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Zwang I: Invollzugsetzung eines BtM-Haftbefehls, oder: Verletzung des Beschleunigungsgebots

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Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun.

Den Opener mache ich mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 Ws 11/25 – zur Invollzugsetzung eines Haftbefehls.

Gegen die Angeklagten ist ein Verfahrens wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 anhängig. In dem waren Haftbefehle jeweils wegen Fluchtgefahr ergangen. Die Angeklagten befanden sich seit dem 25.01.2022 in Untersuchungshaft. Das OLG hat denn Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das LG zunächst die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann am 17.10.2022. Am 25.01.2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das LG das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, ebenfalls wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das LG hat mit Beschluss vom 21.11.2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des AG  abgelehnt. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte. Das OLG bejaht die allgemeinen Voraussetzungen der U-Haft und führt dann aus:

„b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg – wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.“

EV III: Mal wieder Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Anwendbar auch beim Heranwachsenden

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Und dann zum Tagesschluss noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 12.10.2023 – 2 Ws 142/23 -, der sich mit der Frage der Anwendbarkeit des Haftgrundes der Widerholungsgefahr (§ 112a StPO)  im JGG-Verfahren befasst.

Das OLG hat die Anwendbarkeit bejaht:

„2. Aus den zutreffenden und fortdauernden Gründen des Haftbefehls besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO).

Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, fortgesetzt schwerwiegende räuberische Erpressungen begangen zu haben. Neben den dem Haftbefehl zugrunde liegenden Vorwürfen soll er ausweislich des Schlussberichts vom 29. September 2023 in vorliegendem Ermittlungsverfahren eine Vielzahl weiterer gleichartiger Delikte begangen haben und es wurden darüber hinaus bereits mehrere Strafverfahren wegen derartiger Taten gegen ihn geführt. Wegen der großen Anzahl der Tatvorwürfe und der besonders hohen Rückfallgeschwindigkeit, die auch durch zwischenzeitliche Ermittlungsverfahren ersichtlich nicht verringert werden konnte, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er sich von den gegen ihn geführten Ermittlungen und Strafverfahren nicht von weiteren Erpressungen abhalten lassen, sondern vor rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens weitere derartige Straftaten begehen wird.

Entgegen der von der Verteidigung vertretenen Auffassung ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Beschuldigte zur Tatzeit Heranwachsender war und insoweit möglicherweise nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe, sondern – jedenfalls wegen schädlicher Neigungen – aufgrund des Ausmaßes der Tatvorwürfe die Verurteilung zu einer unbedingten, ein Jahr weit übersteigenden Jugendstrafe zu erwarten ist. Entgegen der von der Verteidigung vertretenen Auffassung ist § 112 a StPO auch im Jugendstrafrecht anwendbar (vgl. OLG Hamburg, Beschl. v. 2. März 2017 – 1 Ws 14/17; KG, Beschl. v. 28. Februar 2012 – 4 Ws 18/12, zit. nach Juris mwN.). Auch der Umstand der erst nach Inhaftierung des Beschuldigten unterrichteten Jugendgerichtshilfe steht der Untersuchungshaft nicht entgegen. Möglichkeiten zur Haftvermeidung sind seitens des Jugendamtes verneint worden.“

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch dem OLG nicht

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Ich hatte im September über den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392/23 – berichtet (vgl. hier Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht). Dazu liegt jetzt die Beschwerdeentscheidung vor. Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2023 – 1 Ws 233/23 – die Beschwerde der StA gegen die Aufhebung des haftbefehls verworfen:

„Gemäß § 112 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO darf gegen den Angeschuldigten Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn er dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechts-ordnung schwerwiegend beeinträchtigende dem Katalog zu entnehmende Straftat begangen zu haben und bestimmte Tatsachen, die Gefahr begründen, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen werde. Gleichzeitig muss die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich und eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein.

