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Rücksichtnahme beim Rückwärtsfahren mit Bagger, oder: Haftung bei Bagger versus Anhänger

Und dann der Kessel Buntes. Heute mit zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Den Start mache ich mit dem OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2024 – 7 U 150/23 – zur Rücksichtnahme beim Rückwärtsfahren mit einem Bagger.

Die Parteien streiten um die Haftungs- und die Haftungsanteile nach einem Unfall mit einem der Beklagten zu 1) gehörenden Bagger. Dabei war ein der Klägerin gehörender Anhänger beschädigt worden. Der Beklagte zu 1) hatte den von ihm geführten Bagger auf dem Betriebsgelände der Beklagten nach dem Anhalten aus einer Kurvenfahrt heraus unmittelbar zurücksetzt. Das LG hatte die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG die Klage als teilweise begründet angesehen. Es hat der Klägerin aber eine Mitverschuldensquote von 30 % angerechnet.

Das OLG verneint mit dem LG eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG, da der beteiligte Bagger der Beklagten zu 1) gemäß § 8 Nr. 1 StVG privilegiert sei. Aber: Der Beklagte zu 2.) haftet der Klägerin dem Grunde nach gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Und dann:

a) Die Klägerin muss sich auf ihren Anspruch einen Mitverschuldensanteil von 30 % anrechnen lassen, § 254 Abs. 1 BGB.

Im Falle eines festgestellten Mitverschuldens ist die Abwägung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 17.1.2023 – VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn. 29 m. w. N.).

aa) Der Klägerin ist ein Verstoß ihres Fahrers gegen § 1 Abs. 2 StVO in unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung zuzurechnen, weil dieser trotz des vor ihm befindlichen Baggers seine Fahrt an diesem vorbei fortgesetzt hat.

Dieser Verstoß erfährt indes entgegen der Würdigung des Landgerichts keine spezifische Ausprägung durch § 5 Abs. 3 StVO, denn es liegt kein Überholen vor. Ein Überholen ist begrifflich gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält (Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl. 2024, StVO § 5 Rn. 156; vgl. BGH Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16, NJW 2016, 3462). Das Beklagtenfahrzeug hatte im vorliegenden Fall – für sich genommen auch unstreitig – die Richtungsfahrbahn der Ausfahrt vom Betriebsgelände bereits dahingehend verlassen, dass der Abbiegevorgang nach rechts in den anderen Geländeteil eingeleitet war, aber lediglich wegen des nicht ausreichenden Abbiegewinkels unterbrochen werden musste. Eine Bewegung in derselben Richtung wie der klägerische Lkw war aber bereits zu dem Zeitpunkt, als der Fahrer des Lkw den Bagger zu passieren begann, nicht mehr gegeben.

Gleichwohl hätte sich der Fahrer des klägerischen Lkw aufgrund der Gesamtsituation gemäß § 1 Abs. 2 StVO veranlasst sehen müssen, seine Annäherung zu verlangsamen, das Fahrverhalten des vor ihm befindlichen Baggers abzuwarten und seine eigene Fahrt ggf. zu unterbrechen. Im Kern zutreffend hat das Landgericht diesbezüglich ausgeführt, dass sich – auch dem Fahrer des Klägerfahrzeugs als seinerseits beruflich im Umgang mit großen Fahrzeugen vertraut – hätte offenbaren können, dass der Beklagte zu 2.) den eingeleiteten Abbiegevorgang nicht in einem Zug vollenden werde, da es sich gerade nicht um eine abzweigende Straße oder breite Grundstückseinfahrt handelte, in die der Bagger abbog, sondern um eine verengte Einfahrt, die an sich primär für Schienenverkehr gedacht war.

bb) Ohne kausale Auswirkung bleibt in diesem Zusammenhang entgegen dem Vorwurf der Beklagten eine gegenüber der Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h bzw. Schrittgeschwindigkeit (je nach Schild) auf dem Betriebsgelände – mutmaßlich – überhöhte Geschwindigkeit des klägerischen Lkw, so dass es auch insoweit nicht darauf ankommt, ob der Unfall auf dem Betriebsgelände stattgefunden hat.

