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StPO I: Beschleunigungsgrundsatz bei U-Haft ??, oder: Kindeswohl versus Freiheitsrecht des Beschuldigten

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Und dann geht es in die 26. KW., und zwar mit zwei StPO-Entscheidungen. Die eine kommt vom OLG Schleswig, die andere vom LG Dresden.

Ich beginne mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 16.06.2025 – 1 Ws 5/25 H –, der sich zum Beschleunigungsgrundsatz äußert, und zwar bei der Durchführung einer vernehmungsersetzenden richterlichen Videovernehmung.

Ergangen ist der Beschluss im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 120, 121 StPO, also Sechs-Monats-Haftprüfung. Vorgeworfen wird dem Angeklagten u.a. sexzeller Missbrauch. Das OLG hat Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Das OLG führt zur Beschleunigung aus:

Das Verfahren ist durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht mit der in Haftsachen erforderlichen Beschleunigung geführt worden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass von dem Verfahren drei Kinder — nämlich auch noch der ältere Bruder der beiden Geschädigten — betroffen sind und die Ermittlungen entsprechend behutsam zu führen waren und sind.

Die den Umständen des jeweiligen Einzelfalls nach angemessene Dauer der Durchführung der vernehmungsersetzenden richterlichen Videovernehmung unter Wahrung der gesetzlich vorgesehenen Beteiligungsrechte (§§ 58a Abs. 1 Satz 3, 255a Abs. 2 StPO) — die hier im Übrigen nicht zu beanstanden ist — hat der Angeklagte regelmäßig hinzunehmen.

Dem verfassungsrechtlich geschützten Interesse des Beschuldigten an einer besonders beschleunigten Bearbeitung des Verfahrens steht nämlich das Wohl der geschädigten Kinder keinesfalls nach. Schließlich wurzelt das Rechtsgut Kindeswohl und die Pflicht des Staates, dieses zu schützen und fördern, in den Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 6 GG. Dem Freiheitsrecht des Beschuldigten ist demgegenüber keinesfalls ein Vorrang auf Kosten des Kindeswohls einzuräumen (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 14. November 1994, NJW 1995, 1689, beck-online).

Die Kammer befindet sich derzeit in der Terminsabstimmung für den Beginn der Hauptverhandlung ab dem 19. August 2025. Die hierin liegende Überschreitung der Sechs-Monats-Frist von rund zwei Monaten erklärt sich nachvollziehbar aus einer aktuellen — nicht strukturellen — Auslastung der Kammer mit weiteren eilbedürftigen Haftsachen.

Im Hinblick auf die mögliche Straferwartung ist der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch nicht unverhältnismäßig.“

Na ja, kommt sicherlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Und wenn ich schon lese „keinesfalls“

StPO II: Akteneinsichtsrecht für den Nebenkläger, oder: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

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Als zweite Entscheidung dann der OLG Schleswig, Beschl. v. 06.05.2025 – 1 Ws 56/25. Der äußert sich zur Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenkläger bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und zum Beschwerderecht des Angeklagten.

Folgender Sachverhalt:

Dem Angeklagten wird u. a. sexuelle Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin vorgeworfen. Die Strafkammer hat mit Beschluss vom 10.02.2025 das Hauptverfahren eröffnet, Haftfortdauer angeordnet und den Anschluss der Zeugin als Nebenklägerin für berechtigt erklärt. Die Hauptverhandlung läuft seit dem 02.05.2025 und ist derzeit bis zum 23.06.2025 geplant. Die Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin ist/war für den 13.05.2025 vorgesehen.

Bereits am 15.11.2024 hatte der Beistand der Nebenklägerin Akteneinsicht beantragt und zugleich versichert, der Nebenklägerin keine Akteninhalte zur Verfügung zu stellen. Am 27.03.2025 hat der Verteidiger in einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden der Gewährung von Akteneinsicht an den Beistand der Nebenklägerin widersprochen und dies mit Schriftsatz vom 07.04.2025 wiederholt.

Der Vorsitzende hat mit Verfügung vom 09.04.2025 Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin gewährt und dies dem Angeklagten, dem Verteidiger und dem Beistand der Nebenklägerin zur Kenntnis gegeben. Vor dem Hintergrund der anhängigen Beschwerde vom 14.04.2025 ist die Gewährung von Akteneinsicht auf die Verfügung des Vorsitzenden allerdings noch zurückgestellt worden, zunächst bis zum 30.04.2025 und nunmehr bis zum 06.052025. Damit ist/war die Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin faktisch noch nicht durchgeführt.