Die Kammer hat in ihrer Begründung ausgeführt, dass es bereits an einer Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO fehlen dürfte, da § 30 a Abs. 2 BtMG in der abschließenden Aufzählung des Katalogs nicht aufgeführt sei und sich eine Analogie verbiete. Hiergegen hat die Staatsanwaltschaft unter Benennung der Bundestagsdrucksachen 459/03 vom 2. Juli 2023 und 24/11 vom 18. Januar 2011 eingewandt, dass die Berichtigung der Zitierweise bzw. die Berichtigung eines redaktionellen Versehens bezüglich § 30 a Abs. 2 BtMG bereits angestrebt wurde und vor dem Hintergrund der nachträglichen Einführung und des Wortlautes „ebenso bestraft“ eine Gleichstellung mit § 30 a Abs. 1 BtMG anzunehmen sei.

Ob eine entsprechende Anwendung des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO überhaupt in Betracht käme und der Straftatbestand des § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG bei entsprechender Anwendung eine Katalogtat im Sinne des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO darstelle, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da jedenfalls, was die Kammer auch erkannt hat, das Grunddelikt des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG im dringenden Tatverdacht impliziert ist.

Der Haftbefehl war allerdings aufzuheben, weil die hier wiederholt begangenen Anlasstaten entgegen der Ausführungen der Staatsanwaltschaft zu keiner schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung geführt haben. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung liegt dann vor, wenn die Anlasstat einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt auf-weist (OLG Hamm, Beschluss vom 1. April 2010 Az.: 3 Ws 161/10) und dadurch geeignet ist, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in Sicherheit und Rechtsfrieden zu beeinträchtigen (OLG Hamm, Beschluss vom 25. Februar 2010 – III-2 Ws 18/10). Es muss sich daher um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat (BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 Az.: 2 BvL 4/73). Daher kann nicht ausschließlich auf die Straferwartung, welche bei den Katalogtaten des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO bereits die generelle schwerwiegende Natur begründet, abgestellt werden. Vielmehr sind auch die Umstände der Tat im Einzelfall heranzuziehen. Der Haftgrund der Wiederholungs-gefahr dient nicht Sicherung des Strafverfahrens, sondern dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, weswegen das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit dem Freiheitsanspruch des bislang nur Angeschuldigten überwiegen muss.

Dem Angeschuldigten wird mit der vorliegenden Anklage zum einen vorgeworfen, im Schlafzimmer seiner Wohnung in Kiel am 13. Juli 2023 insgesamt 8,21 g Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu den Betäubungsmitteln ein Klappmesser -im Fernseher-regal-, eine Machete -auf dem Kleiderschrank- und ein Baseballschläger -zwischen Kleiderschrank und Regal, in dem ein Großteil des Kokains festgestellt werden konnte -vorgehalten zu haben. Des Weiteren wird dem Angeschuldigten vorgeworfen, am 2. Juli 2023 einem Abnehmer 0,5 g Kokain verbindlich zum Kauf angeboten und am 5. Juli 2023 Verkaufsverhandlungen über den Erwerb von 100 g Marihuana zum Zweck des Weiterverkaufs geführt zu haben. Die Geschäftsanbahnungen sind jeweils über Chat erfolgt. Jede dieser Taten und insbesondere die Tat am 13. Juli 2023 hat nach außen hin keine Wirkung auf die Bevölkerung entfaltet. Es ist durch sie auch kein Schaden angerichtet worden, der nach Art und Umfang geeignet wäre, in weiten Kreisen der Bevölkerung das Vertrauen in die Sicherheit und den Rechtsfrieden zu beeinträchtigen. Auch, dass der Angeschuldigte bei Tatbegehung wegen einer gleichartigen Tat unter laufender Bewährung stand, vermag daran nichts zu ändern.

Andere Haftgründe sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.“

Haft I: Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Exhibitionistische Handlungen vor Kindern

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute dann Haftentscheidungen.

