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OWi I: Geschwindigkeitsüberschreitung mit Motorrad, oder: Vorsatz, Lichtbild, Geldbuße, Fahrverbot

Und heute dann ein wenig OWi – die „Entscheidungslage“ ist in dem Bereich derzeit sehr mau.

Ich habe dann hier aber noch den auch schon etwas älteren BayObLG, Beschl. v. 10.07.2023 – 201 ObOWi 621/23.

Der Betroffene ist am 05.01.2023 – wegen einer am 25.7.2021 begangenen vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung –  Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 99 km/h – zu einer Geldbuße in Höhe von 1.200 EUR verurteilt worden; außerdem hat das AG ein Fahrverbot von zwei Monaten festgesetzt. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte keinen Erfolg, die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hatte hingegen Erfolg.

Das BayObLG hat u.a. die Fahrverbotsdauer angehoben. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze des BayObLG ein. Die lauten:

1. Bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen um mehr als 40 % kann in der Regel von vorsätzlicher Tatbegehung des Betroffenen ausgegangen werden, wenn dieser die zulässige Höchstgeschwindigkeit kannte.
2. Erst ab einem Zeitraum von zwei Jahren zwischen der Tat und der letzten tatrichterlichen Verhandlung ist allein wegen der Verfahrensdauer die Herabsetzung eines mehrmonatigen Regelfahrverbots in Betracht zu ziehen, wenn sich der Betroffene in der Zwischenzeit verkehrsordnungsgemäß verhalten hat.
3. Solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene, nicht mehr geringfügige Regelgeldbuße verhängt wird, sind Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen nicht zwingend geboten, solange sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese außergewöhnlich schlecht sind.
4. Zu den Urteilsanforderungen bei Identifizierung des Fahrers anhand eines von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes.

 

OWi I: Geschwindigkeitsüberschreitung auf der BAB, oder: Beweiswürdigung beim Vorsatz

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Und dann heute ein wenig OWi, ein paar Entscheidungen habe ich vorliegen, die ich vorstellen kann.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 06.09.2023 – 202 ObOWi 910/23 – zur „richtigen“ Beweiswürdigung hinsichtlich des Vorsatzes bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer auf einer Autobahn begangenen vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dazu führt das BayObLG aus:

„Nach den Urteilsfeststellungen befuhr der seine Fahrereigenschaft einräumende, Richtigkeit und Verwertbarkeit der (standardisierten) Messung nicht anzweifelnde Betroffene am 24.11.2022 um 17.01 Uhr als Führer eines Personenkraftwagens die BAB A8 in Richtung München, wobei er in Höhe der Messstelle die zuvor jeweils durch beidseitig insgesamt dreimal aufgestellte Schilderpaare auf 130 km begrenzte zulässige Höchstgeschwindigkeit mit gemessenen (mindestens) 181 km/h um 51 km/h überschritt. Der Betroffene handelte hierbei nach Ansicht der Amtsgerichts vorsätzlich, da er „entweder […] die zulässige Höchstgeschwindigkeit erkannt“ hatte, „indem er mindestens eines der sechs aufgestellten Schilder gesehen […] und diese bewusst ignoriert, oder […] die Beschilderung von Anfang an völlig ignoriert und außer Betracht gelassen und gleichzeitig die ihm bekannte Geschwindigkeitsbegrenzung völlig verdrängt“ hat, „so dass er zumindest billigend in Kauf genommen hat, die Geschwindigkeitsbegrenzung massiv zu überschreiten“.