Ein späterer Unfall kann einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht allein schon deshalb zugerechnet werden, weil das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre, vielmehr muss sich in dem Unfall gerade die auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage aktualisieren. Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall ist zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Vermeidbarkeit ist auch bei geringfügigen Geschwindigkeitsüberschreitungen dann anzunehmen, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn es dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßen Fahrweise zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Unfallstelle zum Stehen zu bringen, wenn er den PKW aber so stark hätte abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den Gefahrenbereich noch rechtzeitig zu verlassen. Entsprechendes gilt auch dann, wenn es dabei zumindest zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufes und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre (BGH Urt. v. 26.4.2005 – VI ZR 228/03, r+s 2005, 477 = juris Rn. 22 m. w. N.; siehe zuletzt auch Senat Beschl. v. 5.8.2024 – I-7 U 57/24, BeckRS 2024, 26517 = juris Rn. 23 m. w. N.).

Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann. Für einen vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer ist dies in Bezug auf seinen Vorrang zwar nicht bereits der Fall, wenn nur die abstrakte, stets gegebene Gefahr eines Fehlverhaltens anderer besteht, vielmehr müssen erkennbare Umstände eine bevorstehende Verletzung seines Vorrechts nahelegen. Von Bedeutung sind hierbei neben der Fahrweise des Wartepflichtigen alle Umstände, die sich auf dessen Fahrweise auswirken können, also auch die Fahrweise des Bevorrechtigten selbst. Gibt er dem Wartepflichtigen durch einen Verkehrsverstoß Anlass, die Wartepflicht – namentlich infolge einer Fehleinschätzung der Verkehrslage – zu verletzen, so kann die kritische Verkehrslage bereits vor der eigentlichen Vorfahrtsverletzung eintreten (BGH Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, r+s 2003, 256 = juris Rn. 12 m. w. N.; siehe dazu zuletzt auch BGH Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Rn. 17 m. w. N.; Senat Beschl. v. 5.8.2024 – I-7 U 57/24, BeckRS 2024, 26517 = juris Rn. 24).

Gemessen daran war der Unfall für den Fahrer des Klägerfahrzeugs zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation weder räumlich noch zeitlich vermeidbar noch hätten sich die Personen- und Sachschäden erheblich anders dargestellt. Die kritische Verkehrssituation trat hier frühestens ein, als der Beklagte zu 2.) den Bagger aus der ursprünglichen Vorwärtsfahrt endgültig zum Stehen gebracht, spätestens, als er die Rückwärtsbewegung eingeleitet hatte. Aus der Inaugenscheinnahme der Videosequenz des Unfallablaufs ergibt sich aber insoweit zur Überzeugung des Senats, dass sich das Klägerfahrzeug bereits im Zeitpunkt des frühestmöglichen Eintritts der kritischen Verkehrssituation mit der Spitze des Führerhauses etwa mittig hinter dem Heck des Baggers befand. Da sich der Lkw – augenscheinlich zügig – weiterbewegte, ist der Bagger und damit die sich anschließende Einleitung der Rückwärtsbewegung aus dem Sichtfeld des Lkw-Fahrers geraten. Eine – zudem noch kollisionsvermeidende – Reaktion des Lkw-Fahrers war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Ein Ausweichen nach links hätte zudem eine unmittelbare Kollision mit dem Einfahrtstor zur Folge gehabt, ein Abbremsen lediglich die Verschiebung der Kollisionsstelle vom Tankanhänger auf den Tankaufbau des Zugfahrzeugs. Denn wäre die Geschwindigkeit des klägerischen Lkw von vornherein oder durch Abbremsung geringer gewesen, hätte sich der Aufprall lediglich nach vorne verlagert. Diese Rückschlüsse kann der Senat wie im Senatstermin erörtert als Fachsenat für Verkehrsunfallsachen aufgrund langjähriger Erfahrung in eigener Überzeugung ziehen, so dass es ausnahmsweise keiner Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf (vgl. § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO; Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, vor §§ 402 ff. Rn. 12). Insoweit hätten sich auch die eingetretenen Sachschäden nicht erheblich anders dargestellt, denn die Aufbaustruktur des Zugfahrzugs ist augenscheinlich weitgehend mit der des Anhängers identisch.