Ich starte mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 18.04.2023 – 1 Ws 209/23, der leider erst jetzt übersandt worden ist. In der Entscheidung nimmt das OLG zu den Voraussetzungen für den Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach Vornahme exhibitionistischer Handlungen vor Kindern Stellung. Dazu gibt es bereits OLG-Rechtsprechung, das OLG Bamberg sieht es ein wenig anders als die bisher vorliegenden Entscheidungen:

„2. Bei dem Beschuldigten besteht auch nach Auffassung des Senats der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO.

a) Nach § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO besteht dieser Haftgrund, wenn neben dem dringenden Tatverdacht einer der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO genannten Katalogtaten bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass ein Beschuldigter vor rechtskräftiger Aburteilung weitere Straftaten der in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO bezeichneten Art begehen oder solche Straftaten fortsetzen werde und die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich ist. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 StPO im Sinne einer hohen Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, welche kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme präventiv-polizeilicher Natur zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten des Beschuldigten darstellt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfGE 19, 342; 35, 185). Aus verfassungsrechtlichen Gründen sind aber an die Wiederholungsgefahr strenge Anforderungen zu stellen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Vorstrafen des Beschuldigten, die Abstände zwischen den Straftaten, die äußeren Umstände, in denen er sich bei Begehung der Taten befunden hat, seine Persönlichkeitsstruktur und sein soziales Umfeld (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 112a Rn.13 f. m.w.N.). Die insoweit festzustellenden bestimmten Tatsachen müssen eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die Besorgnis begründet ist, er werde weitere gleichartige Taten wie die Anlasstaten vor seiner Verurteilung wegen der Anlasstaten begehen (KK-StPO/Graf112a Rn. 19).

b) Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Zur Begründung nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Gründe des Haftbefehls des Amtsgerichts vom 26.01.2023, dessen Nichtabhilfeentscheidung mit Beschluss vom 23.02.2023 sowie die Gründe der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts vom 08.03.2023 und dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 28.03.2023 und schließlich auch auf die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg in ihrer Zuschrift vom 03.04.2023. Die Ausführungen der Verteidigung in den Schriftsätzen vom 16.02.2023, 28.02.2023, 16.03.2023 und 11.04.2023 rechtfertigen auch nach Ansicht des Senats keine andere Entscheidung.

Zu Recht haben die Vorinstanzen auf die Vorahndungen des Beschuldigten wegen einer exhibitionistischen Tat am 27.03.2022 und wegen einer exhibitionistischen Tat am 24.04.2022 sowie auf eine weitere exhibitionistische Tat am 10.11.2022 in der […] Therme in S abgestellt. Zur Überzeugung des Senats ist der Beschuldigte aufgrund der polizeilichen Ermittlungen dringend verdächtig, am 10.11.2022 in der […] Therme, nachdem er Blickkontakt mit einer Besucherin aufgenommen hatte, in einer Entfernung ca. 2 m gezielt an seinem entblößten Glied manipuliert zu haben.

Dagegen kann den weiteren im Aktenvermerk des KHK vom 18.01.2023 geschilderten Tatvorwürfen vom 13.10.2022 und 07.11.2022 – jedenfalls derzeit – keine indizielle Bedeutung beigemessen werden, weil die knappen Tatschilderungen keinen Rückschluss auf das Vorhandensein eines dringenden Tatverdachts und damit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Wiederholung der Anlasstaten erlauben.

Bei den Taten vom 27.03.2022, 24.04.2022 und 10.11.2022 handelt es sich zwar jeweils um exhibitionistische Handlungen i.S.v. § 183 StGB und damit nicht um Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, so dass aus ihnen allein nicht ohne Weiteres Rückschlüsse auf die erforderliche starke Neigung gezogen werden können. Sie erlauben aber Rückschlüsse auf die Entwicklung des Beschuldigten im Jahr 2022, die in dem dringenden Tatverdacht der Anlasstaten gemäß § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB am 21.12.2022 gipfelten. Aus dieser Entwicklung und den Anlasstaten vom 21.12.2022, Katalogtaten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO, ergibt sich jedoch zur Überzeugung des Senats die Gefahr, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Taten gegenüber Kindern nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB begehen wird. Denn bereits die erstmalige bzw. sogar einmalige Begehung einer Sexualtat und insbesondere einer Katalogtat deutet bei einem erwachsenen Täter auf einen Persönlichkeitsdefekt hin, der künftige Verfehlungen ähnlicher Art befürchten lässt (KK-StPO/Graf a.a.O. Rn. 7; MüKoStPO/Böhm 2. Aufl. 2023 § 112a Rn. 48).