Das OLG hat die Beschwerde als zulässig, aber als unbegründet angesehen.

Das OLG folgt hinsichtlich des Beschwerderechts des Angeklagten in diesen Fällen der Auffassung in der Rechtsprechung, nach welcher der Angeklagte auch im Falle des Versagungsgrundes nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO (Gefährdung des Untersuchungszwecks) beschwert ist, wenn dem Verletzten Akteneinsicht gewährt wird. Insoweit verweise ich wegen der Einzelheiten der Begründung auf den verlinkten Volltext.

Zur Begründetheit führt es sodann aus:

„Die Beschwerde ist indes unbegründet.

a) Im maßgeblichen Ausgangspunkt folgt der Senat dabei den in der Entscheidung OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Dezember 2015 ? 1 Ws 309/15, NStZ 2016, 629, niedergelegten Erwägungen (i. Ü. auch Anschluss BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 5 StR 40/16, BeckRS 2016, 07515, OLG Schleswig, Beschluss vom 5. April 2023 – 2 Ws 33/23). Demnach kann in der besonderen Beweiskonstellation „Aussage gegen Aussage“ eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO gegeben sein, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Unbefangenheit, die Zuverlässigkeit oder den Wahrheitsgehalt einer von ihm zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. Dies ist allerdings nicht schon generell und ohne weiteres der Fall. Vielmehr ist dem Vorsitzenden bei seiner Entscheidung darüber, ob einem Akteneinsichtsbegehren § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO entgegensteht, auch in dieser Konstellation ein weiter Ermessensspielraum eröffnet [vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2005 – 1 StR 498/04; Senat, Beschluss vom 19. Februar 2016 – 1 Ws 59/16 (33/16) -, juris, Rn. 5]. Das Beschwerdegericht trifft eine eigene Ermessensentscheidung. Es ist nicht darauf beschränkt ist, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen.

Bei der Entscheidung gilt:

Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenklägervertreter ist auch bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation regelmäßig auszuschließen, wenn der Nebenklägervertreter — wie hier — zusagt, die Akte der vertretenen Person nicht zugänglich zu machen (Anschluss OLG Braunschweig a. a. O.).

Zwar ist eine solche Verzichtserklärung letztlich nicht durchsetzbar, gleichwohl aber durch das Tatgericht im Rahmen der zeugenschaftlichen Befragung des Nebenklägers als Zeuge überprüfbar. Zudem liegt es auch im Interesse des Nebenklägervertreters, den Beweiswert der Angaben seines Mandanten nicht zu gefährden. Darüber hinaus sieht auch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März 2002 – 1 BvR 2119/01, juris, Rn. 13), dass Rechtsanwälte ihre Aufgaben als vertrauenswürdige Organe der Rechtspflege wahrnehmen, der Rechtsverkehr also in der Regel auf ihre Integrität und Zuverlässigkeit vertrauen darf. Dies im Übrigen, auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verteidigung in ihrem Schriftsatz vom 2. Mai 2025, soweit es um § 11 Abs. 1 BORA (diese Vorschrift dürfte mit dem von der Verteidigung in Bezug genommenen § 12 Abs. 1 BORA gemeint gewesen sein) und § 1 Abs. 3 Satz 1 BORA geht, die jeweils einer Verzichtserklärung nicht zwingend entgegenstehen.

Dagegen würde ein genereller und letztlich ausnahmsloser Wegfall der Akteneinsicht für den Beistand des Nebenklägers bei Vorliegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation (so im Ergebnis HansOLG Hamburg, Beschluss vom 11. November 2022 – 6 Ws 74/22 – „Ermessensreduzierung auf Null“) die Verfahrensbeteiligungsrechte von Verletzten und Nebenklägern in bedenklicher Weise und entgegen den Grundgedanken des 2. Opferrechtsreformgesetzes (BGBl. 2009 I 2280) einschränken. Denn insbesondere das Fragerecht in der Hauptverhandlung kommt nur dann wirksam zur Geltung, wenn etwa Vorhalte getätigt werden können; auch Beanstandungs- und Antragsrechte können von dem Beistand des Nebenklägers nur dann wirksam ausgeübt werden, wenn Aktenkenntnis besteht.