cc) Der Mitverschuldensbeitrag ist dem Verschulden der Beklagten entgegenzusetzen, wobei auch der nur mittelbaren Verletzung der Pflichten aus § 9 Abs. 5 StVO im Rahmen des § 1 Abs. 2 StVO ein entsprechendes Gewicht zukommt (vgl. BGH Urt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 11 m. w. N.).

Danach ist eine Gewichtung des Verschuldensanteils der Klägerseite mit 30 % und der Beklagtenseite mit 70 % angemessen.

Dem für sich genommen ganz erheblich wiegenden Verstoß des Beklagten zu 2.) gegen die Kardinalpflicht des Gefährdungsausschlusses bei Rückwärtsfahrt steht ein deutlich geringer zu gewichtender Verstoß des Fahrers des klägerischen Lkw gegen allgemeine und auch in der konkreten Situation einleuchtende Sorgfaltspflichten gegenüber.

Kein besonderes Gewicht misst der Senat dem von den Beklagten aufgegriffenen Umstand bei, dass der Fahrer des Klägerfahrzeugs nicht befugt gewesen sei, das Betriebsgelände überhaupt zu befahren, da die Beschilderung insoweit nicht hinreichend einfach erfassbar war und sich dieser Umstand, wenn auch kausal, so doch im Hinblick auf die Fortgeltung der hier zur Anwendung zu bringenden Regelung der StVO nicht maßgeblich ausgewirkt hat. Die (beiderseitige) Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist insoweit unabhängig von der etwaigen Frage eines einseitigen Hausrechts zu beurteilen.“

Etwas Verkehrzivilrechtliches „aus der Instanz“, oder: Unklare Verkehrslage, falsches Betanken, USt usw.

Und dann kommt hier ein kleiner Überblick zu verkehrsrechtlichen Entscheidungen, die nicht vom BGH stammen, und zwar auch wieder nur die Leitsätze und: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Eine unklare Verkehrslage i. S. d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO und damit ein unzulässiges Überholen kommt in Betracht, wenn das vorausfahrende Fahrzeug bei einem ordnungsgemäß angekündigten Rechtsabbiegen in ein Grundstück zunächst erkennbar – unter Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO – nach links ausholt. In diesem Fall hat der Überholende mit einem weiteren Ausscheren des Vorausfahrenden nach links vor dem eigentlichen Abbiegen zu rechnen.

2. Im Falle einer seitlichen Kollision zwischen einem unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bei unklarer Verkehrslage Überholenden und einem nach rechts in ein Grundstück abbiegenden Vorausfahrenden, der sich entgegen § 9 Abs. 1 S. 2, Abs. 5 StVO zunächst nach links zur Fahrbahnmitte hin einordnet und unmittelbar vor dem Rechtsabbiegen nach links ausholt, kommt eine Haftungsverteilung von 60 % zu 40 % zulasten des Überholenden in Betracht.

Es ist nicht der Betriebsgefahr i. S. d. § 7 Abs. 1 StVG eines Tanklastwagens zuzurechnen, wenn sich ein eigenständiger Gefahrenkreis aus der Risikosphäre des Bestellers verwirklicht (hier: fehlerhafte Füllstandsanzeige am Tank) und der Schadenseintritt beim Befüllvorgang weder auf ein Verschulden des Tanklastwagenfahrers noch auf einen Defekt des Tanklastwagens oder seiner Einrichtungen zurückzuführen ist.