Dabei ist sich der Senat bewusst, dass dieser Schluss nicht zwingend ist und die Wiederholungsgefahr durch die einmalige Verwirklichung einer Katalogtat nicht immer automatisch indiziert wird, sondern durch hinzutreten weiterer Umstände relativiert sein kann (vgl. z.B. OLG Koblenz BeckRS 2014, 11571; OLG Jena BeckRS 2015, 113; BeckOK-StPO/Krauß [46. Ed., Stand: 01.01.2023] § 112a Rn. 13 m.w.N.). Solche Umstände sind hier nicht ersichtlich. Im Gegenteil deutet die Entwicklung des Beschuldigten im Bereich der Sexualdelikte gerade darauf hin, dass beim ihm ein entsprechender Persönlichkeitsdefekt vorliegt. Zwar ist dem Beschuldigten angesichts der bestehenden Ungenauigkeiten hinsichtlich der Tatörtlichkeit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass er sich bewusst in unmittelbarer Nähe der Schule aufgestellt hat, um die Begegnung mit den Kindern sicherzustellen. Zutreffend hat das Landgericht allerdings darauf hingewiesen, dass die Anlasstaten sich nicht lediglich als zufälliges Ereignis darstellten, zumal der Beschuldigte nach dem Erkennen der Kinder bewusst die Autotür geöffnet und an seinem entblößten Glied manipuliert hat. Selbst wenn das Zusammentreffen mit den Kindern zufallsbedingt erfolgt sein sollte, hat der Beschuldigte gerade durch die Anlasstaten gezeigt, dass sich seine innere Neigung jedenfalls nunmehr auch auf Kinder bezieht. Hinzu kommt, dass auch der Gesetzgeber bei Einführung der Verschärfungen im Sexualstrafrecht davon ausgegangen ist, dass bereits die erstmalige Verwirklichung dieser Delikte aufgrund der damit zum Ausdruck kommenden Persönlichkeitsdisposition der Täter geeignet ist, die hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Wiederholung und Fortsetzung zu bedingen (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52d).

Nach alledem drohen von Seiten des Beschuldigten nach Auffassung des Senats jedenfalls weitere Straftaten nach § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB und damit gleichartige Taten i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO.

c) Diese drohenden Straftaten sind auch erheblich i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO. Zutreffend ist, dass bei Sexualstraftaten der Begriff der erheblichen Straftat und damit der erforderliche Schweregrad über die für den Begriff der sexuellen Handlungen nach § 184h Nr. 2 StGB vorausgesetzte Erheblichkeit hinausgeht. Nach allgemeinen Grundsätzen liegt eine Straftat von erheblicher Bedeutung vor, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, sind daher nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zuzurechnen (MüKoStPO/Böhma.O. § 112a Rn. 52a; KK-StPO/Graf a.a.O. § 112a Rn. 18). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Aufgrund der Neufassung des § 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB sind die dort geschilderten Handlungen mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren strafbewehrt und damit im Gegensatz zu der früheren Regelung in § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) mit einer Strafdrohung von drei Monaten bis zu fünf Jahren nunmehr ohne weiteres als erhebliche Straftaten anzusehen, ohne dass es einer weiteren Begründung bedarf. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage bedarf es einer näheren Begründung nunmehr dann, wenn das Merkmal der Erheblichkeit ausnahmsweise entfällt (MüKoStPO/Böhm a.a.O. § 112a Rn. 52e und 52f).