Zum Tatvorwurf ließ sich der Betroffene im Wesentlichen dahin ein, dass er sich auf dem Weg von seinem Wohnort zu einem Termin in München befunden habe und die Strecke regelmäßig befahre. Bis zu dem Termin um 19.30 Uhr habe er reichlich Zeit gehabt, weshalb er nicht sofort auf die Autobahn aufgefahren, sondern zunächst noch weiter Landstraße bis Leipheim gefahren sei. Noch vor der Geschwindigkeitsmessung habe er sich an der dortigen Tank- und Rastanlage etwas zum Trinken gekauft, ehe er erst an der dortigen Anschlussstelle in Fahrtrichtung München auf die Autobahn aufgefahren sei. Die Strecke zum Flughafen München kenne er gut, da er geschäftlich häufig über den besagten Flughafen reise. „Am Tattag sei er wohl unachtsam gewesen und habe deshalb das 130er-Schild nicht gesehen. Es sei ein Versehen gewesen, dass er so schnell gefahren sei“. Das Amtsgericht hat diese Einlassung des Betroffenen dahin gewürdigt, dass selbst dann, wenn man zu seinen Gunsten hinsichtlich der behaupteten Fahrtstrecke aufgrund des vorangegangenen Halts an der Tank- und Rastanlage nicht von einer Schutzbehauptung ausgehe und der Betroffene deshalb nur ein die Geschwindigkeit auf 130 km/h begrenzendes Schilderpaar vor der Messstelle passiert haben sollte, von Tatvorsatz auszugehen sei. Denn insoweit sei zu berücksichtigen, dass der Betroffene „beim Verlassen der Tank- und Rastanlage […] genau auf ein Verkehrszeichen mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit 130 km/h zugefahren“ sei, welches „prominent am Ende des Beschleunigungsstreifens“ stehe, weshalb man „auf das rechte der beiden Verkehrszeichen […] quasi direkt“ zufahre. Im Übrigen habe der Betroffene nicht geltend gemacht, dass dieses Schild durch Schwerlastverkehr verdeckt gewesen sei, obwohl er sich an diverse andere Details zum Tattag noch genau erinnern könne. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die vorhandene Begrenzung seit Jahren unverändert bestehe und der Betroffene selbst angebe, die Strecke regelmäßig zu befahren, weshalb er die massive Geschwindigkeitsüberschreitung „in jedem Fall zumindest billigend in Kauf genommen“ habe.“

Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hat. Das BayObLG moniert die Beweiswürdigung. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung – Rest dann bitte im Selbstleseverfahren:

    1. Die Möglichkeit, die eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn anordnenden Verkehrszeichens übersehen zu haben, ist stets dann in Rechnung zu stellen, wenn sich hierfür Anhaltspunkte ergeben oder im Verfahren von dem Betroffenen eingewandt wird, die beschränkenden Vorschriftszeichen übersehen zu haben. Ist ein solcher Fall gegeben, müssen die tatrichterlichen Feststellungen deshalb selbst bei einer massiven Geschwindigkeitsüberschreitung eindeutig ergeben, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und entweder bewusst dagegen verstoßen oder aber den Verstoß zumindest billigend in Kauf genommen hat.
    2. Die der Verurteilung wegen einer auf einer Autobahn (bedingt) vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde liegende Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft, wenn sie auf einer vom Tatgericht angenommenen Tatsachenalternativität beruht, deren Grundlagen durch die Beweisaufnahme nicht durch Tatsachen belegt sind, die erkennen lassen, dass die gezogenen Schlussfolgerungen mehr als nur eine Vermutung rechtfertigen.

Einzelrichter.

Verkehrsrecht III: Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Dichtes Auffahren des Hintermannes

Und als dritte Entscheidung dann der KG, Beschl. v. 02.08.2023 – 3 ORbs 158/23 – 122 Ss 71/23. Am Aktenzeichen erkennt man, dass die Entscheidung ein OWi-Verfahren betrifft.

Es geht um eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid v gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 260 Euro verhängt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Dagegen der Einspruch. Das AG hat dann in seinem Urteil nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/ für erwiesen angesehen. In der Beweiswürdigung heißt es insoweit:

„Auf dem Tatvideo ist zu erkennen, dass der Betroffene zunächst gleichbleibend mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 Stundenkilometern auf der äußerst rechten Fahrspur fährt, als ein in der mittleren Fahrspur fahrendes Klein-fahrzeug in dem Moment in die rechte Fahrspur wechseln wollte, als sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug auf Höhe dieses Fahrzeugs befand, musste das Kleinfahrzeug ruckartig in die mittlere Fahrspur zurücklenken und der Betroffene sein Fahrzeug kurz abbremsen. Dabei ist zu erkennen, dass das messende Polizeifahrzeug so dicht auf den vom Betroffenen geführten PKW auffährt, dass zwar noch das Kennzeichen zu erkennen ist, nicht jedoch der untere hintere Karosserieabschluss des Fahrzeugs des Betroffenen. Nach einem Abbremsen beschleunigte der Betroffene dann das Fahrzeug und fährt über die mittlere in die äußerst linke Fahrspur ein, wobei er das Fahrzeug stark beschleunigt. Ebenfalls ist auf dem Tatvideo zu erkennen, dass die Beschleunigung vom Messwert 1.540 bis 1.600 Meter andauert und der Betroffene sodann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit verringert, ohne das Fahrzeug abzubremsen. Während des Spurwechsels von der äußerst rechten in die äußerst linke Fahrspur und eine kurze Fahrtstrecke auf der äußerst linken Fahrspur verringert sich der Abstand des hinterherfahrenden Fahrzeugs nicht. Erst als der Betroffene das Fahrzeug ohne Abbremsung des Fahrzeugs die Geschwindigkeit verringert und schließlich in die äußerste rechte Fahrbahn wechselt, wird der Abstand zum Polizeifahrzeug deutlich größer.“

Dagegen die Rechtsbeschwerder der Amtsanwaltschaft, die beim KG Erfolg hatte:

„1. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils enthalten keinerlei Ausführungen zur inneren Tatseite. Ob sich dies im hier gegebenen Fall einer innerorts fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits als durchgreifender und zur Aufhebung des Urteils führender Rechtsfehler erweist, kann offenbleiben. Denn auch die Beweiswürdigung ist unzureichend.

2. So stehen die Feststellungen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen. Während es bei den Feststellungen heißt, der Betroffene habe die zulässige Geschwindigkeit „um 25 Stundenkilometer“ überschritten, heißt es bei der Beweiswürdigung, der Betroffene habe, ausgehend von einer Geschwindigkeit von 75 km/h, noch „weiter beschleunigt“ (UA S. 3). Bei den Feststellungen, jedenfalls aber bei der Beweis-würdigung, müsste sich somit der über 75 km/h liegende Wert finden, den das Amtsgericht für objektiv erwiesen erachtet. Dies gilt auch für den Fall, dass das Amtsgericht diesen Wert für „nicht vorwerfbar“ (UA S. 4) hält. Denn nur, wenn die vom Betroffenen tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mitgeteilt wird, kann das Rechtsbeschwerdegericht die Würdigung des Tatrichters überprüfen, ob der Wert auch „vorwerfbar“ ist.

3. Auch bleibt gänzlich unklar, auf welcher Grundlage das Amtsgericht zum Ergebnis gekommen ist, dass der Betroffene die zulässige Geschwindigkeit um – nur – 25 km/h überschritten hat. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich, dass der Betroffene von einem Polizeifahrzeug verfolgt worden ist; offenbar ist die Geschwindigkeit also durch Nachfahren bestimmt worden.

a) Das Amtsgericht teilt nicht mit und nimmt für seine schriftlichen Urteilsgründe da-mit nicht in Anspruch, dass die Geschwindigkeit durch ein zugelassenes und geeichtes Messgerät bestimmt worden ist. Dem Urteil ist weder die Bezeichnung eines bestimmten Messverfahrens zu entnehmen noch die Veranschlagung eines bei diesem Messverfahren angezeigten Toleranzabzugs. Die Beweiswürdigung kann damit auch die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2023 – 2 BvR 1167/20 – [juris]), nicht beanspruchen. Die Beweise müssen somit in einer Weise dargelegt und gewürdigt werden, die es dem Rechtsbeschwerdegericht erlaubt, die Überzeugungsbildung des Tatgerichts nachvollziehen (vgl. Senat DAR 2015, 99). Dies ist hier nicht geschehen.