    1. Nach den AKB 2015 ist eine Mehrwertsteuer in der Kaskoversicherung nur zu erstatten, wenn und soweit diese für den Versicherungsnehmer bei der von ihm gewählten Schadensbeseitigung tatsächlich angefallen ist.
    2. Eine solche Mehrwertsteuer ist nicht angefallen, wenn schon Monate vor dem Unfallereignis ein Nachfolgefahrzeug im Rahmen einer Fahrzeugfinanzierung bestellt worden ist, der Vertrag dann wegen Lieferschwierigkeiten für eine Bereitstellung des Ersatzfahrzeuges verlängert wird und in der Zwischenzeit vor der Lieferung des Ersatzfahrzeuges der Versicherungsfall eintritt.
    1. Es ist anerkannt, dass eine Beschaffenheitsvereinbarung auch konkludent oder stillschweigend zustande kommen kann. Dabei ist für die Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Beschaffenheit als vereinbart gilt, nicht nur auf die Beschreibung der Beschaffenheit im Kaufvertrag abzustellen, sondern es sind auch weitere schriftliche Angaben des Verkäufers an anderer Stelle des Vertragsformulars oder auch sonstiger Erklärungen des Verkäufers außerhalb der Vertragsurkunde in die Bewertung einzubeziehen.
    2. In dem bloßen Bestreiten von Mängeln kann nicht ohne weiteres eine endgültige Nacherfüllungsverweigerung gesehen werden. Etwas anderes gilt aber dann, wenn neben dem Bestreiten des Vorhandenseins von Mängeln weitere Umstände hinzutreten, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Schuldner über das Bestreiten der Mängel hinaus bewusst und endgültig die Erfüllung seiner Vertragspflichten ablehnt und es damit ausgeschlossen erscheint, dass er sich von einer ordnungsgemäßen Nacherfüllungsforderung werde umstimmen lassen.

Haftungsabwägung bei einem Eisenbahnunfall, oder: Kollision mit einem auf den Gleisen stehenden Gelenkbus

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Und heute dann am Samstag zwei verkehrszivilrechtliche Entscheidungen- Zunächst hier das OLG Celle, Urt. v. 10.05.2023 – 14 U 36/20 – zur Haftungsabwägung bei einem Eisenbahnunfall, und zwar hier die Kollision mit einem auf den Gleisen stehenden Gelenkbus. Hat man auch nicht alle Tage – zum Glück.

Folgender Sachverhalt:

„Die Parteien streiten über restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 16. September 2015 gegen 7:44 Uhr auf einem Bahnübergang in B. ereignet hat. Beteiligt waren ein Zugverband der Klägerin, bestehend aus einem führenden Doppelstocksteuerwagen, mehreren Doppelstockmittelwagen sowie einem Triebfahrzeug mit der internen Zugnummer pp.. und ein Gelenkbus der Beklagten zu 3 mit dem amtlichen Kennzeichen pp., der zum Unfallzeitpunkt von der Beklagten zu 2 geführt wurde.

Die Klägerin ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das in eigenem Namen und für eigene Rechnung Personennahverkehrsleistungen auf Eisenbahnstrecken in Niedersachsen, Hamburg und Bremen erbringt. Die Beklagte zu 1 und die Beklagte zu 3 bieten Omnibusdienstleistungen in Niedersachsen an. Die Beklagte zu 3 betreibt unter anderem die Linie 2103 zwischen B. und H. und ist Eigentümerin des verunfallten Gelenkbusses (Anlage B7). Die Beklagte zu 2 absolvierte zunächst bei der Beklagten zu 3 eine Ausbildung zur Berufskraftfahrerin mit einer Fahrerlaubnis zur Personenbeförderung. Zum Unfallzeitpunkt war sie bei der Beklagten zu 3 seit ca. neun Monaten als Busfahrerin angestellt (Arbeitsvertrag vom 26. November 2014, Anlage B8) und hatte auch schon Fahrten mit dem Gelenkbus durchgeführt.

