Schlagwort-Archiv: OLG Schleswig

Pflichti III: Keine „Umbeiordnung“ des „Pflichti“, oder: Schwierige Sachlage und Schwere der Tat

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Und in diesem dritten Posting habe ich dann noch drei Entscheidungen „aus der Instanz“. Von denen stelle ich aber nur die Leitsätze vor. Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Das OLG Schleswig hat im OLG Schleswig, Beschl. v. 09.09.2025 – 1 Ws 133/25 – zu den Voraussetzungen einer „Umbeiordnung“ eines Pflichtverteidigers und zu den Folgen der Beauftragung eines Wahlverteidigers erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens Stellung genommen und meint:

1. Der Wechsel eines notwendigen Verteidigers – unbeschadet der Tatsache, ob dieser für die Staatskasse „kostenneutral“ wäre – steht nicht zur Disposition der beteiligten Rechtsanwälte und unterliegt deshalb auch nicht ihrer Absprache in Form eines einverständlichen Verteidigerwechsels.

2. Der beigeordnete Verteidiger hat einen staatlichen Auftrag, den er zu erfüllen hat, solange sich nicht in der Sache Gründe ergeben, die eine Aufhebung der Beiordnung erfordern.

3. Ist der erst nach Terminsbestimmung gewählte Verteidiger an den bestimmten Terminen verhindert, steht seiner Beiordnung ein wichtiger Grund im Sinne von § 142 Abs. 5 Satz 3 StPO entgegen.

4. Es liegt grundsätzlich in der Risikosphäre des Angeklagten, dass ein erst spät beauftragter Verteidiger das Mandat zeitlich nicht ausüben kann.

Als zweite Entscheidung dann den LG Hildesheim, Beschl. v. 02.10.2025 – 15 Qs 14/25 – zum Bestellungsgrund „schwierige Sachlage“ (§ 140 Abs. 2 StPO):

Eine schwierige Sachlage im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist dann anzunehmen, wenn – zum Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Antrag auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers entscheiden muss – ein Sachverständigengutachten bereits Verfahrensbestandteil ist oder ein solches angeordnet wird und zu erwarten ist, dass dieses Gutachten für den Ausgang des Verfahrens als Beweismittel eine entscheidende Rolle spielt (für ein gerichtlich beauftragtes Unfallrekonstruktionsgutachten eines Sachverständigen, dem mangels anderer unmittelbarer Beweismittel verfahrensentscheidende Bedeutung zukommt.

Und als dritte Entscheidung der LG Schweinfurt, Beschl. v. 07.10.2025 – 4 Qs 96/25 – zu Bestellung wegen Schwere der Tat (§ 140 Abs. 2 StPO), wenn die Eltern Beschuldigte einer fahrlässigen Tötung zum Nachteil eines leiblichen Kindes sind:

1. Im Einzelfall kann die Schwere des Tatvorwurfs bereits für sich, also unabhängig von der zu erwarteten Rechtsfolge, die notwendige Verteidigung begründen. Davon ist auszugehen, wenn dem Beschuldigten der Vorwurf der fahrlässigen Tötung zum Nachteil seiner beiden Kinder zur Last gelegt wird.

2. Für eine Pflichtverteidigerbestellung ausreichende Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten liegen vor, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte aufgrund des mit ihm zur Last gelegten Tod von zwei Kindern verbundenen, emotionalen Ausnahmesituation nicht in der Lage ist, sich neben der Bewältigung der zumindest moralischen Verantwortung für den Tod seiner Kinder und den damit zweifellos verbundenen Verlust- und Schuldgefühlen auch mit dem strafrechtlichen Tatvorwurf umfassend und sachgerecht auseinanderzusetzen.

 

Landgericht Schweinfurt

 

Vollzug I: Ernährungsmehrbedarf bei Sport in der JVA, oder: Vegetarische, laktosefreie und vegane JVA-Kost?

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Ich stelle heute dann im Anschluss an den letzten „Vollzugstag“ noch einmal Entscheidungen aus dem Strafvollzug vor.

