Schlagwort-Archive: Waffengleichheit

Nebenklage II: Bewilligung von PKH für die Nebenklage, oder: Psychische Betroffenheit und Waffengleichheit

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Die zweite Entscheidung zur Nebenklage, der LG Stade, Beschl. v. 20.02.2023 – 102 Qs 55/22 – nimmt Stellung zur Gewährung von Prozesskostenhilfe für den Nebenkläger zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts.

Die Staatsanwaltschaft führt gegen den Angeklagten ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung. Dem Beschuldigten wird dabei zur Last gelegt, am 20.01.2022 gegen 23:45 Uhr in Stade auf offener Straße gewalttätig gegenüber seiner damaligen Lebensgefährtin, der Nebenklägerin, gewesen zu sein. Nach Abschluss der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Beschuldigten erhoben. Das AG Stade das Hauptverfahren vor dem Strafrichter eröffnet.

Mit Schreiben vom 21.07.2022 teilt der Kollege Breu, der mir den Beschluss geschickt hat, mit, dass er die Nebenklägern vertrete und erklärt den Anschluss der Nebenklage. Zudem beantragt er, als Beistand bestellt zu werden. Das AG hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter der Beiordnung des Kollegen dann aber zurückgewiesen. Dagegen das Rechtsmittel der Nebenklägerin, das beim LG Erfolg hatte:

„Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor.

Gemäß § 397a Abs. 2 StPO ist dem Nebenkläger auf Antrag Prozesskostenhilfe für die Bestellung eines anwaltlichen Beistands zu bewilligen, wenn er mittellos ist und seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet sich dabei grundsätzlich nach den Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, also nach den §§114 ff. ZPO.

Die Nebenklägerin ist im Sinne der §§ 114, 115 ZPO nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten eines Rechtsanwaltes aufzubringen. Die Nebenklägerin ist Studentin und erhält Unterhaltszahlungen in Höhe von 429,00 Euro von ihrem Vater sowie Kindergeld in Höhe von 219,00 Euro. Darüber hinaus verdient sie im Rahmen eines Nebenjobs 205,00 Euro. Die monatlichen Wohnkosten der Nebenklägerin belaufen sich auf 130,00 Euro und 32,00 Euro fallen für das Semesterticket an. Auch verfügt die Nebenklägerin nicht über ein Vermögen, das die Grenze des § 90 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII übersteigen würde, sodass Mittellosigkeit im Sinne der Vorschriften vorliegt.

Ferner muss die Nebenklägerin entweder unfähig sein, ihre Interessen ausreichend wahrzunehmen oder es muss ihr unzumutbar sein. Die Unfähigkeit der Nebenklägerin ihre Interessen selber ausreichend wahrzunehmen, etwa aufgrund eingeschränkter geistiger Kräfte, ist auch aus Sicht der Kammer nicht ersichtlich. Die eigene Wahrnehmung ihrer Interessen ist ihr jedoch nicht zuzumuten.

Die Unzumutbarkeit der eigenen Interessenswahrnehmung stellt im Wesentlichen auf die psychische Betroffenheit der Nebenklägerin durch die Tat ab, diese sie also unvertretbar belasten würde (Valerius in: MüKo StPO, 1. Aufl. 2019, § 397a Rn. 27; Wenske in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2014, § 397a Rn. 14). Dies kann insbesondere bei Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie von schwerwiegenden Nachstellungen eine Rolle spielen. Vorliegend ist die Nebenklägerin mutmaßlich Opfer einer gefährlichen Körperverletzung geworden, sodass grundsätzlich kein Fall vorliegt, in dem die Unzumutbarkeit im Sinne von § 397a Abs. 2 StPO regelmäßig vorliegen dürfte. Die Nebenklägerin führte mit dem Angeklagten zum Tatzeitpunkt jedoch eine Liebesbeziehung, die erst im Anschluss an den angeklagten Vorfall endete. Die in der Anklage beschriebenen Gewalteinwirkungen durch den Angeklagten auf die Nebenklägerin sind von erheblichem Ausmaß und weisen zudem eine hohe Brutalität auf. Aus Sicht der Kammer dürfte bereits die Tat als solche, gerade auch weil sie innerhalb der Beziehung geschehen sein soll, eine erhebliche psychische Betroffenheit der Nebenklägerin nahelegen. Im Übrigen zeigt sich das Vorliegen einer hohen psychischen Betroffenheit aber auch dadurch, dass unmittelbar im Anschluss an den Vorfall im Elbeklinikum ein psychiatrisches Gespräch mit der Nebenklägerin geführt wurde, ein solches durch den behandelnden Arzt aufgrund des Gesamteindrucks von der Nebenklägerin also offensichtlich für notwendig erachtet wurde. Zudem nimmt die Nebenklägerin Unterstützung durch die Opferhilfe in Anspruch.

Hinzu kommt der Umstand, dass der Angeklagte einen Pflichtverteidiger hat. Zwar ist § 121 Abs. 2 StPO nicht anwendbar, sodass allein der Umstand, dass der Angeklagte einen Pflichtverteidiger hat, kein zwingender Grund für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist. Die Hauptverhandlung und insbesondere die Zeugenaussage dürfte für die Nebenklägerin aber ohnehin eine hohe Belastung darstellen, die sich durch die Anwesenheit eines Pflichtverteidigers auf Seiten des Angeklagten bei Ausbleiben eines eigenen anwaltlichen Beistands verstärken dürfte und ihr daher im Ergebnis nicht zuzumuten ist.“

Pflichti I: 6 x Beiordnungsgründe, oder: u.a. AufentG, Waffengleichheit, Steuerhinterziehung, BVV, KiPo

© fotomek -Fotolia.com

Heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Die Flut von Entscheidungen, die mir  Kollegen schicken, reißt nicht ab.

Ich starte mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

1. Verändert ein Zeuge im Verlaufe des Verfahrens seine Aussage und ist damit zu rechnen, dass Vorhalte notwendig werden, die Kenntnis vom Akteninhalt erfordern, ist die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.

2. Die Mitwirkung eines Verteidigers kann über den Wortlaut des § 140 Abs 2 StPO hinaus unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens geboten sein, wenn der Nebenkläger anwaltlich beraten ist.

Wird der Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung beim Kindergeldbezug verfolgt und kommt es für den Kindergeldanspruch wegen des grenzüberschreitenden Sachverhalts auf eine Koordinierung der Ansprüche nach Art. 68 Verordnung (EG) 883/2004 an, liegt regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung vor.

Zur verneinten Annahme der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers, obwohl nur Polizeizeugen zur Verfügung stehen, die zur Last gelegte Tat unter BtM-Einfluss begangen wurde und ein Beweisverwertungsverbot zu erörtern ist.

Die Entscheidung ist m.E. falsch. In Osnabrück hat man offenbar noch nie etwas von einem „Beiordnungsgründebündel“ gehört.

Wenn die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten — strafbewehrten — Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten, kollidiert und die Angeklagte für die Teilnahme an der Hauptverhandlung eine besondere Betretenserlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG und zudem die Verteidigungsmöglichkeiten wegen fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache, aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts eingeschränkt sind, ist die Sach – und Rechtslage schwierig i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Die Frage, ob ein Verteidiger beizuordnen ist, kann auch in einem Gesamtstrafenfall nicht losgelöst von allen in Betracht zu ziehenden Umständen des Einzelfalls entschieden werden.

In einem Verfahren wegen Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Schriften ist die Sach- und Rechtslage schwierig im Sinn des § 140 Abs. 2 StPO, da neben der Problematik der Inaugenscheinnahme der pornografischen Bilder ggf. ein Großteil der Beweismittel lediglich in englischer Sprache abgefasst vorliegen.

Pflichti I: Beiordnung wegen Waffengleichheit?, oder: Nicht unbedingt/immer

© pedrolieb -Fotolia.com

So, und heute dann noch einmal ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen. Dann hängen im Ordner aber auch keine Entscheidungen mehr zu der Thematik.