Am Morgen des Unfalltages übernahm die Beklagte zu 2 die Linienfahrt 2103 von H. nach B.. Im Bus befanden sich ca. 60 Schüler. Die Streckenführung war zuvor aufgrund von Bauarbeiten geändert worden. Die Beklagte zu 2 war als „Springerin“ eingeteilt und die Strecke zuvor noch nicht gefahren.

Bei dem Bahnübergang „M.“ handelte es sich um einen mit Lichtzeichenanlage und Halbschranke mit Fernüberwachung gesicherten Bahnübergang.

Die Beklagte zu 2 fuhr auf der pp.straße in nördliche Richtung bis zum Bahnübergang pp.straße/pp., den sie bei geöffneter Schrankenanlage mit dem vorderen Bereich des Busses passierte und hinter dem sie scharf nach rechts in die Straße „pp..“ abbiegen musste. Die Straßenführung ist dort eng und zudem spitzwinklig.

Der Beklagten zu 2 gelang es auch nach mindestens zweimaligem Zurücksetzen nicht, mit dem Bus die Kurve zu durchfahren. Beim Rangieren geriet das Fahrzeug in eine Winkelstellung, die den sogenannten Gelenkschutz aktivierte und verhinderte, dass die Beklagte zu 2 in der eingeschlagenen Lenkrichtung weiterfahren konnte. Der Motor ließ keine weitere Gasannahme mehr zu. Der Beklagten zu 2 gelang es nicht, die Gelenksperre zu deaktivieren. Während der gesamten Zeit befand sich der Bus mit dem Heck auf den Gleisen des Bahnübergangs.

Die Beklagte zu 2 nahm sodann telefonischen Kontakt zu ihrem Betriebsleiter auf und bat diesen, die Bahngesellschaft zu informieren, als sich nach ca. drei Minuten der unfallgegnerische Zugverband näherte und das Senken der Halbschranken auslöste. Ein vollständiges Absenken der nördlichen Halbschranke war aufgrund des im Gleisbereich stehenden Busses nicht möglich. Die Beklagte zu 2 öffnete die Türen und ließ die Fahrgäste aussteigen. Ca. 20 Sekunden später prallte der Doppelstockwagen des Zuges in das Heck des Gelenkbusses.

Durch die Kollision wurden der führende Doppelstockwagen und der nachfolgende Doppelstockmittelwagen beschädigt. Insgesamt macht die Klägerin einen Schaden in Höhe von 691.702,09 € geltend. Wegen der einzelnen von der Klägerin bezifferten Schadenspositionen wird auf das landgerichtliche Urteil, Seite 3f., verwiesen.

Die Haftpflichtgemeinschaft pp. regulierte den Unfallschaden auf der Grundlage einer Haftungsquote von 2/3 zugunsten der Klägerin. Sie kürzte dabei jedoch den Anteil der geforderten Mietkosten um 20 % unter Verweis auf vermeintlich ersparte Aufwendungen und erklärte mit dem Eigenschaden der Beklagten in Höhe von 111.354,73 € die Aufrechnung gemäß der vorgenannten Quote. Sie zahlte an die Klägerin insgesamt einen Betrag in Höhe von 375.892,00 €.“

Die Klägerin war der Ansicht, die Beklagten hafteten zu 100 % für die Folgen des Unfalls. Ihre Betriebsgefahr trete zurück, weil die Beklagte zu 2 grob fahrlässig gehandelt habe und die Beklagte zu 3 die Umleitungsstrecke mit dem Gelenkbus gar nicht habe benutzen dürfen.

Die Beklagten haben gemeint, die Klägerin müsse sich ihre Betriebsgefahr anrechnen lassen, weil der Zugführer den Gelenkbus aufgrund der guten Witterungsverhältnisse und des geraden Schienenverlaufs weit im Voraus hätte erkennen können. Der Zugführer hätte die Kollision durch eine frühzeitigere Reaktion verhindern können.