b) Die Beweiswürdigung enthält schon keine Angaben zur Messstrecke. Zwar ist der rechtlichen Würdigung zu entnehmen, dass es eine „Gesamtmessstrecke von ca. 1.600 Metern“ (UA S. 4) gegeben habe. Allerdings enthält das Urteil keine konsistenten Angaben zu dem vom verfolgenden Polizeifahrzeug während des gesamten Messvorgangs eingehaltenen Abstand (vgl. zum sog. Verfolgungsabstand grundlegend Senat DAR 2015, 99). Die Beweiswürdigung enthält lediglich eine kurze Sequenz dazu, dass das Polizeifahrzeug einmal dicht aufgefahren sei und dass sich der Abstand später „nicht verringert“ habe (UA S. 3). Zur Höhe des festgestellten Bruttowerts, also dem auf dem Tachometer des Polizeifahrzeugs abgelesenen Wert, verhält sich das Urteil ebenso wenig wie zum abgezogenen Toleranzwert. Auch ver-schweigt das Urteil, ob der Tacho des verfolgenden Fahrzeugs geeicht war, was in aller Regel von Bedeutung für den zu veranschlagenden Toleranzabzug ist. Die An-forderungen an einen durch Nachfahren gewonnen Nachweis der Geschwindigkeit verfehlt das Urteil damit auf ganzer Linie.

4. Fehl geht auch die im Rahmen der rechtlichen Würdigung dargestellte Überlegung, eine – möglicherweise tatsächlich festgestellte, aber im Urteil nicht belegte – Geschwindigkeitsüberschreitung von 38 km/h sei dem Betroffenen „nicht vorzuwerfen“, weil „diese lediglich über eine Geschwindigkeit [gemeint offenbar: Strecke] von nicht einmal 200 Metern bei einer Gesamtmessstrecke von ca. 1600 Metern andauerte“ und der Betroffene sich bedrängt gefühlt habe (UA S. 5). Möchte das Amtsgericht hier andeuten, der Betroffene sei mit der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h wegen dichten Auffahrens des nachfolgenden Polizeifahr-zeugs gerechtfertigt oder entschuldigt, so hat es nicht nur das äußere Geschehen aufzuklären und darzustellen, sondern auch die subjektive Seite mitzuteilen und zu erörtern. Denn einen Rechtssatz, eine Annäherung des nachfolgenden Fahrzeugs erlaube eine – zumal drastische – Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, gibt es nicht. Hält das Amtsgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleich-wohl für „nicht vorwerfbar“, so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hin-sicht darzustellen und in rechtlicher Hinsicht einzuordnen. Dies gilt umso mehr, als hier wohl die Überschreitung um 25 km/h für „vorwerfbar“ gehalten wird, nicht aber die überschießenden 13 km/h. Im Übrigen lassen weder die Feststellungen noch die Beweiswürdigung einen örtlichen, zeitlichen oder gar inneren Zusammenhang zwischen einem „dichten“ Auffahren des Polizeifahrzeugs und der erheblichen Geschwindigkeit des Betroffenen erkennen.“

Und dann – unschön für den Betroffenen – noch:

„5. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Ver-handlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Informatorisch teilt der Senat mit, dass die Messung hier offenbar mit einem als standardisiert anerkannten Messverfahren (ProVida mit Auswertung durch ViDistA, vgl. Senat VRR 2022, Nr. 3 [Volltext bei juris]) vorgenommen wurde und die festgestellte Durchschnittsgeschwindigkeit über 271 Meter 88 km/h betrug. Bereits bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40% kommt, sofern nicht besondere Umstände eine ab-weichende Wertung veranlassen, regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (ständige Rspr. des Senats, vgl. zuletzt VRR 2019, Nr. 8 [Volltext bei juris] m. Anm. Krenberger, jurisPR-VerkR 2/2020 Anm. 5).“

OWi II: Geschwindigkeitsmessung mit Provida, oder: Nachträgliche Auswertung vom ProViDa-Video erlaubt

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Als zweite Entscheidung dann das AG Dortmund, Urt. v. 14.02.2023 – 729 OWi-264 Js 110/23 -12/23 – zur Geschwindigkeitsüberschreitung und Zulässigkeit der nachträglichen Feststellung der gefahrenen Geschwindigkeitsfeststellung durch nachträgliche Auswertung eines ProViDa-Videos. Das AG sagt: Ist zulässig und ist dann wie folgt vorgegangen:

„Das Gericht hat das Video des Vorfalls in Augenschein genommen und auch die bei-den Videoprints, anhand derer die Messung stattgefunden hat.