Den Reigen eröffnet der LG Stralsund, Beschl. v. 16.03.2020 – 23 Qs 6120 jug, den mir der Kollege Rakow aus Rostock geschickt. Eine bemerkenswerte Entscheidung. Nicht unbedingt wegen des Inhalts. Das war zu erwarten, dass sich die Gerichte auch nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung weiterhin mit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers aus dem sog. Grund der Waffengleichheit schwer tun würden. Man will einfach aus dem Grund nicht beiordnen, auch nicht, wenn es sich möglicherweise um einen Jugendlichen/Heranwachsenden handelt. Nein bemerkenswert aus einem anderen Grund und ich habe zweimal hingeschaut und ja, so steht es im Original: „….. eine Eintragung vom 23.12.2016, wo eine Verurteilung wegen Betruges erfolgte. Geahndet wurde dieser Betrug mit 20 Tagessätzen zu je 15 DM.“ Vielleicht kann mich ja jemand aufklären, wie das gehen soll.

In der Sache begründet das LG die Ablehnung der Bestellung dann wie folgt:

„Zu Recht hat das Amtsgericht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO lagen nicht vor.

Nach § 140 Abs. 2 StPO wird einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder ersichtlich ist, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen kann. Der Gesichtspunkt der Schwere beurteilt sich nach der zur erwartenden Rechtsfolge, wobei in der Rechtsprechung für das allgemeine Strafverfahren überwiegend bei einer Straferwartung von einem Jahr die Notwendigkeit für die Beiordnung eines Verteidigers bejaht wird, ohne dass es sich dabei um eine starre Grenze handelt (vgl. Schmitt: in Meyer/Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. § 140 Rdnr. 23 m.w.N.). Eine schwierige Sach- und Rechtslage kann gegeben sein, wenn die Schuldfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen ist. Auch wenn eine Hauptverhandlung ohne Akteneinsicht nicht umfassend vorbereitet werden kann, kann eine Schwierigkeit der Sachlage angenommen werden, da nur ein Verteidiger, gem. § 147 StPO Akteneinsicht erhält (vgl. Laufhütte/Willnow in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. § 140 Rdnr. 22 m.w.N.). Ist der Verletzte anwaltlich vertreten, kann zudem aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein (Meyer/Goßner/Schmitt a.a.O. Rdnr. 31).

Die dem Angeklagten vorgeworfene Tat wiegt nicht schwer im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO. Vorgeworfen wird dem Angeklagten eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, wobei dem Beschwerdeführer vorgeworfen wird, die Zeugin pp., die dem Geschädigten pp. helfen wollte, festgehalten zu haben. Insoweit wird auf die Anklageschrift BI. 127 und 128 verwiesen.

Ausweislich des Bundeszentralregisterauszuges vom 02.03.2020 ist der Angeklagte zuvor nicht erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält eine Eintragung vom 23.12.2016, wo eine Verurteilung wegen Betruges erfolgte. Geahndet wurde dieser Betrug mit 20 Tagessätzen zu je 15 DM.

Die zweite Eintragung enthält einen vorsätzlichen Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz mit 30 Tagessätzen zu je 40 €.

Auch eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage liegt nicht vor. Dass die anderen Angeklagten sich nicht eingelassen haben, stellt noch keine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dar, sondern ist vielmehr eine durchaus übliche Konstellation in Verfahren vor dem Strafrichter. Nebenkläger sind nicht, ersichtlich. Die Tatsache, dass zwei Mitangeklagte durch Verteidiger vertreten sind, rechtfertigt ebenfalls keine Beiordnung. Der Grundsatz der Waffengleichheit gebietet hier noch keine Beiordnung. Zwar ist zu erwarten, dass es in der Hauptverhandlung auch um die Frage der jeweiligen Tatbeteiligung der Angeklagten geht. Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, dass sich die Angeklagten gegenseitig für die Tatbegehung verantwortlich machen. Dies reicht bei der umfassenden Würdigung der Umstände im jeweiligen Einzelfall nicht dafür aus, eine Pflichtverteidigung auszusprechen. Angesichts auch dass (Anm. So im Original) von der Staatsanwaltschaft angenommenen Tatbeitrages und der belanglosen Eintragungen im Bundeszentralregisterauszug sind die vorgenannten Gesichtspunkte, die für eine Waffengleichheit sprechen würden, zu vernachlässigen.

M.E. nicht zwingend. Die Gesamtumstände sprechen für mich eher für eine Bestellung. Aber vielleicht fürchtet man ja auch, dass man dem Pflichtverteidiger zu viel „DM“ zahlen muss 🙂 .