d) Vor diesem Hintergrund geht der Hinweis der Verteidigung auf die Entscheidung des OLG Karlsruhe (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 21.01.2020 – 2 Ws 1/20 = BeckRS 2020, 1561) fehl. Die Entscheidung des OLG Karlsruhe und vergleichbare Entscheidungen weiterer Gerichte (vgl. z.B. OLG Bremen, Beschl. v. 11.5.2020 – 1 Ws 44/20 = BeckRS 2020, 12058; BGH, Urt. v. 10.01.2019 – 1 StR 463/18 = BeckRS 2019, 2164), die zu der Erkenntnis gelangten, dass exhibitionistische Handlungen vor Kindern nicht stets als erhebliche Straftaten anzusehen seien, ergingen zu § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB (a.F.) und waren ersichtlich dadurch geprägt, dass diese Straftaten aufgrund der geringeren Strafdrohung nicht ohne nähere Begründung als Straftaten der mittleren Kriminalität angesehen werden konnten. Soweit das OLG Karlsruhe (a.a.O.) und ihm folgend das OLG Bremen auf die vorgenannte Entscheidung des BGH (a.a.O.) Bezug nehmen, vermag der Hinweis auch deshalb nicht zu überzeugen, weil es bei der Entscheidung des BGH nicht um die Beurteilung der Wiederholungsgefahr i.S.v. § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO ging, sondern um eine Unterbringung nach § 63 StGB und die Frage, ob vom Täter erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Auch wenn dort regelmäßig Taten gefordert werden, die mindestens in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinragen, müssen angesichts des äußerst belastenden Charakters der Maßregel nach § 63 StGB Taten drohen, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (Fischera.O. § 63 Rn. 26, 27). Eine solche Situation ist aber bei der Beurteilung der Frage der Erheblichkeit nach § 112a StPO nicht gegeben. Insbesondere ist bei der Prüfung des § 112a Satz 1 Nr. 1 StPO weder bei der Prüfung der Anlasstaten noch bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr gerade nicht erforderlich, dass eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat vorliegt bzw. droht.

Auch der Hinweis auf § 183 Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2 StGB führt jedenfalls derzeit nicht weiter. Zwar ermöglicht diese Vorschrift eine Strafaussetzung zur Bewährung auch bei einer ungünstigen Prognose und damit bei Wiederholungsgefahr. Voraussetzung dafür ist aber, dass nach einer Heilbehandlung (ggf. auch erst nach längerer Zeit) ein Behandlungserfolg erwartet werden kann. Diese Beurteilung kann regelmäßig erst im Rahmen der Hauptverhandlung nach Durchführung der Beweisaufnahme unter Beteiligung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 2 StPO erfolgen. Der geltend gemachte Wertungswiderspruch käme allenfalls in Betracht, wenn die Voraussetzungen einer Bewährungsaussetzung bereits jetzt vorliegen würden. Dies ist allerdings nicht der Fall.

e) Mit zutreffenden Erwägungen, denen sich der Senat anschließt, ist das Landgericht auch zu dem Ergebnis gelangt, dass vorliegend das Merkmal der Erheblichkeit nicht ausnahmsweise entfällt. Weder ist von einer besonders geringen Intensität künftiger Übergriffe auszugehen noch sind sonstige besondere Umstände ersichtlich. Das Verhalten des Beschuldigten geht auch nach Auffassung des Senats deutlich über das bloße kurze Herzeigen des entblößten Gliedes mit baldigem Entfernen des Täters hinaus. Auch ist das Verhalten nicht mit einem schlichten Onanieren bzw. der Vornahme von Manipulationen am entblößten Glied in Kenntnis des Umstandes, dass dies von einem Kind wahrgenommen wird, vergleichbar. Im Gegenteil, der Beschuldigte hat hier bewusst gewartet, bis die geschädigten Kinder in die Nähe seines Autos gekommen waren und hat diese dann durch das bewusste kurzfristige Öffnen der Fahrertür, in die für sie äußerst unangenehme Situation gebracht. Zu Recht haben sowohl das Amtsgericht als auch die Beschwerdekammer aus der Entwicklung der Sexualstraftaten, wegen denen der Beschuldigte bereits verurteilt wurde, und wegen des gezielten Vorgehens bei den Anlasstaten vom 21.12.2022 den Schluss gezogen, dass der Beschuldigte in Zukunft noch aktiver und mit ähnlichem Ansinnen (Frage nach Oralverkehr bzw. einem „Fick“) auf Kinder zugeht.