Ich beginne mit zwei Entscheidungen zur „richtigen“ Ernährung im Strafvollzug. Von den beiden OLG-Beschlüssen gibt es hier aber nur die Leitsätze, da sie recht umfangreich begründet sind und die ganzen Begründungen hier den „Rahmen sprengen“ würden. Bei den Beschlüssen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Der OLG Schleswig, Beschl. v. 13.10.2025 – 2 Ws 60/25 Vollz – behandelt die Frage, wie Ernährungsmehrbedarf bei Sport im Justizvollzug zu decken ist und wer ihn decken muss. Dazu das OLG:

1. Die nähere Ausgestaltung des für die Erreichung des Vollzugsziels notwendigen Sportangebots steht im pflichtgemäßen Ermessen des Justizvollzugs.

2. Kommt es durch die Nutzung des Sportangebots des Justizvollzugs zu einem Ernährungsmehrbedarf, so ist dieser durch die Anstaltsverpflegung zu decken. Der Gefangene darf nicht darauf verwiesen werden, diesen Mehrbedarf durch private Einkäufe zu decken.

In der zweiten Entscheidung, dem BayObLG, Beschl. v. 04.09.2025 – 203 StObWs 239/25 – geht es ebenfalls um die Frage einer besonderen Ernährung, nämlich darum, ob die JVA veganes Essen anbieten muss und/oder wer das beschaffen muss. Dazu heißt es:

1. Die JVA hat im Rahmen der Anstaltsverpflegung die religiösen und die moralisch-ethischen Überzeugungen der Strafgefangenen zu berücksichtigten. Es besteht aber keine Verpflichtung, sämtliche Verbote und Gebote aller Glaubensgemeinschaften sowie weltanschaulicher Überzeugungen umzusetzen.

2. Ob eine Justizvollzugsanstalt innerhalb der Anstaltsverpflegung veganes Essen anbietet, ist einer Ermessensentscheidung mit Blick auf die Zahl der dort zu verköstigenden inhaftierten Personen, die Ausstattung der Küche der Anstalt und die Zahl der für die Essensversorgung der Gefangenen verfügbaren Mitarbeiter vorbehalten.

3. Die Anstalt ist aber gehalten, den betroffenen Gefangenen eine ihren Vorschriften entsprechende Ernährung dadurch zu ermöglichen, dass sich die Gefangenen einzelne Speisen und Lebensmittel auf eigene Rechnung selbst beschaffen können.

4. Hier: Nach der im Einzelfall vorgenommenen Abwägung konnte die JVA den Gefangenen auf vegetarische, laktosefreie Kost und den ergänzenden Eigenerwerb veganer Lebensmittel verweisen.

 

 

StPO I: Terminsbestimmung des Vorsitzenden, oder: Statthaftigkeit einer Beschwerde

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Ich setzte die Berichterstattung dann fort, und zwar heute mit StPO-Entscheidungen.

Zunächst stelle ich den OLG Schleswig, Beschl. v. 28.08.2025 – 1 Ws 129/25 – vor. Das OLG äußert sich zur Frage der Statthaftigkeit einer Beschwerde gegen die Terminsbestimmung des Vorsitzenden nach § 213 StPO und zur Frage der Zuständigkeit für die Entscheidung.

Der Vorsitzende einer großen Strafkammer hat mit der angefochtenen Entscheidung Termine zur Hauptverhandlung anberaumt. Bei dem Strafverfahren handelt es sich um eine Haftsache. Dem Angeklagten war eine Rechtsanwältin als notwendige Verteidigerin beigeordnet worden, mit der die Termine abgesprochen worden sind. Nach Anklageerhebung am 08.05.2025 durch die Staatsanwaltschaft und Eingang der Akten beim LG hat sich ein anderer Rechtsanwalt als Wahlverteidiger für den Angeklagten gemeldet; eine Terminsabsprache mit ihm erfolgte nicht.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, mit der er geltend macht, sein Wahlverteidiger sei bei den anberaumten Terminen überwiegend verhindert. Es sei ermessensfehlerhaft, dass der Vorsitzende die Termine nicht mit diesem abgesprochen habe, weil er dadurch in seinem Recht, sich durch den Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu lassen, verletzt werde.

Die Beschwerde hatte keinen Erfolg:

„Eine Entscheidung des Senats ist nicht veranlasst. Die Beschwerde gegen die Terminsbestimmung ist unstatthaft und daher eine Entscheidungszuständigkeit des Senats als Beschwerdegericht nicht gegeben (hierzu unter 1.). Die Sachentscheidung hat allein der Vorsitzende zu treffen (hierzu unter 2.).

1. Termine zur Hauptverhandlung werden gemäß § 213 Abs. 1 StPO von dem Vorsitzenden des Gerichts anberaumt. Die Frage, ob die Terminsverfügung des Vorsitzenden mit der Beschwerde anfechtbar ist, ist umstritten. Es besteht jedoch Einigkeit dahingehend, dass die Voraussetzungen des § 305 Satz 1 StPO grundsätzlich vorliegen.

Zum Teil wird allerdings die Auffassung vertreten, in der Entscheidung könne dann eine selbständige Beschwer liegen, wenn diese offensichtlich rechtswidrig sei bzw. in Fällen evidenter Ermessensfehler des Vorsitzenden. Nach gegenläufiger Ansicht ist die Beschwerde gegen Terminsbestimmungen des Vorsitzenden stets unstatthaft. Aus der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung könne eine selbständige Beschwer nicht hergeleitet werden, da sich eine Beschwer nur aus dem Entscheidungsausspruch, nicht aber aus den Gründen eines Beschlusses oder eines Urteils ergeben könne. Außerdem werde so die Begründetheitsprüfung systemwidrig in die Zulässigkeitsprüfung vorverlagert (vgl. zum Meinungsstand und mit weiteren Nachweisen: KG Berlin, Beschluss vom 15. März 2022 – 2 Ws 27/22 –, juris).

Das Kammergericht hat in der zitierten Entscheidung ausgeführt:

„Der Senat ist der Auffassung, dass die Beschwerde gegen Terminsverfügungen des Vorsitzenden grundsätzlich unstatthaft ist. Die Terminierung stellt geradezu einen „Musterfall“ für den vom Gesetzgeber gewollten Ausschluss der Beschwerde nach § 305 Satz 1 StPO dar. Dem Angeklagten stehen auch ohne die (gegen den Wortlaut der Vorschrift konstruierte) Fiktion einer ausnahmsweise doch statthaften Beschwerde effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung. So kann er im Falle der Verhinderung des Verteidigers sein Vorbringen ohne weiteres in der Hauptverhandlung gemäß §§ 228 Abs. 2, 265 Abs. 4 StPO im Rahmen eines Aussetzungsantrages geltend machen. Wird der Antrag zu Unrecht abgelehnt, kann der Angeklagte seine Revision auf eine Verletzung des § 338 Nr. 8 StPO stützen, so dass für eine selbständige Beschwerdemöglichkeit kein Bedarf besteht (vgl. MüKo-StPO/Arnoldi, 1. Aufl., StPO, § 213 Rn. 16). In Betracht käme in anderen Fällen mangelnder Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen eines Angeklagten auch die Rüge einer Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK).“

Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an.

Über die Statthaftigkeit von Rechtsmitteln muss für alle Verfahrensbeteiligten Rechtsklarheit herrschen. Dem widerspricht es, auslegungsbedürftige und unbestimmte Rechtsbegriffe zum Statthaftigkeitskriterium zu machen. Die Frage der Statthaftigkeit ist generell und unzweifelhaft und nicht im Rahmen eines Regel-Ausnahme-Prinzips zu entscheiden, aufgrund dessen ein unzuständiges Beschwerdegericht letztlich doch eine inhaltliche Prüfung vorzunehmen hätte. Diese inhaltliche Prüfung wäre dann – dies systemwidrig – schon im Rahmen der Statthaftigkeit vorzunehmen. Auch überzeugt es nicht, das Rechtsmittel der Beschwerde zu eröffnen, diese dann aber – vergleichbar mit dem Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde – auf Fälle fehlerhafter Ermessensentscheidung bzw. greifbarer Rechtswidrigkeit zu beschränken. Ist das Rechtsmittel der (einfachen) Beschwerde eröffnet, hätte das Beschwerdegericht konsequenterweise eine eigene Sachentscheidung zu treffen (§ 309 StPO). Dass dies aber bei einer Terminsbestimmung weder möglich noch sachgerecht wäre, liegt auf der Hand. Ebenso wenig wäre aber dem Rechtsschutzziel eines Angeklagten dadurch gedient, dass die Terminsbestimmung lediglich aufgehoben wird. Denn dadurch geriete das Verfahren hinsichtlich der Hauptverhandlung in einen „Schwebezustand“, der den Interessen aller Verfahrensbeteiligten – in Haftsachen insbesondere der des Angeklagten selbst – eklatant zuwiderliefe. Schon deshalb muss es bei der unanfechtbaren Alleinzuständigkeit der Vorsitzenden bleiben.

2. Liegt ein Fall fehlender Statthaftigkeit vor, so hat hierüber das Gericht zu entscheiden, dessen Entscheidung angegriffen wird, denn unstatthafte Rechtsmittel eröffnen den Weg zu einem Rechtsmittelgericht gerade nicht (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 29. Oktober 2024 – 5 W 147/24 –, juris; OLG Karlsruhe Beschluss vom 6. August 2024 – 7 W 54/24, BeckRS 2024, 47907).

Diese Entscheidung hat der Vorsitzende der 2. Großen Strafkammer richtigerweise bereits getroffen. Seine Nichtabhilfeentscheidung vom 11. August 2025 ist als Verwerfungsentscheidung entsprechend auszulegen.“

Nun ja, ob das in der Allgemeinheit zutrifft, kann man bezweifeln. Hier scheint es aber „zu passen“.

StPO I: Beschleunigungsgrundsatz bei U-Haft ??, oder: Kindeswohl versus Freiheitsrecht des Beschuldigten

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Und dann geht es in die 26. KW., und zwar mit zwei StPO-Entscheidungen. Die eine kommt vom OLG Schleswig, die andere vom LG Dresden.

Ich beginne mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 16.06.2025 – 1 Ws 5/25 H –, der sich zum Beschleunigungsgrundsatz äußert, und zwar bei der Durchführung einer vernehmungsersetzenden richterlichen Videovernehmung.

Ergangen ist der Beschluss im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 120, 121 StPO, also Sechs-Monats-Haftprüfung. Vorgeworfen wird dem Angeklagten u.a. sexzeller Missbrauch. Das OLG hat Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Das OLG führt zur Beschleunigung aus:

Das Verfahren ist durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht mit der in Haftsachen erforderlichen Beschleunigung geführt worden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass von dem Verfahren drei Kinder — nämlich auch noch der ältere Bruder der beiden Geschädigten — betroffen sind und die Ermittlungen entsprechend behutsam zu führen waren und sind.

Die den Umständen des jeweiligen Einzelfalls nach angemessene Dauer der Durchführung der vernehmungsersetzenden richterlichen Videovernehmung unter Wahrung der gesetzlich vorgesehenen Beteiligungsrechte (§§ 58a Abs. 1 Satz 3, 255a Abs. 2 StPO) — die hier im Übrigen nicht zu beanstanden ist — hat der Angeklagte regelmäßig hinzunehmen.

Dem verfassungsrechtlich geschützten Interesse des Beschuldigten an einer besonders beschleunigten Bearbeitung des Verfahrens steht nämlich das Wohl der geschädigten Kinder keinesfalls nach. Schließlich wurzelt das Rechtsgut Kindeswohl und die Pflicht des Staates, dieses zu schützen und fördern, in den Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 6 GG. Dem Freiheitsrecht des Beschuldigten ist demgegenüber keinesfalls ein Vorrang auf Kosten des Kindeswohls einzuräumen (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 14. November 1994, NJW 1995, 1689, beck-online).

Die Kammer befindet sich derzeit in der Terminsabstimmung für den Beginn der Hauptverhandlung ab dem 19. August 2025. Die hierin liegende Überschreitung der Sechs-Monats-Frist von rund zwei Monaten erklärt sich nachvollziehbar aus einer aktuellen — nicht strukturellen — Auslastung der Kammer mit weiteren eilbedürftigen Haftsachen.

Im Hinblick auf die mögliche Straferwartung ist der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch nicht unverhältnismäßig.“

Na ja, kommt sicherlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Und wenn ich schon lese „keinesfalls“

StPO II: Akteneinsichtsrecht für den Nebenkläger, oder: Aussage-gegen-Aussage-Konstellation

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Als zweite Entscheidung dann der OLG Schleswig, Beschl. v. 06.05.2025 – 1 Ws 56/25. Der äußert sich zur Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenkläger bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und zum Beschwerderecht des Angeklagten.