Pflichti III: Mittäter eines Betruges?, oder: Waffengleichheit

© santi_ Fotolia.com

Etwas versöhnlicher stimmt dann die dritte Entscheidung des Tages, bei der es sich um den LG Duisburg, Beschl. v. 15.01.2019 – 31 Qs-119 Js 173/17-96/18 – handelt. Entschieden hat das LG in ihm die Thematik: Dauerbrenner Waffengleichheit:

„Der Beschwerdeführerin war gemäß § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Zwar begründet der bloße Umstand, dass ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat, die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO für sich allein nicht (KK-StPO/Laufhütte/Willnow, 7. Auflage 2013, § 140 Rn. 22 m. w. N., beck-online; OLG Köln, Beschluss vom 20.06.2012, 2 Ws 466/12, NStZ-RR 2012, 351, beck-online). In besonderen Konstellationen kann aber aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein, wenn der Mitangeklagte anwaltlich verteidigt wird, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten bzw. die Möglichkeit gegenseitiger Belastungen besteht (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage, § 140 Rn. 31 m. w. N.; OLG Köln, Beschluss vom 20.06.2012, 2 Ws 466/12, NStZ-RR 2012, 351, beck-online; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, 1. Auflage 2014, § 140 Rn. 48, beck-online). In einem solchen Fall befände sich der unverteidigte Mitangeklagte dem anderen Mitangeklagten gegenüber in einer strukturellen Unterlegenheit, die es auszugleichen gilt.

So liegt der Fall hier. Die beiden Angeklagten werden jeweils beschuldigt, einen Betrug begangen zu haben, indem sie je zwei Verrechnungsschecks zur Gutschrift auf ihr Konto bei der Postbank eingereicht haben sollen, die sie als Begünstigte und das Konto der Finanzverwaltung Dinslaken als bezogenes Konto auswiesen. Die Angeklagten haben sich bislang nicht zur Sache eingelassen. Da beide verheiratet sind und nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen Vollmacht für das Konto des jeweils anderen hatten, besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass sie sich – sollten sie sich in der Hauptverhandlung einlassen – gegenseitig belasten könnten. Dem Angeklagten pp. ist ein Pflichtverteidiger bestellt worden. Die dadurch für die Beschwerdeführerin entstehende strukturelle Unterlegenheit war durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers auch für sie auszugleichen. Die Beschwerdeführerin ist zwar derzeit nicht unverteidigt; sie hat einen Wahlverteidiger. Dies steht der beantragten Bestellung ihres bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger indes nicht entgegen. Voraussetzung einer Pflichtverteidigerbestellung ist zwar, dass der Angeklagte keinen Verteidiger hat. Ausreichend ist es insofern aber, wenn der Wahlverteidiger im Moment der Bestellung sein Wahlmandat niederlegt. In dem Beiordnungsantrag durch den bisherigen        Wahlverteidiger kann die Ankündigung einer solchen Mandatsniederlegung gesehen werden (vgl. MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, a. a. 0., § 141 Rn. 4 m. w. N., beck-online).“

Pflichti II: Ätsch-Effekt, oder: So kann man doch mit den Rechten von Angeklagten nicht umgehen

entnommen openclipart.org

Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist „unschön. Es handelt sich um den LG Essen, Beschl. v. 09.03.2018 – 64 Qs 51/17. Das Verfahren richtet sich gegen mehrere Angeklagte wegen gemeinschaftlichen Diebstahls. Zwei der Angeklagte haben einen Pflichtverteidiger, weil ua. der Grundsatz der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebiete. U.a. darauf wird auch der Beiordnungsantrag des Kollegen vom 04.10.2017 für seinen Mananten gestützt. Das AG lehnt ab am 03.11.2017 ab. Dann wird, weil die Beschwerdekammer nicht so schnell vor der HV am 08.11.2017 entscheiden kann, das Verfahren gegen den Angeklagten und einen Mitangeklagten – beide nicht in Haft – abgetrennt. Und dann:

 

 

1. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers folgt — entgegen der Sichtweise der Beschwerde — nicht daraus, dass gegen den Beschwerdeführer und die vormaligen Mitangeklagten Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben worden ist.