Im Einzelnen:

b) Der Beistand der Nebenklägerin hat vorliegend gemäß § 406?e Abs.1 StPO einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten. Ein Versagungsgrund, insbesondere ein solcher nach § 406?e Abs. 2 Satz 2 StPO, besteht nicht. Nach dieser Vorschrift kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist hier nicht der Fall. Der Beschuldigte hatte vor der Akteneinsicht das erforderliche rechtliche Gehör (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2021 – 1 BvR 2192/21).

Vorliegend ist zu beachten, dass den Tatvorwürfen schon nicht durchweg eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zugrunde liegt. Keine solche, besondere Beweissituation liegt vor, wenn die belastende Aussage — wie hier — durch andere Beweismittel bestätigt wird (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 261 Rn. 100). Dies ist bereits der Fall, wenn die Aussage der Belastungszeugin jedenfalls in den Randbereichen durch Bekundungen eines anderen Zeugen bestätigt wird (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 486/02, NStZ-RR 2003, 268) oder andere belastende Indizien vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. September 2015 – 2 StR 101/15, NStZ-RR 2016, 87). Vorliegend werden die Angaben der Nebenklägerin sowohl durch Bekundungen anderer Zeugen, als auch durch weitere belastende Indizien bestätigt (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2025 – 1 Ws 30/25).

Im Übrigen sind die entgegenstehenden Interessen im Rahmen einer Ermessensentscheidung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.

Einzustellen in die Ermessensentscheidung ist zum einen, dass mit dem Grundsatz der Wahrheitsermittlung als Ausfluss seiner Freiheitsrechte nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3 und 104 Abs. 1 GG ein sehr hohes Gut zugunsten des Angeschuldigten streitet. Demgegenüber stehen ein Informationsrecht des Verletzten sowie seine Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Menschenwürde, wobei letztere ebenfalls Verfassungsrang (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 3 Abs. 1, 20 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG) genießen.

Der Grundsatz der Wahrheitsermittlung bei einer umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin erscheint im vorliegenden Verfahren kaum nennenswert gefährdet. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Erwägungen und auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit bedarf der Nebenklägervertreter zur sachgerechten Vorbereitung der Vernehmung seiner Mandantin und zur effektiven Wahrung ihrer Verfahrensrechte und nicht zuletzt unter Opferschutzgesichtspunkten möglichst umfassende Akteneinsicht. Es besteht hier nicht die Besorgnis, dass der Nebenklägervertreter entgegen seiner Zusage die Akten oder Bestandteile hiervon der Nebenklägerin zugänglich machen wird; konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür hat der Senat nicht.

…“

Regelmäßig Alleinhaftung des Vorfahrtsverletzers, oder: Keine Vollbremsung bei „Ampel-Gelblicht“

entnommen wikipedia.org

Die zweite Zivilentscheidung kommt vom OLG Schleswig, und zwar handelt es sich um den OLG Schleswig, Beschl. v. 14.04.2025 – 7 U 10/25 – zur Frage der Haftung nach einem Zusammenstoß zwischen einem Motorroller und einem Pkw.

Verlangt werden von der Klägerin Schadenersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 19.01.2019 in N. auf Höhe der Kreuzung B76/ H-straße bzw. Zufahrt zum V-park ereignete. Vor der Unfallstelle befindet sich eine Fußgängerbedarfsampel, die (in Fahrtrichtung gesehen) ca. 20 – 25 m entfernt liegt. Die Klägerin befuhr am Unfalltag gegen 17:25 Uhr mit ihrem Vespa-Roller aus T. kommend die hier vorfahrtsberechtigte B 76 in Richtung D. Der Beklagte befand sich zu diesem Zeitpunkt mit seinem Fahrzeug auf der wartepflichtigen H-straße. Als die Klägerin auf ihrem Roller die Fußgängerbedarfsampel – ausweislich des eingeholten Sachverständigengutachtens – „gerade noch bei Gelblicht“ passiert und anschließend den nachfolgenden Kreuzungsbereich erreicht hatte, bog der Beklagte aus der H-straße kommend nach links auf die B 76 heraus. Die Klägerin prallte mit ihrem Roller seitlich in das Beklagtenfahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls erlitt sie schwere Verletzungen.

Das LG hat verurteilt und ist von einer Haftungsquote des Beklagten von 100 % ausgegangen. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die keinen Erfolg hatte.

„Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.

1. Zu Recht ist das Landgericht gem. §§ 7, 17 Abs. 2 StVG, 8 StVO, 115 I Nr. 1 VVG im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beklagten hier dem Grunde nach zu 100 % für den Schaden einzustehen haben.

Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung ist gemäß § 17 I, II StVG auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5).

Nach diesen Maßstäben ist im Rahmen der Abwägung zu Lasten der Beklagten zunächst ein Vorfahrtsverstoß gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StVO zu berücksichtigen. Unstreitig war die Klägerin auf der B 76 vorfahrtsberechtigt. Dass die Missachtung des Vorfahrtsrechts durch den Beklagten zu 1. unfallursächlich war, steht bereits nach Anscheinsgrundsätzen fest. Ein Beweis des ersten Anscheins ist immer dann anzunehmen, wenn sich in einem Unfallgeschehen ein hinreichend typisierter Geschehensablauf realisiert hat, der einen Rückschluss auf ein unfallursächliches Fehlverhalten einer Partei regelmäßig zulässt (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil vom 04.11.2020 – 1 U 78/19). Beim Abbiegevorgang des nicht Vorfahrtsberechtigten gilt die Vorfahrtsberechtigung des anderen Teiles solange, bis der Einfahrende sich vollständig auf der vorfahrtsberechtigten Straße eingeordnet hat. Aus der besonderen Bedeutung der Vorfahrtsregelung, die dem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer die Pflicht zu erhöhter Sorgfalt auferlegt und deren Verletzung daher besonders schwer wiegt, folgt in der Regel die Alleinhaftung des Vorfahrtverletzers (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 9.6.2021, 4 U 396/21, Rn. 7, juris). Neben dem Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO war hier auch die höhere Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten (im Vergleich zu dem Motorroller der Klägerin) zu berücksichtigen. Der Beklagte zu 1) hat zweifellos die ihn treffende Wartepflicht gegenüber der vorfahrtsberechtigten Klägerin verletzt und hierdurch den Unfall verursacht.

Die Beklagten haben keinerlei Umstände zu beweisen vermocht, die geeignet sein könnten, diesen Anschein zu erschüttern. Es fehlt bereits an einem entsprechenden Zurechnungszusammenhang zwischen einem – unterstellten – „Gelblichtverstoß“ an der Fußgängerbedarfsampel und dem Unfall an der nachfolgenden Kreuzung. Diese Ampel dient dem Schutz des querenden Fußgängerverkehres im Ampelbereich und nicht dem Schutz des weit hinter der Ampel befindlichen Kreuzungsverkehrs B76/ H-straße. Außerdem sind Verkehrszeichen, die ein Gebot oder Verbot wie das Gelblicht enthalten, Allgemeinverfügungen, die regeln, dass der Adressat dieser Allgemeinverfügung entsprechend § 37 Nr. 1 StVO zwar grundsätzlich bei Gelb vor der Kreuzung auf das nächste Zeichen warten sollen. Das bringt jedoch oft die Schwierigkeit mit sich, dass der Verkehrsteilnehmer bei für ihn geltendem Gelblicht nicht mehr ohne die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs bis zur Haltelinie anhalten kann. Eine Vollbremsung – insbesondere eines einspurigen Motorrollers – könnte zur Gefährdung nachfolgenden Verkehrs führen, so dass zumindest in der ersten Gelbphase die Abwägung dafürspricht, dass er nicht zu einer Vollbremsung verpflichtet ist. Kann dem Verkehrsteilnehmer bei Beachtung dieser Grundsätze nicht gelingen, vor der Haltelinie bei Gelb anzuhalten, darf er über die Haltelinie hinweg in den Kreuzungsbereich einfahren (Diehl Anm. zu OLG Hamm, Urteil v. 30.5.2016, I-6 U 13/16, ZfSch 2016, 676-679). An der Unfallstelle waren unstreitig 70 km/h erlaubt. Es ist nicht klar, wie schnell die Klägerin vor der Ampel gefahren ist (Annäherungsgeschwindigkeit) und wie lange (Sekunden) sie schon Gelblicht gesehen haben müsste, bevor sie die Fußgängerampel gequert hat. Es fehlt insoweit an entsprechenden Anknüpfungstatsachen. Bei unterstellten 70 km/h hätte die Klägerin 19,4 m/s zurückgelegt, ihr Anhalteweg hätte rund 45 m betragen. Ein Gelb- oder gar Rotlichtverstoß an der Fußgängerampel durch die Klägerin ist nicht bewiesen und kann deshalb auch nicht in die Abwägung nach § 17 StVG eingestellt werden.“

Und zur Höhe des Schmerzensgeldes:

„Die Höhe des Schmerzensgeldes (insgesamt 20.000 €) ist angesichts der schweren und zum Teil dauerhaften Verletzungen der noch verhältnismäßig jungen Klägerin nicht zu beanstanden. Sie hat einen beidseitigen Kieferbruch, eine Halswirbelfraktur, eine Fraktur des Schlüsselbeins links, einen mehrfachen Bruch des Oberschenkelknochens, einen Trümmerbruch des großen Zehs links sowie Schürfwunden am Knie erlitten. Die Klägerin musste sich mehreren Operationen und Folgeoperationen unterziehen. Es bleiben sichtbare Narben im Dekolleté Bereich (15 cm) und am Oberschenkel (5 cm) sowie am Knie. Der große Zeh am linken Fuß musste versteift werden. Die festgestellte Mundöffnungseinschränkung von 5 mm hat das Landgericht – mangels hinreichend bewiesener Unfallursächlichkeit – bei der Schmerzensgeldbemessung nicht berücksichtigt.“

Klageerzwingung I: Voraussetzung für die Zulässigkeit, oder: Die Hürden sind und bleiben hoch

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Und dann starte ich in die vorösterliche (Kar)Woche mit zwei Entscheidungen des BVerfG zum Klageerzwingungsverfahren und einer weiteren des OLG Schleswig..

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 20.02.2025 – 2 BvR 1569/23 – einem – was sonst? – Nichtannahmebeschluss. Das BVerfG hat mal wieder unzureichende Substantiierung der Verfassungsbeschwerde gerügt.

Ausgangspunkt des Verfahrens ist ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer im Anschluss an einen Einsazu von Einsatzkräften im Rettungsdienst, das für den Beschwerdeführer mit einem Strafverfahren wegen Beleidigung, Bedrohung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte endete, das schließlich nach § 153a Abs. 2 StPO gegen eine Geldauflage eingestellt wurde.

Der Beschwerdeführer selbst hatte erstattete Strafanzeige gegen die beteiligten Polizeibeamten wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt erstattet. Insoweit wurde ihm von der Staatsanwaltschaft mitgetielt, sie werde kein Ermittlungsverfahren einleiten, weil kein Anfangsverdacht für ein strafbares Verhalten der Polizeibeamten bestehe. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zur Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, die diese als unbegründet zurückwies. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer beim OLG Koblenz eine gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO. Mit Beschluss vom 05.09.2023 verwarf das OLG den Antrag des Beschwerdeführers als unzulässig, weil nicht ausreichend begründet.

Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde, die keinen Erfolg hatte. Das BVerfG referiert zunächst die allgemeinen Anforderungen an Verfassungsbeschwerden und führt dann zur Sache aus. Da die Entscheidung nur die vorliegende Rechtsprechung fortschreibt, beschränke mich hier auf den Leitsatz, der lautet:

Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG bestehen keine Bedenken, § 172 Abs. 3 S. 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für ihre Unrichtigkeit in groben Zügen wiedergeben und eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten muss, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt.

Und als zweite Entscheidung in diesem Posting der OLG Schleswig, Beschl. v. 21.02.2025 – 1 Ws 3/25 -, der auch noch einmal zu den Voraussetzungen eines (zulässigen) Klageerzwingungsantrags Stellung nimmt:

1. Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung muss eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt und muss auch in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens und den Inhalt der angegriffenen Bescheide wiedergeben.

2. Genügt ein Klageerzwingungsantrag diesen strengen Anforderungen nicht, so ist das Oberlandesgericht grundsätzlich nicht gehalten, die angefochtene Einstellungsentscheidung durch einen Rückgriff auf die Akten oder sonstige Anlagen zu prüfen.

3. Eine Prüfung ist aber zur Wahrung eines effektiven Rechtsschutzes im Rahmen der verfassungsrechtlich verankerten Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG dann geboten, wenn ein Antragsteller aufgrund seines Alters, einer spezifischen Täter-Opfer-Konstellation oder sonstiger Umstände seine Rechte ersichtlich nicht wahrnehmen kann, die Tat im Einzelfall schwer wiegt und es der staatsanwaltschaftlichen Einstellungsentscheidung an Begründungstiefe fehlt. Liegt es so, ist jedenfalls eine summarische Prüfung des Akteninhaltes und eine darauf beruhende Bewertung des hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 1 StPO durch das Oberlandesgericht veranlasst.

4. Gleiches gilt, wenn von der umfassenden und rechtswirksamen Aufarbeitung des Sachverhalts in Zukunft weitere für den Verletzten bedeutende Entscheidungen abhängen wie z. B. in einem Fall von Kindesmisshandlung tragfähige familiengerichtliche Entscheidungen und ein effektives und rechtzeitiges Handeln durch Jugendamt und Familiengericht.

Fazit: Die Hürden sind und bleiben hoch.

Und dann machen wir mal ein wenig Werbung, also <<Werbemodus an>>, nämlich für das Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl. 2025, bzw. für das Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Aufl. 2024, die man beide bier bestellen kann. Beide enthalten recht umfangreiche Ausführungen zum Klageerzwingungsverfahren mit Checkliste, was man alles vortrag muss/sollte. <<Werbemodus aus>>-

Verkehrsunfall mit Rettungswagen auf Blaulichtfahrt, oder: Einfahren in Kreuzung bei Rot versus Bremsen

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Im zweiten Posting zum Verkehrszivilrecht stelle ich dann den OLG Schleswig, Beschl. v. 18.11.2024 – 7 U 66/24 – vor. Er befasst sich u.a. mit der Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall zwischen einem Rettungswagen auf „Blaulichtfahrt“, der bei Rotlicht in eine Kreuzung einfährt, und einem PKW, der vor dem Rettungswagen abbiegt und dann abrupt abgebremst wird.

Der Unfall ereignete sich gegen 16:55 Uhr bei Dunkelheit im Bereich der Kreuzung X-Straße und B in X. Beteiligt waren der im Notfalleinsatz befindliche Rettungswagen der Klägerin, der vom Zeugen M geführt wurde (RTW), und der von der Beklagten zu 1) geführte bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte PKW, deren Halterin ebenfalls die Beklagte zu 1) ist.

Der Unfall ereignete sich wie folgt: Die Beklagte zu 1) befuhr die X-Straße aus Süden kommend und beabsichtigte nach links auf die B abzubiegen. Sie fuhr bei grüner Ampel auf der Linksabbiegerspur in die Kreuzung ein und verzögerte ihr Fahrzeug sodann wieder. Unklar ist, weshalb sie abbremste und ob sie ihr Fahrzeug in dieser Situation zum Stillstand brachte. Von rechts näherte sich auf der B aus östlicher Richtung der RTW, der mit eingeschaltetem Blaulicht und Einsatzhorn unter Befahren der dortigen Linksabbiegerspur mit ca. 30-35 km/h in die Kreuzung einfuhr. Der Zeuge M wollte zunächst rechts am PKW der Beklagten zu 1) vorbeifahren. Die Beklagte zu 1) setzte allerdings ihren Abbiegevorgang auf die B in fort, als der RTW allenfalls noch 10 m entfernt war. Die Fahrzeuge befanden sich nun hintereinander in gleicher Fahrtrichtung. Einige Meter weiter, im äußerst westlichen Kreuzungsbereich, bremste die Beklagte zu 1) ihr Fahrzeug plötzlich bis zum Stillstand ab und der RTW fuhr leicht nach rechts versetzt von hinten auf.

Das LG ist von einer Mithaftungsquote der Beklagten von 70 % ausgegangen. Der Unfall sei für beide Seiten nicht unvermeidbar gewesen. Nach den getroffenen Feststellungen hätte die Beklagte zu 1) das seit mindestens 10 Sekunden vor Einfahrt des RTW in die Kreuzung eingeschaltete Martinshorn hören müssen. Der RTW sei mit 30-35 km/h gefahren. Ob die Beklagte zu 1) ihren PKW im Kreuzungsbereich bis zum Stillstand abgebremst habe, stehe nicht sicher fest. Die Beklagte sei sodann allenfalls 10 m vor dem RTW abgebogen und habe anschließend plötzlich abgebremst. Die Beklagte zu 1) habe gegen § 38 Abs. 1 S. 2 sowie § 4 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen. Der Klägerin sei ein Verstoß des Zeugen M gegen § 35 Abs. 8 StVO anzulasten, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürften. Aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1), die zunächst entgegen § 38 Abs. Abs. 1 S. 2 StVO in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, dort kurz verzögert und sodann ihren Abbiegevorgang unmittelbar vor dem RTW fortgesetzt habe, habe eine unklare Verkehrslage bestanden, in der er seine Geschwindigkeit auf Schrittgeschwindigkeit hätte reduzieren müssen. In Anwendung des § 17 Abs. 2 StVG hafteten die Beklagten deshalb zu 70 % und die Klägerin zu 30 %; der Unfall sei überwiegend auf die Verstöße des Beklagten zu 1) zurückzuführen, wobei zulasten der Klägerin auch die erhöhte Betriebsgefahr durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten zu berücksichtigen sei. Hiergegen wenden sich die Klägerin mit ihrer Berufung und die Beklagten mit ihrer Anschlussberufung.

Das OLG hat die Parteien in seinem Beschluss gem. § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass die Berufung keinen Erfolg habe. Es führt zur Abwägung des LG aus:

„2. Die vom Landgericht vorgenommene Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG ist ebenfalls nicht zu beanstanden und findet jedenfalls im Ergebnis die Billigung des Senats. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem Einfahren der Beklagten zu 1) in die Kreuzung, ihrem Abbremsen auf der Kreuzung und schließlich ihrem erneuten abrupten Abbremsen unmittelbar nach dem Abbiegen.

a) Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231, 232; OLG Dresden, Urteil vom 25.02.2020, 4 U 1914/19, Juris Rn. 4 m.w.N.).

b) Zu Recht hat das Landgericht einen Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO dadurch angenommen, dass sie überhaupt in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, anstatt „sofort freie Bahn“ zu schaffen und stehenzubleiben. Denn sie hätte den RTW, der nach den getroffenen Feststellungen durchgehend das Blaulicht und mehr als 10 Sekunden lang das Einsatzhorn aktiviert hatte, wahrnehmen müssen. Es ist nach den Umständen nicht nachvollziehbar, wie sie das Einsatzfahrzeug nicht rechtzeitig wahrgenommen haben will. Akustische oder visuelle Einschränkungen bestanden offenbar nicht. Der Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO perpetuiert sich im Fortsetzen des Abbiegemanövers nach einer kurzen Verzögerung (ggf. bis zum Stillstand). Bis zu dieser Fortsetzung des Abbiegemanövers der Beklagten zu 1) stellt es auch keinen Verstoß des Zeugen M gegen § 35 Abs. 8 StVO dar, dass er die Geschwindigkeit des RTW von 30-35 km/h nicht auf Schrittgeschwindigkeit reduziert hat. Denn bis hierhin lag keine unübersichtliche Situation vor. Die erkennbare Verzögerung des PKW in der Mitte der Kreuzung konnte er als Zeichen werten, dass die Beklagte zu 1) den RTW wahrgenommen hat und ihn passieren lassen würde. Bei fehlendem Verkehr von rechts (aus Sicht der Beklagten zu 1) also Gegenverkehr) – was unstreitig ist -, war die Verzögerung des PKW nicht aus Rücksicht hierauf zu verstehen. Und auch der vom Zeugen M angegebene Fußgänger auf der anderen Seite der B war kein Grund, die Geschwindigkeit des RTW erheblich zu reduzieren, denn der Zeuge M durfte annehmen, dass der Fußgänger angesichts des unübersehbaren Einsatzfahrzeugs ohnehin stehen bleiben würde, so dass auch der PKW keinen Anlass hatte, allein deshalb zu warten. Zumal die Beklagte zu 1) den Fußgänger nach eigenem Bekunden nicht wahrgenommen hatte.

