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Pflichti III: Nochmals zur rückwirkenden Bestellung, oder: Uneinigkeit im Haus

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Und dann im letzten Beitrag noch einige Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Dazu kann man inzwischen feststellen, dass die wohl herrschende Meinung in der Rechtsprechung der LG/AG die rückwirkende Bestellung als zulässig ansieht. Das lässt sich in etwa folgenden Leitsätzen zusammenfassen:

1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. „Unverzüglich“ im Sinnde des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhlab von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nahc § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Dazu hier dann LG Flensburg, Beschl. v. 05.10.2021 – II Qs 45/21, LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 31.05.2022 – 5/6 Qs 20/22 zur (rückwirkenden) Bestellung im Strafbefehlsverfahren, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung die Bestellungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, LG Kiel, Beschl. v. 30.08.2021 – 1 Qs 30/21LG Kiel, Beschl. v. 22.7.2022 – 5 Qs 7/22 und LG Konstanz, Beschl. v. 10.09.2022 – 3 Qs 68/22.

Teilweise wird die rückwirkende Bestellung aber auch als unzulässig angesehen, wie z.B. hier der LG Kiel, Beschl. v. 31.03.2022 – 10 Qs 19722 und der AG Flensburg, Beschl. v. 04.08.2022 – 480 Gs 829/22.

Was mich immer erstaunt ist die teilweise uralte Rechtsprechung, die zur Stützung der ablehnenden Ansicht herangezogen wird, und: Warum ist man sich nicht innerhalb eines Gerichts einig, wie man entscheiden will – siehe die Entscheidungen aus Kiel 🙂 .

Pflichti I: 5 x Beiordnungsgründe, oder: Betreuung, OWi, Ausländer, Gesamtstrafe, Beweisverwertungsverbot

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Heute dann ein Pflichtverteidigungstag. Ich könnte auch schreiben. Heute ist der Tag des LG Kiel :-). Grund: Ein Kollege aus Kiel hat neulich „die Ecken sauber gemacht“ und mir einige Entscheidungen geschickt, die ich dann dann heute vorstelle. Zum Teil sind sie etwas älter, aber ich bringe sie dennoch.

Ich beginne mit insgesamt fünf Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen (§§ 140 ff. StPO). Ich stelle aber – schon aus Platzgründen nur die Leitsätze vor. Den Rest muss man dann bitte selst lesen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Entscheidungen:

Steht der Angeklagte unter umfassender Betreuung, insbesondere auch in Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, begründet dies erhebliche Zweifel daran, dass sich der Angeklagte selbst verteidigen kann.

    1. Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Hiervon umfasst sind auch Fälle, in denen sich Fallgestaltungen aufdrängen, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt.
    2. Etwaige ausländerrechtliche Folgen im Falle einer Verurteilung sind nicht geeignet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu rechtfertigen.
    3. Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies ist anzunehmen, wenn eine Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe besteht, wobei es in einem Fall möglicher Gesamtstrafenbildung auf die Höhe der zu erwartenden Gesamtstrafe und nicht auf die Straferwartung hinsichtlich der Einzelstrafe aus einem in die Gesamtstrafenbildung einzubeziehenden Verfahren ankommt.

Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist im Wege einer Gesamtbetrachtung aller ggf. zu erwartenden Rechtsfolgen zu ermitteln. Somit kommt es für die Beurteilung der Gesamtwirkung der Strafe lediglich darauf an, ob im hiesigen Verfahren mit einer (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung zu rechnen ist.

Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt.