gründen strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfGE 35, 185; KG NStZ-RR 2015, 115). Den Anlasstaten muss überdurchschnittlicher Unrechtsgehalt und Schweregrad zukommen (vgl. OLG Frankfurt StV 2016, 816; Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn 9), wobei zur Bestimmung des Gewichts der Tat Begleitumstände wie Beweggründe, Art der Tatausführung, Auswirkungen der Tat, Vorleben und Nachtatverhalten herangezogen werden können (OLG Hamm NStZ-RR 2015, 115). Die Anlasstaten müssen auch geeignet sein, in weiten Kreisen das „Gefühl der Geborgenheit im Recht“ zu beeinträchtigen (Senat, Beschl. v. 24. Januar 2014 (Az.: 2 10/14); KG NStZ-RR 2015, 115).

Besonderes Gewicht kommt dem Erfordernis einer die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Tat zu, soweit als Anlasstaten Betrugstaten nach § 263 StGB in Rede stehen, da der Gesetzgeber den Betrug nach § 263 StGB — anders als den Diebstahl nach § 242 StGB oder die (einfache) Körperverletzung nach § 223 StGB — bereits im Grundtatbestand und damit ohne Differenzierung nach der Schwere der Tat in den Katalog des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO aufgenommen hat. Die Stellungnahme der Bundesregierung zur Einführung des § 112a StPO lässt erkennen, dass insoweit eine vorsichtige Anwendung des Haftgrundes befürwortet wurde: „ . zeigt, daß sich die Wiederholungsgefahr auf Eigentums- und Vermögensdelikte konzentriert. Gerade bei diesen Delikten ist aber geboten, soweit nicht erschwerende Umstände wie Gewaltanwendung und der gleichen hinzukommen, die aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderliche Zurückhaltung zu üben.“ (BT-Drs. 11/3248, BI. 7).

Betrugstaten sind nur dann geeignete Anlasstaten, wenn sie in ihrem konkreten Schweregrad nach Art und Ausführung sowie Umfang des Schadens mindestens etwa einem besonders schweren Fall des Diebstahls nach § 243 StGB entsprechen (vgl. KG NStZ-RR 2015, 1 15; OLG Hamm, Beschl. v. 1. April 2010, Az.: 3 Ws 161/10; OLG Thüringen, Beschl. v. 23. Januar 2008, Az.: 1 Ws 29/08 (juris); Meyer-Goßner/Schmitt § 112a Rn. 7; KK-Graf § 112a Rn. 10; HK-Posthoff § 112a Rn. 7). Durch Betrugstaten verursachte Vermögensschäden unterhalb eines Betrages von etwa 2000 EUR werden in aller Regel den erforderlichen Schweregrad nicht begründen (vgl. OLG Naumburg, NStZ-RR 2013, 49; OLG Hamm StV 2011, 291; MüK0-StPO/Böhm § 112a Rn. 28; § 112a Rn. 14a).“

Ergebnis: Aufhebung des Haftbefehls.