Zunächst war festzustellen bei Inaugenscheinnahme des Videofilms, dass das Video im Bereich startete, indem die Geschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt wurde. Zu Beginn des Videos sind also die beidseitigen 80 km/h-Beschilderungen erkennbar und auch das Fahrzeug des Betroffenen, hinter das sich das Fahrzeug um 15:25:29 Uhr setzte.

Die Zeitangabe konnte das Gericht feststellen durch urkundsbeweisliche Verlesung des oberen rechten Datenfeldes des Messgerätes, eingespielt in die Videoaufnahme des Messsystems. In diesem Bereich unmittelbar vor der Front, ggf. eine Fahrzeug-länge davor, war zu dieser Zeit die linksseitige Beschilderung 60 km/h an der Fahr-bahn und ebenso die rechtsseitige Beschilderung sichtbar, an der der Betroffene vorbeigefahren ist und die er bei ordnungsgemäßer Sorgfalt im Straßenverkehr hätte beachten können und müssen.

Auf dem Video war dann sichtbar, wie der Betroffene im gleichbleibenden Abstand vor dem Polizeifahrzeug auf der linken Fahrspur herfuhr. Anhand der für das Polizei-fahrzeug durch das Messgerät stets eingespielten Geschwindigkeit, die das Gericht jeweils urkundsbeweislich verlesen konnte und die sich rechts unter im Video erkennen ließ, konnte festgestellt werden, dass der Betroffene stets die zulässige Höchst-geschwindigkeit während des gesamten zwischen 15:25:22 Uhr und etwa 15:29 Uhr gefertigten und in Augenschein genommenen Videos überschritten hat, bis nach dem geschwindigkeitsbegrenzenden 80-Km/h-Bereich ein Bereich von 120 km/h Höchst-geschwindigkeit folgt.

Bei Inaugenscheinnahme der maßgeblichen Prints der Messung (hier eingefügt; auf die beiden Prints wird wegen der Einzelheiten – insbesondere zur Größe des Fahr-zeugs des Betroffenen auf der linken Fahrspur, des gleichbleibenden Abstands zum videografierenden Polizeifahrzeug, der Erkennbarkeit der Beschilderung und der 2-spurigen Fahrbahnführung – verwiesen gem. § 267 Abs. 1 Nr. 3 StPO) konnte das Gericht feststellen, dass beide Prints aus einer Nachfolgesituation um 15:25:31 Uhr (unteres Print) und 15:25:37 Uhr (oberes Print) gefertigt wurden. Wegen der eingespielten und von der Eichung des Gerätes umfassten Uhrzeitangabe wurden die Datenfelder der Prints urkundsbeweislich verlesen. Das Polizeifahrzeug befand sich zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Fahrzeug des Betroffenen auf dem linken Fahrstreifen und folgte diesem im gleichmäßigen Abstand. Ein Vergleich der Prints ergab dabei, dass das Fahrzeug des Betroffenen sich von dem Fahrzeug der Polizei geringfügig entfernte während der festgestellten Messstrecke, so dass dies eine zusätzliche Sicherheit zu Gunsten des Betroffenen bei der Geschwindigkeitsberechnung bot.

Das Gericht hat anhand der eingespielten und urkundsbeweislich verlesenen Daten in dem 1. genannten gefertigten Print einen Stand des Wegstreckenzählers von 188.981 Metern feststellen können und bei dem 2. Bild von 15:25:37 Uhr einen Weg-streckenzählerstand von 189.177 Metern. Hieraus ließ sich eine Differenz von 196 Metern für die freigewählte und freiwählbare Messstrecke feststellen.

Anhand der beiden Prints und der darin enthaltenen urkundsbeweislich verlesenen Datenfelder hat das Gericht dann auch die Zahl der einzelnen von dem Messgerät genutzten Einzelbilder zur Aufzeichnung feststellten können. Diese ergaben sich aus einem Vergleich des Einzelbildzählers auf dem 1. zeitlich gefertigten Lichtbild von 334.009 Bildern und bei dem 2. gefertigten Lichtbild von 334.167 Bildern, woraus sich eine Differenz von 158 Bilder für die gewählte Messstrecke ergab. Jedes dieser Bilder ist entsprechend der Bedienungsanleitung des ProViDa-Messgerätes und der technischen Gegebenheiten des Messsystems 0,04 Sekunden lang, so dass sich eine Messzeit von 6,32 Sekunden errechnen lässt.

