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Pflichti I: Zweimal zu den Beiordnungsgründen, oder: Persönlichkeitsstörung/Borderline und schwieriges IfSG

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Am letzten Tag des Monats Januar – ich bin dann doch erstaunt, wie schnell die zeit an uns – zumindest an mir 🙂 – vorbeirauscht – dann noch einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Hier stelle ich zunächst zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen vor, und zwar:

Ist beim Beschuldigten eine Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ, im Sinne der Ziffer F60.31G nach ICD-10-Klassifikation, attestiert ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO zu bejahen. Insofern kommt es nicht darauf an, ob konkret kognitive Einschränkungen vorliegen, die im Sinne einer verminderten Aufnahmefähigkeit die Verteidigungsfähigkeit einschränken. Vielmehr genügt, dass die Prädisposition keine positive Prognose für ihre fortdauernde Verteidigungsfähigkeit zulässt.

Der Begriff der schwierigen Rechtslage ist weit auszulegen, da entscheidend ist, ob die Rechtslage für einen Laien schwierig ist. Dies ist sie zumindest dann der Fall, wenn eine Rechtsfrage in Rechtsprechung und Literatur streitig ist oder wenn sie Abgrenzungs- oder Subsumtionsprobleme bereitet, so bei ungeklärten Fragen des materiellen oder formellen Rechts. Die Rechtslage rund um die neuen Strafvorschriften des IfSG ist danach nicht einfach.

Pflichti I: Wieder etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Schwere Folgen, schwierige Sache, Betreuung

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Und heute dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Zunächst hier einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, wie immer „nur“ die Leitsätze. Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Bereits die Anordnung der Betreuung allein kann einen Fall einer notwendigen Verteidigung begründen. Jedenfalls liegt aber im Falle eines geistigen Gebrechens dann ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn auf Grund des Grades der Behinderung die Möglichkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, gerade nicht vorliegt.

1. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung unter anderem dann vor, wenn wegen der Schwere der drohenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.
2. § 141 StPO setzt nicht voraus, dass der Beschuldigte förmlich durch Eröffnung des Tatvorwurfs gemäß § 136 Abs. 1 Satz 1 StPO Kenntnis von einem gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahren erlangt hat.

Die Rechtslage ist nicht schwierig im Sinn von § 140 Abs. 2 StPO, wenn einem nicht deutschsprachigen Betroffenen ein Bußgeldbescheid zwar zur wirksamen Verteidigung und im Hinblick auf ein faires Verfahren zu übersetzen gewesen und damit ggf. mit Übersetzung zuzustellen gewesen wäre, die Frage der Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheids und dem damit verbundenen Lauf der Einspruchsfrist jedoch keine Rolle (mehr) spielt.

1. Die Ablehnung der Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren erstreckt sich grundsätzlich auch auf das Hauptverfahren. Eine Ausnahme kann etwa dann anzunehmen sein, wenn zwischenzeitlich andere Tatsachen bekannt geworden sind.
2. Eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe, die für sich genommen allein bereits die – ohnehin nicht starr zu betrachtende – Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe überschreitet, führt nicht dazu führen, dass jedes weitere Verfahren ohne jegliche Prüfung einen Fall notwendiger Verteidigung auslöst, vor allem dann nicht, wenn der Verurteilte im Strafverfahren der in Rede stehenden Bewährungssache anwaltlich vertreten und damit ausreichend verteidigt ist.

Angesichts des Umstandes, dass eine vorliegende, nicht einschlägige und geringfügige, Tat bereits mehr als 15 Monate zurück liegt und nach Aktenlage keine anderweitigen Bewährungsverstöße bekannt geworden sind, ist ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung knapp vor Ablauf der Bewährungszeit bereits aus Verhältnismäßigkeitsgründen ausgeschlossen und daher eine Pflichtverteidigerbestellung nicht erforderlich.

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

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Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.

Pflichti III: Potpourri von Beiordnungsgründen, oder: Ausländer, Steuer, „ungeimpft“, Betreuung, Beweislage

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Und zum Tagesschluss dann noch einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – also i.d.R. §3 140 Abs. 2 StPO. Hier stelle ich aber nur die Leitsätze vor, sonst wird es zu viel. Den Volltext muss man dann ggf. selbst lesen 🙂 . Und da sind dann.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein ukrainische Beschuldigte, der ein Vergehen gem. § 235 StGB vorgeworfen wird, deren Sprachdefizite durch die Zuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.

Steht der Beschuldigte unter Betreuung und zählt zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden, ist insoweit stets von einer notwendigen Verteidigung wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung auszugehen.

Es liegt eine schwierige Beweislage, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert vor, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen.

1. Es besteht schon eine schwierige Rechtslage, wenn divergierende obergerichtliche zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat (im Hinblick auf die Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist.
2. Eine schwierige Rechtslage besteht wohl auch, wenn eine Verständigung erörtert wird.
3. Bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsfolge sind in die Beurteilung ggf. durch eine Verurteilung drohende Nebenfolgen einzubeziehen.

In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO).