Das LG hat nach Beweiserhebung durch Gutachten die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg.

Das OLG hat sein Urteil umfassend begründet. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den Volltext und stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

    1. Eisenbahn- und Eisenbahninfrastrukturunternehmen bilden grundsätzlich eine Haftungs- und Zurechnungseinheit.
    2. Es führt zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr seitens dieser Haftungs- und Zurechnungseinheit, wenn das bestehende Sicherungssystem der Fernüberwachung – vorliegend unstreitig – nicht dahingehend ausgelegt ist, den einfahrenden Triebfahrzeugführer direkt vor einem Hindernis auf dem Bahnübergang zu warnen, sondern wenn ihn diese Warnung aufgrund der bestehenden Informationskette – in der Regel – zu spät erreicht.
    3. Es ist nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Fahrer, der auf einem gesicherten Bahnübergang mit einer Eisenbahn zusammenstößt, grob fahrlässig gehandelt hat. Die Beurteilung, ob die Fahrlässigkeit als einfach oder grob zu werten ist, ist Sache der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall.

Das Überholverbot an unübersichtlichen Stellen, oder: Verbot dient auch dem Schutz des Überholten

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Im samstäglichen „Kessel Buntes“ gibt es heute dann mal wieder zwei zivilverkehrsrechtliche Entscheidungen. Beide betreffen die Haftung nach Verkehrsunfällen.

Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 U 136/21 – mit folgendem Sachverhalt:

Der Kläger begehrt von den Beklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung der umfänglichen Einstandspflicht für die ihm entstandenen und noch entstehenden Schäden aus einem Verkehrsunfall, der sich am 31.08.2019 in Nonnweiler-Primstal ereignete. Der Kläger befuhr mit seinem Rennrad in einer Gruppe von insgesamt 5 Radfahrern die Hauptstraße in Richtung Wadern. Die Teilnehmer der Gruppe fuhren zum Unfallzeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h und untereinander dicht auf; der Kläger war der vorletzte Fahrer des Pulks. Dahinter fuhr der Beklagte zu 1 in gleicher Fahrtrichtung mit dem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeug VW Golf, amtliches Kennzeichen MZG, an dem ein Anhänger angebracht war. Der Beklagte zu 1 versuchte, die Radfahrerkolonne zu überholen. Wegen eines entgegenkommenden Fahrzeugs, welches einen Pferdeanhänger zog, brach er den Überholvorgang jedoch wieder ab. Hierbei kamen der Kläger sowie zwei weitere seiner Mitfahrer – der vor ihm fahrende Zeuge F. und der hinter ihm fahrende Zeuge R. – zu Fall.

Der Kläger zog sich bei dem Sturz eine Schultereckgelenkssprengung Typ Rockwood IV an der rechten Schulter, eine Beckenprellung rechts sowie Schürfwunden am linken Unterschenkel zu. Er wurde am 03.09.2019 an der Schulter operiert und vom 03.09.2019 bis 05.09.2019 stationär behandelt Die Schulter wurde im Anschluss mit einem Schulterabduktionskissen versorgt, das der Kläger für 6 Wochen tragen musste. Er war für eine Dauer von 3 Wochen arbeitsunfähig und durfte vom 31.08.2019 bis 31.10.2019 kein Kfz führen. Für einen Zeitraum von 4 Wochen litt er unter erheblichen Schmerzen und infolge der Abduktionsschiene unter körperlichen Einschränkungen.

Die Ausführungen des OLG sind etwas länger. Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze:

    1. Das Verbot, an unübersichtlicher Stelle zu überholen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 StVO), dient nicht nur dem Schutz des Gegenverkehrs, sondern auch des zu überholenden Verkehrsteilnehmers, der ebenfalls durch ein gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO verstoßendes Überholen gefährdet werden kann.
    2. Zur Haftungsabwägung bei einem (berührungslosen) Verkehrsunfall zwischen einem im Pulk fahrenden Radfahrer und einem Pkw, der die Radfahrergruppe an unübersichtlicher Stelle überholt.