Unabhängig davon, dass im Fall des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO im Gegensatz zu den Fällen des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO eine konkrete Straferwartung keine Rolle spielt, ergeben sich weder hinsichtlich der Anlasstaten noch hinsichtlich der drohenden Taten Anhaltspunkte, dass das Verhalten eher im untersten Bereich des Strafrahmens anzusiedeln ist.“

Sorry für die Länge, aber die Bayern schreiben nun mal (immer) so viel. 🙂

Haft II: Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: 8,21 gr. Kokain reichen auch mit Waffen nicht

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Und dann als zweite Entscheidung noch einmal etwas zum Haftbefehl bei einem BtM-Delikt. es handelt sich um den LG Kiel, Beschl. v. 08.09.2023 – 7 KLs 593 Js 43392723. In dem Verfahren wirft die StA dem Angeschuldigten vor, am 13.07.2023 gegen 15:40 Uhr in seinem Zimmer in einer Wohnung in Kiel insgesamt 8,21 Gramm Kokain verwahrt zu haben und dabei griffbereit in unmittelbarer Nähe zu dem Betäubungsmittel ein Klappmesser, eine Machete und einen Baseballschläger vorgehalten zu haben. Bei dem in der Wohnung aufgefundenen Kokain ergab eine kriminaltechnische Untersuchung einen Wirkstoffgehalt von 92,1 %, sodass ein Nettowirkstoffgehalt von Kokain-Hydrochlorid in Höhe von 7,56 Gramm gegeben ist.

Deswegen ergeht Haftbefehl gegen den Angeschuldigten, und zwar auf der Grundlage des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO erlassen. Das LG hat auf die Beschwerde des Angeschuldigten aufgehoben:

„Nach Abwägung aller Gesichtspunkte durch die Kammer ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Kiel vom 14.07.2023 aufzuheben, da die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht gegeben sind.

Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG keine Katalogtat im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist. In § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO ist eine ab-schließende Aufzählung der in Betracht kommenden Anlasstaten enthalten.

Die Annahme eines redaktionellen Versehens des Gesetzgebers ist aus Sicht der Kammer fernliegend, da die Gesetzeshistorie des § 112a StPO, aber auch des § 112 StPO gegen die Annahme eines solchen redaktionellen Versehens sprechen. Der Gesetzgeber hatte zuletzt 2021 die Gelegenheit — bei Einführung des § 112 Abs. 3 StPO — ein etwaiges Redaktionsversehen zu berichtigen. Darüber hinaus gilt, dass die Annahme eines Redaktionsversehens umso fernliegender erscheint, je länger die Norm in Kraft ist. Bei einer Geltung von über 10 Jahren, ohne dass ein solches Redaktionsversehen überhaupt in der Literatur diskutiert worden ist, scheint die Annahme gerade mit Blick auf die verfassungsrechtlich gebotene enge Auslegung und restriktive Anwendung des § 112a StPO fernliegend (BVerfGE 19, 349). Im Übrigen zeigt auch die Quellenlage der einschlägigen Kommentarliteratur, dass dort keinerlei Nachweise sich finden lassen, dass der Gesetzgeber schlicht übersehen hätte, die Katalogtaten des § 112a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO entsprechend um § 30a Abs. 2 BtMG zu erweitern (vgl. MüKo/StP0-Böhm , 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 21ff. m.w.N.).

Im Übrigen bestehen gegen die Annahme eines reinen Redaktionsversehens und damit einer erweiternden Auslegung der Haftgründe verfassungsrechtliche Bedenken, da die Vorschrift des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dazu dient, präventiv die Wiederholung von Straftaten durch den Beschuldigten zu verhindern, sodass insofern von dem Gesetzgeber in § 112a Abs. 1 Nr. 2 schon nur solche Straftaten in den Katalog aufgenommen worden sind die nicht nur schwerwiegend, sondern auch eine gewisse Wiederholungsneigung haben. Damit stellt § 112a StPO als vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsgemeinschaft eine Ausnahme im System der StPO dar (MüKo/StP0-Böhm , 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 3). Demgemäß kommt vorliegend eine erweiternde Auslegung des Kataloges des § 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht in Betracht.