Folgender Sachverhalt:

Dem Angeklagten wird u. a. sexuelle Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin vorgeworfen. Die Strafkammer hat mit Beschluss vom 10.02.2025 das Hauptverfahren eröffnet, Haftfortdauer angeordnet und den Anschluss der Zeugin als Nebenklägerin für berechtigt erklärt. Die Hauptverhandlung läuft seit dem 02.05.2025 und ist derzeit bis zum 23.06.2025 geplant. Die Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin ist/war für den 13.05.2025 vorgesehen.

Bereits am 15.11.2024 hatte der Beistand der Nebenklägerin Akteneinsicht beantragt und zugleich versichert, der Nebenklägerin keine Akteninhalte zur Verfügung zu stellen. Am 27.03.2025 hat der Verteidiger in einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden der Gewährung von Akteneinsicht an den Beistand der Nebenklägerin widersprochen und dies mit Schriftsatz vom 07.04.2025 wiederholt.

Der Vorsitzende hat mit Verfügung vom 09.04.2025 Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin gewährt und dies dem Angeklagten, dem Verteidiger und dem Beistand der Nebenklägerin zur Kenntnis gegeben. Vor dem Hintergrund der anhängigen Beschwerde vom 14.04.2025 ist die Gewährung von Akteneinsicht auf die Verfügung des Vorsitzenden allerdings noch zurückgestellt worden, zunächst bis zum 30.04.2025 und nunmehr bis zum 06.052025. Damit ist/war die Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin faktisch noch nicht durchgeführt.

Das OLG hat die Beschwerde als zulässig, aber als unbegründet angesehen.

Das OLG folgt hinsichtlich des Beschwerderechts des Angeklagten in diesen Fällen der Auffassung in der Rechtsprechung, nach welcher der Angeklagte auch im Falle des Versagungsgrundes nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO (Gefährdung des Untersuchungszwecks) beschwert ist, wenn dem Verletzten Akteneinsicht gewährt wird. Insoweit verweise ich wegen der Einzelheiten der Begründung auf den verlinkten Volltext.

Zur Begründetheit führt es sodann aus:

„Die Beschwerde ist indes unbegründet.

a) Im maßgeblichen Ausgangspunkt folgt der Senat dabei den in der Entscheidung OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Dezember 2015 ? 1 Ws 309/15, NStZ 2016, 629, niedergelegten Erwägungen (i. Ü. auch Anschluss BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 5 StR 40/16, BeckRS 2016, 07515, OLG Schleswig, Beschluss vom 5. April 2023 – 2 Ws 33/23). Demnach kann in der besonderen Beweiskonstellation „Aussage gegen Aussage“ eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO gegeben sein, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Unbefangenheit, die Zuverlässigkeit oder den Wahrheitsgehalt einer von ihm zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. Dies ist allerdings nicht schon generell und ohne weiteres der Fall. Vielmehr ist dem Vorsitzenden bei seiner Entscheidung darüber, ob einem Akteneinsichtsbegehren § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO entgegensteht, auch in dieser Konstellation ein weiter Ermessensspielraum eröffnet [vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2005 – 1 StR 498/04; Senat, Beschluss vom 19. Februar 2016 – 1 Ws 59/16 (33/16) -, juris, Rn. 5]. Das Beschwerdegericht trifft eine eigene Ermessensentscheidung. Es ist nicht darauf beschränkt ist, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen.

Bei der Entscheidung gilt:

Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenklägervertreter ist auch bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation regelmäßig auszuschließen, wenn der Nebenklägervertreter — wie hier — zusagt, die Akte der vertretenen Person nicht zugänglich zu machen (Anschluss OLG Braunschweig a. a. O.).