Im Übrigen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das OLG ist in seinem Urteil von einer Haftungverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Beklagten ausgegangen. 

Geschwindigkeitsüberschreitung versus Verletzung Wartepflicht beim Linksabbiegen, oder: Haftungsabwägung

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Im Kessel Buntes dann heute nach längerer Zeit mal wieder etwas Zivilrechtliches vom KG,  und zwar das KG, Urt. v. 15.02.2019 – 22 U 122/17. Es geht u.a. um den Anscheinsbeweis beim Linksabbiegen. Der Kläger hatte in Berlin den „den Gosener Damm in südöstlicher Richtung [befahren] und bog nach links in die einmündende Meisenheimer Straße ab. Der Beklagte zu 1. befuhr den Gosener Damm in entgegengesetzter Richtung. Das Fahrzeug des Klägers, ein VW Passat Kombi, wurde hinten rechts von der Front des Fahrzeuges des Beklagten zu 1., einem VW Polo älteren Baujahrs, getroffen. An der Unfallstelle galt die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Die Parteien streiten u.a. hinsichtlich der Höhe der Überschreitung dieser Höchstgeschwindigkeit durch den Beklagten zu 1.“

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen, wogegen sich der Kläger Berufung eingelegt hat. Anders als das LG kommt das KG zum Ergebnis, dass der Beklagte haftet, und zwar:

„Das Landgericht hat die Klage zu Unrecht bereits mangels Haftung der Beklagten abgewiesen, denn dem Kläger steht gegen den Beklagten zu 1. als Halter und Fahrzeugführer sowie den Beklagten zu 2. als Haftpflichtversicherer gemäß §§ 823 Abs. 1, 249 BGB; §§ 7, 17, 18 StVG; § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und S. 4 VVG; § 421 BGB wegen des Verkehrsunfalls vom 27. Februar 2015 auf dem Gosener Damm dem Grunde nach der geltend gemachte Schadenersatzanspruch in Höhe von 2/3 zu.

1. Der Kläger macht zu Recht geltend, dass das Landgericht das Ergebnis der Beweisaufnahme hinsichtlich der von dem Beklagten zu 1. gefahrenen Geschwindigkeit offensichtlich unvollständig gewürdigt hat und deshalb zu einem falschen Ergebnis gelangt ist. Vielmehr hat der Beklagte zu 1. zweifelsfrei gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen, weil er mit (mindestens) 80 km/h gefahren ist, obwohl innerorts eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h einzuhalten gewesen wäre. Angesichts der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung gegenüber der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 30 km/h müssen sich die Beklagten ein grobes (Mit-) Verschulden des Beklagten zu 1. anrechnen lassen………….

2. Durch das Verschulden des Beklagten zu 1. wird allerdings das (Mit-) Verschulden des Klägers wegen der Verletzung der ihm nach § 9 Abs. 3 S. 2 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten nicht beseitigt, denn der Kläger hat das Fahrzeug des Beklagten zu 1. rechtzeitig gesehen bzw. hätte es rechtzeitig sehen und hierauf angemessen reagieren können.

a) Zur Widerlegung des gegen ihn sprechenden Anscheins hat der Abbiegende die Einhaltung seiner Sorgfaltspflichten konkret darzulegen und zu beweisen. Ein allgemeiner Vortrag genügt nicht. Vielmehr muss u. a. plausibel sein, weshalb trotz Einhaltung der Sorgfaltspflichten das andere Fahrzeug nicht zu sehen gewesen sein sollte (Kuhnke, Darlegungs- und Beweislast bei Schadenersatzansprüchen aus Verkehrsunfällen, NZV 2018, 447, 451 [6.(1) (c)] m.w.Nw.).