Die damit zugrundeliegende Tat nach § 29a Abs. 1 BtMG ist vorliegend jedoch nicht schwerwiegend im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Die Anlasstat muss eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Tat sein. Die Tat muss einen zumindest überdurchschnittlichen Schweregrad aufweisen, wobei insbesondere der Unrechtsgehalt der Tat zu würdigen ist. Dabei gilt, dass jede einzelne konkrete Tat nach ihrem Erscheinungsbild nicht nur den Katalogstraftatbestand verwirklichen muss, sondern auch schwerwiegend sein muss. Die Prüfung bezieht sich daher nicht auf das verwirklichte Gesamtunrecht, sondern muss bezüglich der jeweiligen Einzeltat vorliegen (OLG Frankfurt/M, StV 2000, 209). Das ist dann der Fall, wenn die Straferwartung und die Tat in ihrer Begehung zumindest der mittleren bis oberen Kriminalität zuzuordnen ist (M/G-Schmitt, 66. Aufl. 2023, § 112a Rn. 9).

Das ist vorliegend bei dem aufgefundenen Betäubungsmittel — 7,56 Gramm netto Kokain-Hydrochlorid — nicht der Fall. Insofern braucht die Frage nicht entschieden zu werden, ob bei der Haftprüfung auch der Aspekt der Waffen Berücksichtigung finden kann. Selbst wenn man unterstellt, dass die Waffen — etwa auf Ebene der Strafzumessung bei der Beurteilung der Tatmodalitäten — Berücksichtigung finden würden (vgl. OLG Hamm Beschluss vom 20.11.2012 — 1 Ws 604/12 = BeckRS 2012, 24189), wäre die Tat immer noch nicht im mittleren bis oberen Bereich der Kriminalität anzusiedeln, da nicht zu erwarten ist, dass hierdurch die Rechtsordnung erheblich beeinträchtigt wird. Insofern ist der Verteidigung zuzustimmen, wenn der Verteidiger ausführt, dass angesichts der aufgefundenen Menge im ehemaligen Kinderzimmer des Angeschuldigten die Rechtsgemeinschaft nicht maßgeblich in ihrem Gefühl und Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung verkürzt wird.

Der Umstand, dass der Angeschuldigte unter einschlägiger laufender Bewährung steht die gegebenenfalls bei einer Verurteilung widerrufen werden könnten, lässt nicht den Schluss zu, dass die Tat hierdurch schwerwiegend wird (MüKo/StP0-Böhm, 2. Aufl. 2023, § 112a Rn. 40, OLG Hamm StV 2011, 291). Mit Blick auf die gebotene enge Auslegung des § 112a StPO und die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Tat in ihrer konkreten Ausprägung zu bewerten, ist es vorliegend nicht zulässig, die drohende Verbüßung der zur Bewährung ausgesetzten Strafe heranzuziehen, um die schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung zu begründen. Selbst wenn man unterstellt, dass die laufenden Bewährungsstrafen widerrufen würden, wäre vorliegend unter Berücksichtigung des minder schweren Falles nach § 30a Abs. 3 BtMG und der nach der Rechtsprechung geltenden Sperrwirkung des § 29a BtMG, welche nur noch eine Strafrahmenuntergrenze nach unten bewirkt (BGH 3 Str 469/19) nicht zu erwarten, dass eine Strafe im mittleren bis oberen Bereich aus-geurteilt werden würde. Hiergegen spricht maßgeblich die aufgefundene Menge, die Abfüllung in Konsumeinheiten und die räumliche Situation des Fundortes in geordneten Wohnverhältnissen im ehemaligen Kinderzimmer des Angeschuldigten.

Die aufgeworfenen Verhältnismäßigkeitserwägungen tragen den Erlass eines Haftbefehls nach § 112a StPO nicht. Die Untersuchungshaft nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO dient präventiv der Verhinderung weiterer erheblicher Straftaten des Angeschuldigten. Insofern geht es — wie die Verteidigung zutreffend anmerkt — nicht um Verfahrens- oder Vollstreckungssicherung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Haftgrund nach § 112a StPO hätte erwogen werden müssen, ob die verhängte Untersuchungshaft zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis steht.“