Zwar ist eine solche Verzichtserklärung letztlich nicht durchsetzbar, gleichwohl aber durch das Tatgericht im Rahmen der zeugenschaftlichen Befragung des Nebenklägers als Zeuge überprüfbar. Zudem liegt es auch im Interesse des Nebenklägervertreters, den Beweiswert der Angaben seines Mandanten nicht zu gefährden. Darüber hinaus sieht auch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März 2002 – 1 BvR 2119/01, juris, Rn. 13), dass Rechtsanwälte ihre Aufgaben als vertrauenswürdige Organe der Rechtspflege wahrnehmen, der Rechtsverkehr also in der Regel auf ihre Integrität und Zuverlässigkeit vertrauen darf. Dies im Übrigen, auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verteidigung in ihrem Schriftsatz vom 2. Mai 2025, soweit es um § 11 Abs. 1 BORA (diese Vorschrift dürfte mit dem von der Verteidigung in Bezug genommenen § 12 Abs. 1 BORA gemeint gewesen sein) und § 1 Abs. 3 Satz 1 BORA geht, die jeweils einer Verzichtserklärung nicht zwingend entgegenstehen.

Dagegen würde ein genereller und letztlich ausnahmsloser Wegfall der Akteneinsicht für den Beistand des Nebenklägers bei Vorliegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation (so im Ergebnis HansOLG Hamburg, Beschluss vom 11. November 2022 – 6 Ws 74/22 – „Ermessensreduzierung auf Null“) die Verfahrensbeteiligungsrechte von Verletzten und Nebenklägern in bedenklicher Weise und entgegen den Grundgedanken des 2. Opferrechtsreformgesetzes (BGBl. 2009 I 2280) einschränken. Denn insbesondere das Fragerecht in der Hauptverhandlung kommt nur dann wirksam zur Geltung, wenn etwa Vorhalte getätigt werden können; auch Beanstandungs- und Antragsrechte können von dem Beistand des Nebenklägers nur dann wirksam ausgeübt werden, wenn Aktenkenntnis besteht.

Im Einzelnen:

b) Der Beistand der Nebenklägerin hat vorliegend gemäß § 406?e Abs.1 StPO einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten. Ein Versagungsgrund, insbesondere ein solcher nach § 406?e Abs. 2 Satz 2 StPO, besteht nicht. Nach dieser Vorschrift kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist hier nicht der Fall. Der Beschuldigte hatte vor der Akteneinsicht das erforderliche rechtliche Gehör (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2021 – 1 BvR 2192/21).

Vorliegend ist zu beachten, dass den Tatvorwürfen schon nicht durchweg eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zugrunde liegt. Keine solche, besondere Beweissituation liegt vor, wenn die belastende Aussage — wie hier — durch andere Beweismittel bestätigt wird (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 261 Rn. 100). Dies ist bereits der Fall, wenn die Aussage der Belastungszeugin jedenfalls in den Randbereichen durch Bekundungen eines anderen Zeugen bestätigt wird (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 486/02, NStZ-RR 2003, 268) oder andere belastende Indizien vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. September 2015 – 2 StR 101/15, NStZ-RR 2016, 87). Vorliegend werden die Angaben der Nebenklägerin sowohl durch Bekundungen anderer Zeugen, als auch durch weitere belastende Indizien bestätigt (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2025 – 1 Ws 30/25).

Im Übrigen sind die entgegenstehenden Interessen im Rahmen einer Ermessensentscheidung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.

Einzustellen in die Ermessensentscheidung ist zum einen, dass mit dem Grundsatz der Wahrheitsermittlung als Ausfluss seiner Freiheitsrechte nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3 und 104 Abs. 1 GG ein sehr hohes Gut zugunsten des Angeschuldigten streitet. Demgegenüber stehen ein Informationsrecht des Verletzten sowie seine Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Menschenwürde, wobei letztere ebenfalls Verfassungsrang (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 3 Abs. 1, 20 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG) genießen.

Der Grundsatz der Wahrheitsermittlung bei einer umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin erscheint im vorliegenden Verfahren kaum nennenswert gefährdet. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Erwägungen und auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit bedarf der Nebenklägervertreter zur sachgerechten Vorbereitung der Vernehmung seiner Mandantin und zur effektiven Wahrung ihrer Verfahrensrechte und nicht zuletzt unter Opferschutzgesichtspunkten möglichst umfassende Akteneinsicht. Es besteht hier nicht die Besorgnis, dass der Nebenklägervertreter entgegen seiner Zusage die Akten oder Bestandteile hiervon der Nebenklägerin zugänglich machen wird; konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür hat der Senat nicht.

…“