b) Der Anscheinsbeweis der Verletzung der Wartepflicht wird durch die überhöhte Geschwindigkeit des Bevorrechtigten nicht erschüttert und schränkt auch den Vorrang des entgegenkommenden Verkehrs nicht ein (BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 – VI ZR 133/11NZV 2012, 217, 218 [8], BGH, Urteil vom 14.2.1984 – VI ZR 229/82NJW 1984, 1962, 1963 [II.1.b)]; Kuhnke, Darlegungs- und Beweislast bei Schadenersatzansprüchen aus Verkehrsunfällen, NZV 2018, 447, 452 [(2) zu Fn. 53]).

c) Es steht fest, dass der Beklagte zu 1. nicht weit entfernt gewesen sein kann, weshalb der Kläger nicht abbiegen durfte, selbst wenn er von gefahrenen 50 km/h ausgegangen wäre. Da der Wartepflichtige zu erkennen geben muss, seiner Wartepflicht zu genügen, und nur fahren darf, wenn er übersehen kann, dass der Vorfahrtberechtigte weder gefährdet noch wesentlich behindert wird (vgl. § 8 Abs. 2 S. 1 und S. 2 StVO als spezielle Ausformung des allgemeinen aus § 1 Abs. 2 StVO folgenden Grundsatzes), ist es nicht erlaubt, knapp vor dem Herannahen noch abzubiegen. Selbst wenn der Gegenverkehr objektiv betrachtet nicht abbremsen müsste, darf der Abstand nicht so knapp bemessen werden, dass im Hinblick auf ein denkbares verzögertes Anfahren oder erzwungenes Stehenbleiben, bspw. wegen zuvor übersehener Fußgänger oder Radfahrer, das Abbiegen unnötigerweise potenziell riskant und gefährdend ist, zumal selbst bloße Behinderungen oder Belästigungen auszuschließen sind (§ 1 Abs. 2 StVO). Es genügt also nicht, wenn das Fahrzeug im Gegenverkehr unverzögert knapp hinter der Heckstoßstange vorbeifahren könnte; vielmehr bedarf es eines deutlichen Abstandes, denn andernfalls würden verantwortungsbewusste, umsichtige Fahrer dennoch zu einem stärkeren Abbremsen genötigt. Im Übrigen war der Beklagte nicht 150 m entfernt, sondern muss deutlich näher gewesen sein, wie sich berechnen lässt und nach dem Gutachten des Sachverständigen Winninghoff (Gutachten, S. 12 Bildseite 19 B80 = 22 m R80 = 30 m, bei Tempo 80 km/h 22 m/s, d.h. sicherlich keine 100 m) ergibt. Über eine Strecke von unter 100 m bestand keinerlei Sichtbeeinträchtigung, und zwar auch (noch) nicht durch die Kurve.

3. Im Ergebnis der Abwägung der Mitverursachungs- und Mitverschuldensanteile sowie der Betriebsgefahren nach §§ 17 Abs. 1 und Abs. 2, 9 StVG, 254 BGB haben die Beklagten 2/3 des Schadens zu tragen. Zwar überwiegt das wegen der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung grobe Verschulden des Beklagten zu 1. (vgl. auch BGH, Urteil vom 14.2.1984 – VI ZR 229/82NJW 1984, 1962, 1963 [III.]; Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 15. Aufl. (2017), Rn. 232), ist jedoch nicht so wesentlich prägend, dass eine Anrechnung des Mitverschuldens des Klägers ausscheiden müsste, zumal davon auszugehen ist, dass der Kläger nicht zügig abbog, obwohl er den Pkw des Beklagten zu 1. gesehen haben muss. Ein geringerer Haftungsanteil der Beklagten kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil dem Beklagten zu 1. bewusst gewesen sein muss, dass bei Dunkelheit zwar mit Rücksicht auf die Fahrzeugbeleuchtung eine bessere Erkennbarkeit gegeben war, jedoch das Schätzen der Entfernung erschwert wurde.“