c) Die Situation änderte sich allerdings grundlegend, nachdem die Beklagte zu 1) mit ihrem PKW unter (fortgesetztem) Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVG ihre Fahrt nebst Abbiegevorgang fortsetzte und hierbei sich nur einige Meter – nach den Feststellungen des Landgerichts allenfalls 10 m – vor den RTW fuhr. Dadurch musste dem Zeugen M klar werden, dass die Beklagte zu 1) den RTW trotz aller Licht- und Schallsignale und entgegen ihrem zuvor gesetzten Anschein durch die Verzögerung ihres Fahrzeugs auf der Kreuzung offenbar noch nicht wahrgenommen hatte. Spätestens in dieser Situation wäre es nach § 35 Abs. 8 StVO geboten gewesen, die Geschwindigkeit erheblich herabzusetzen (Anpassung gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 StVO), einen ausreichenden Abstand einzuhalten bzw. herzustellen (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO) und ggf. i. S. v. § 1 Abs. 1, 2 StVO vorsichtig abzuwarten, wie sich das weitere Fahrverhalten des PKW darstellen würde. Mit weiteren Fehlleistungen der Beklagten zu 1) war zu rechnen, auch mit einer etwaigen Schreckreaktion bei überraschender Wahrnehmung des nunmehr unmittelbar hinter ihr befindlichen RTW. Hinzu kommt Folgendes: Der Zeuge M hätte nach eigenen Angaben mit dem RTW den PKW im Bereich auf und unmittelbar hinter der Kreuzung gar nicht überholen können, sondern hätte ohnehin abwarten müssen, bis der PKW an geeigneter Stelle Platz machen oder anhalten würde. Auch deshalb war er gehalten, einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden PKW einzuhalten.

d) Mit ihrem plötzlichen und abrupten Abbremsen nach Abschluss des Abbiegemanövers verstieß die Beklagte zu 1) gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, wonach ein Vorausfahrender nicht ohne zwingenden Grund stark abbremsen darf. Ein zwingender Grund bestand nicht, insbesondere nicht in der Befolgung der Anordnung des § 38 Abs. 1 S. 2 StVO. Denn „sofort freie Bahn“ zu schaffen ist nicht gleichzusetzen mit dem sofortigen Stehenbleiben. Es kommt vielmehr auf die Umstände des konkreten Einzelfalles an. Vorliegend wäre es geboten gewesen, bis zu einer geeigneten Stelle zum (geordneten) Stehenbleiben weiter zu fahren und den RTW sodann passieren zu lassen. Jedenfalls verbot sich ein unvermitteltes plötzliches Stehenbleiben noch im Kreuzungsbereich bei ohnehin (zu) geringem Abstand.

e) In der Abwägung ist der (erste) Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO nur in dem Sinne zu berücksichtigen, dass er die Gefahr für das nachfolgende Unfallgeschehen erhöht hat. Das Einfahren in die Kreuzung, die Verzögerung auf der Kreuzung und das Weiterfahren und Abbiegen haben jedoch nicht unmittelbar zu der Kollision geführt, so dass es in dieser Situation auch nicht auf die Geschwindigkeit des RTW ankommt. Für die Bewertung dieser Situation macht es keinen Unterschied, ob die Beklagte zu 1) nur leicht verzögert oder auch angehalten hat.

Die wesentliche Unfallursache war sodann vielmehr das grundlose, plötzliche und abrupte Abbremsen des PKW bis zum Stillstand durch die Beklagte zu 1), auf das der Zeuge M im RTW aufgrund des zu geringen Abstandes nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Die Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge führt auch unter Berücksichtigung der aufgrund der Einsatzfahrt (u.a. mit Rotlicht-„Verstoß“) erhöhten Betriebsgefahr des RTW zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten, wobei jedoch eine gewisse Mithaftung der Klägerin im Umfang von (zumindest) 30 % verbleibt.

f) Ob der Haftungsanteil der Klägerin ggf. noch höher als 30 % anzusetzen wäre, ist Gegenstand der Anschlussberufung. Dieser Frage bedarf zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner weiteren Vertiefung, weil die Anschlussberufung im Falle der beabsichtigten Zurückweisung der klägerischen Berufung durch Beschluss ihre Wirkung verlieren würde (§ 524 Abs. 4 ZPO).“