Die Geschwindigkeit war dann zu berechnen anhand der Formel: 196 Meter Mess-strecke x 3,6 : 6,32 Sekunden. Hieraus ergab sich eine zu bestimmende Geschwindigkeit von 111,65 km/h. Hiervon hat das Gericht einen Toleranzabzug entsprechend der Bedienungsanleitung von 6 km/h vorgenommen, so dass sich nach Streichung der Nachkommastellen eine Geschwindigkeit von 105 km/h als vorwerfbare Geschwindigkeit ergab und folgerichtig eine Überschreitung von 45 km/h. Diese Art der Geschwindigkeitsfeststellung ist anerkannt, auch wenn sie kein standardisiertes Messverfahren darstellt (hierzu etwa: OLG Hamm Beschl. v. 22.6.2017 – 1 RBs 30/17, BeckRS 2017, 122484; AG Castrop-Rauxel Urt. v. 26.8.2022 – 6 OWi-264 Js 1170/22-486/22, BeckRS 2022, 22074; AG Lüdinghausen Urt. v. 20.4.2015 – 19 OWi-89 Js 1431/14-139/14, BeckRS 2015, 10022).“

OWi I: Wenn Einlassung und Toleranzabzug fehlen, oder: Beim OWi-Richter fehlt das Grundwissen

Smiley

In die 5. KW. starte ich dann mit zwei OWi-Entscheidungen.

Hier kommt zunächst der OLG Koblenz, Beschl. v. 18.01.2023, – 4 ORbs 31 SsBs 17/23. Das OLG führt zu den Anforderungen an die Urteilsgründe im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung aus. Wenn man es liest, mag man es nicht glauben, dass das OLG das AG auf die Versäumnisse hinweisen muss. Das ist m.E. Grundwissen eines OWi-Richters oder besser: Sollte es sein.

„Das Rechtsmittel ist zulässig und erzielt mit der Sachrüge einen jedenfalls vorläufigen Erfolg. Die Entscheidung des Amtsgerichts beruht auf einer lückenhaften Beweiswürdigung und lückenhaften Feststellungen, da es an der Darstellung fehlt, ob und inwieweit sich der Betroffene zum Tatvorwurf eingelassen hat und welcher Toleranzwert bei der durch ein standardisiertes Messverfahren festgestellten Geschwindigkeit berücksichtigt wurde.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat sich in ihrer Stellungnahme vom 6. Januar 2023 insoweit der Begründung der Rechtsbeschwerde angeschlossen und zur Rechtsfehlerhaftigkeit von Beweis-würdigung und Feststellungen Folgendes ausgeführt:

„Das Urteil ist – auch eingedenk des Umstandes, dass an die Urteilsgründe in Buß-geldverfahren keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind – bereits deshalb aufzuheben, weil die Beweiswürdigung in Bezug auf die getroffenen Feststellungen lückenhaft ist; diese vermag daher dieselben nicht in einer für das Rechtsbeschwerdegericht rechtlich überprüfbaren Weise zu tragen. So müssen die schriftlichen Urteilsgründe nicht nur die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, sondern neben anderem auch erkennen lassen, ob und wie sich der Betroffene eingelassen hat, ob der Richter der Einlassung folgt oder diese für widerlegt ansieht (OLG Celle, Beschluss vom 9. April 2020 – 1 Ss (OWi) 4/20 –, juris; OLG Celle, Beschluss vom 27. September 2019 – 2 Ss Owi 260/19 -; OLG Bamberg, Beschluss vom 9. Juli 2009 – 3 Ss OWi 290/09 -, juris). Es bedarf einer geschlossenen und zusammenhängenden Wiedergabe der wesentlichen Grundzüge der Einlassung (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Februar 2017 -2 (10) SsBs 740/16-AK 265/16, DAR 2017, 395). Jedenfalls dann, wenn die Möglichkeit besteht, dass sich der Betroffene in eine bestimmte Richtung verteidigt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Tatrichter die Bedeutung dieser Er-klärung verkannt oder sie rechtlich unzutreffend gewürdigt hat, stellt diese Säumnis einen sachlich rechtlichen Mangel des Urteils dar (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Oktober 2016 -1 Ss 55/06- juris).