Pflichti II: Bestellung im JGG-Verfahren wegen BtM, oder: Schwierge Sachlage, wenn viele Polizeizeugen

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Im zweiten Posting dann etwas zur Schwere der Tat i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Zunächst der Hinweis auf den LG Mannheim, Beschl. v. 16.02.2022 – 7 Qs 9/22. Das LG hat in einem JGG-Verfahren mit dem Vorwurf des Handeltreibens mit BtM, und zwar u.a. gewerbsmäßig, einen Pflichtverteidiger bestellt. Hier die Begründung:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO vor, da zumindest die Schwere der Tat eine Beiordnung rechtfertigt.

Aufgrund der bisherigen Ermittlungen, insbesondere aber aufgrund der Angaben des Beschuldigten im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung vom 15.04.2021, in der er umfassende Angaben zu seinen bisherigen Drogengeschäften gemacht hat, werden dem Beschuldigten derzeit mehr als 80 Fälle des Erwerbs von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum (jeweils 1 -g Marihuana) sowie mehr als 15 Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (mit einer Gesamtmenge von rund 600 g Marihuana) zur Last gelegt, wobei. bzgl. des Handeltreibens von einer gewerbsmäßigen Begehungsweise im Sinne des § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG auszugehen ist (vgl. die Übersicht der Staatsanwaltschaft Mannheim vom 22.12.2021, BI. 74 u. 75). Die Taten soll er im Zeitraum von Januar 2020 bis März 2021 jeweils über einen Zeitraum von mehreren Monaten begangen haben.

Abgesehen davon, dass Dauer und Umfang der Taten durchaus Raum für die Annähme des Vorliegens schädlicher Neigungen lassen und damit ggf. auch an die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu denken wäre, sind die Taten des gewerbsmäßigen Handeltreibens als solche aufgrund des – jedenfalls im Erwachsenenstrafrecht geltenden – Regelstrafrahmens von mindestens einem Jahr als schwer anzusehen.

Der Gesetzgeber hat sich durch die Neugestaltung des § 140 Abs. 2 StPO bewusst von der reinen Ausrichtung der Schwere der Tat nach der zu. erwartenden Rechtsfolge gelöst und die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge als eigenständige Voraussetzung normiert- damit kommt der Schwere der Tat ein eigenständiger Anwendungsbereich zu, der nur in der Schwere des Tatvorwurfs liegen kann (vgl. BeckOK/Noah JGG § 68 RN 13; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68 RN.24). Dass eine Tat; die – wenn gleich als Regelbeispiel – grds. mit einer Mindeststrafe von einem Jahr, bedroht ist, als schwer anzusehen ist, liegt auf der Hand, zumal wenn wie im vorliegenden Fall die Tat wiederholt begangen worden ist.

Zudem ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu beachten, dass diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und des geistigen und körperlichen Entwicklungsprozesses, in dem sie sich befinden, weit Weniger als-Erwachsene in der Lage sind, die Abläufe und Tragweite eines Strafverfahrens, insbesondere auch für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung ab-zu schätzen und sich dementsprechend zu verteidigen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet deshalb eine diesem Umstand gerecht werdende – in Rspr. und Lit. auch als „großzügig und extensiv“ bezeichnete (vgl. OLG Schleswig-Holstein StraFo 2009, 28; OLG Hamm StV 2008, 120; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2007, 282; OLG Brandenburg NStZ 2002, 184; OLG Hamm StraFo 2002, 293; Beck9K/Noah JGG § 68 RN 12; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68. RN 23; Ostendorf, JGG, 11. Aufl. § 68 .RN 7f), jeweils m.w.N.) – Anwendung des § 68 Abs. 1 .Nr. 1 JGG. Im vorliegenden Fall ist nicht nur zu‘ berücksichtigen, dass der Beschuldigte erst vor wenigen Tagen 18 Jahre alt geworden ist, sondern auch, dass es sich bei ihm – was der regelmäßige und relativ intensive Drogenkonsum nahelegt – durchaus um eine instabile Persönlichkeit handeln könnte.

Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Versagung der Beiordnung, auch eine dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG nicht entsprechende Privilegierung erwachsener Straftäter darstellen würde. Maßgeblich ist nach §.68 Abs. 1 Nr. 1 JGG, ob im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde; davon wäre, bei einem Erwachsenen bei vergleichbaren Tatvorwürfen ohne Weiteres auszugehen. Dass im Jugendstrafrecht im Hinblick auf die Entwicklung jugendlicher Straftäter ein breites Spektrum von. Rechtsfolgen vorgesehen ist und diese Rechtsfolgen nicht mit der Eingriffsintensität von Geld-. oder Freiheitsstrafen verlieren sind, rechtfertigt nicht, den jugendlichen Täter allein aufgrund der geringeren Rechtsfolgenerwartung schlechter als den Erwachsenen zu stellen.“

Und zur Abrundung dann noch der LG Düsseldorf, Beschl. v. 14.02.2022 – 18 Qs 9/22. Es handelt sich um einen „Polizeizeugenfall“. Das LG hat bestellt. Hier der Leitsatz:

Ein Fall der notwendigen Verteidigung unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann aufgrund der zu erwartenden umfangreicheren Beweisaufnahme durch Vernehmung einer Vielzahl von Polizeizeugen anzunehmen sein.