Vorliegend lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, ob sich der Betroffene in der Hauptverhandlung zur Sache überhaupt geäußert oder von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat. Folglich verhält sich das Urteil auch nicht dazu, ob der Tatrichter eine etwaige Einlassung, und ggf. in welchem Umfang, für widerlegt angesehen hat.

Darüber hinaus leidet das Urteil an einem weiteren Darstellungsmangel, der ebenfalls zur Aufhebung führt. Da es sich bei dem hier nach den Feststellungen zum Einsatz gelangtem Messverfahren (Vitronic Poliscan speed M1) um ein standardisiertes Messverfahren handelt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 13.05.2016 – 2 Owi 4 SsRs 128/15), reicht es zur Darstellung der Beweiswürdigung zu der gefahrenen Geschwindigkeit, wenn in den Urteilsgründen neben der Bezeichnung des eingesetzten Messverfahrens die gefahrene Geschwindigkeit und der berücksichtigte Toleranzwert mitgeteilt wird (BGH, NZV 1993, 485, 487; KG, Beschluss vom 20. März 2018 – 3 Ws (B) 86/18-162 Ss 37/18, beck-online; OLG Koblenz, Beschluss vom 11. August 2021 – 1 OWi 32 SsBs 145/21 -). Auf Angaben zum Messverfahren und Toleranzwert kann bei Geschwindigkeitsverstößen nur in den wenigen Fällen eines echten „qualifizierten“ Geständnisses des Betroffenen verzichtet werden (BGH NJW 1993, 3081; OLG Bamberg, NStZ-RR 2007, 321; OLG Celle, Beschluss vom 9. April 2009, 322 SsBs 301/08, juris).

Diesen Anforderungen genügt das Urteil nicht, da das Tatgericht es versäumt hat, den Umfang des gewährten Toleranzabzugs anzugeben. Zwar kann den Urteilsgründen entnommen werden, dass die Tatrichterin einen Toleranzabzug vorgenommen hat, nicht jedoch, in welchem Umfang dies geschehen ist. Das Rechtsbeschwerdegericht kann daher nicht prüfen, ob der abgezogene Toleranzwert rechtsfehlerfrei war und die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung mithin auf rechtsfehlerfreien Überlegungen beruht (KG a.a.O.). Ein qualifiziertes Geständnis des Betroffenen, das eine Ausnahme von diesen Darstellungserfordernissen begründen könnte, liegt ebenfalls (Anmerkung des Senats: … mangels wiedergegebener Einlassung erkennbar …) nicht vor.“

Dem schließt sich auch der Senat durch den zuständigen Einzelrichter an.

Auf die weiteren von dem Beschwerdeführer gegen das Urteil vorgebrachten Einwände kommt es hiernach nicht an.

Das Urteil war folglich mit den zugrundeliegenden Feststellungen gemäß §§ 79 Abs. 3 Satz 1, Abs. 6 OWiG, 353, 354 Abs. 2 StPO aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.

Der Senat weist für die erneute Verhandlung darauf hin, dass bei einer erneuten Verurteilung wohl die „mehrfache“ beiderseitige Beschilderung mit der Geschwindigkeitsbegrenzung näher auszuführen sein dürfte. Der im Urteil wiedergegebenen pauschalen und auf der Aussage des Zeugen pp. beruhenden Feststellung lässt sich nicht entnehmen, wie oft und in welcher Entfernung vor der Messstelle der Betroffene eine Beschilderung mit der Geschwindigkeitsbegrenzung passiert hat. Da die „mehrfache“ beiderseitige Beschilderung allerdings zu Lasten des Betroffenen verwertet worden ist, wäre der Umfang der Missachtung konkret darzulegen (vgl. OLG Koblenz, 4 OWi 6 SsRs 26/21 v. 08.03.2021, NZV 2021, 437 m. zutreffendem Praxiskommentar v. RiAG Greiner).“

Wie gesagt: Man glaubt es nicht.