Zwar kommt nach § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO eine Pflichtverteidigerbestellung insbesondere auch dann in Betracht, wenn eine solche wegen der Schwere der Tat geboten erscheint. Diese „Schwere der Tat“ beurteilt sich aber maßgeblich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, wobei sich eine Pflichtverteidigerbestellung in der Regel erst bei einer Straferwartung von etwa neun Monaten Jugend- oder Freiheitsstrafe als notwendig erweist.

Dass der Angeklagte vorliegend eine solche Jugend- oder Freiheitsstrafe zu erwarten  hätte, ist — auch unter Berücksichtigung der im Bundeszentralregisterauszug vom 19.07.2017 enthaltenen 2 Voreintragungen – jedoch nicht zu etwarten, zumal das Amtsgericht bereits im Beschluss vom 03.1 1.2017 darauf hingewiesen hat, dass die vom Beschwerdeführer zu erwartenden Rechtsfolgen nichtso schwerwiegend seien.

2. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers folgt auch nicht daraus, dass dem vormals Mitangeklagten H. gem.. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist. 

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass in der Rechtsprechung umstritten ist, ob es in Konstellationen, in denen ein Mitangeklagter verteidigt ist, der Grundsatz des fairen Verfahrens und das Prinzip der Waffengleichheit gebieten, auch den weiteren Angeklagten einen Pflichtverteidiger zu bestellen (vgl. zum Streitstand etwa OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.11.2012 — 4aWs 151/12 m.w.N.).

Die Kammer teilt die – insbesondere auch in der jüngeren obergerichtlichen Rechtsprechung vertretene Auffassung, dass ein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger nur deswegen beizuordnen ist, weil auch der Mitangeklagte einen Verteidiger hat, nicht existiert.  Vielmehr ist in jedem Einzelfall anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände gesondert zu prüfen, ob aus Gründen der Waffengleichheit und / oder des fairen Verfahrens die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist (vgl. hierzu etwa OLG Köln, Beschluss vom 20.06.2012 – 2 Ws 466/12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.11.2012 — 4a Ws 151/12; OLG Hamburg, Beschluss vom 30.01.2013 – 3 Ws 5/13).

Im vorliegenden Fall führt die vorzunehmende Würdigung der zu berücksichtigenden  Gesamtumstände dazu, dass dem Beschwerdeführer nach Abtrennung der Verfahren kein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.

Vor Abtrennung der Verfahren stellte sich die Sachlage zwar anders dar.

Dabei war — worauf die Beschwerde zutreffend hinweist insbesondere zu berücksichtigen, dass in Konstellationen, in denen mehrere Angeklagte wegen derselben Tat angeklagt sind, die Möglichkeit besteht, dass sich die Angeklagten gegenseitig für die Tatbegehung verantwortlich machen, weshalb in derartigen Konstellationen ein nicht verteidigter Angeklagter einem verteidigten Angeklagten gegenüber. benachteiligt ist, zumal der verteidigte Mitangeklagte über seinen  Verteidiger jederzeit Akteneinsicht erhalten und seine Verteidigung am Akteninhalt ausrichten kann, was dem nicht verteidigten Angeklagten nicht möglich ist. Es ist daher anerkannt, dass es in derartigen Konstellationen nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens geboten sein kann, dem nicht verteidigten Angeklagten einen   Pflichtverteidiger beizuordnen, um dessen Fähigkeit, sich zu verteidigen und auf  etwaige belastende Angaben des verteidigten Mitangeklagten angemessen  reagieren zu können, sicherzustellen (vgl. etwa LG Verden, Beschluss vom 04.03.2014 – 1 Qs 36/14; LG Itzehoe, Beschluss vom „2.01.2012 – 1 Qs 3/12 sowie  i.E. auch OLG Hamburg, Beschluss vom 30.01.2013 3 Ws 5/13; OLG Köln,    Beschluss vom 20.06.2012 — 2 Ws 466/12; • OLG Stuttgart, Beschluss vom  22.11.2012 – 4a Ws 151/12).

Der Beschwerdeführer und der vormals Mitangeklagte H. haben in ihren Beschuldigtenvernehmungen bei der Polizei divergierende Angaben zu den jeweiligen Tatbeteiligungen, insbesondere auch bei dem gewaltsamen Versuch, die   Wohnungstür zu öffnen, gemacht und angegeben, jeweils selbst vor dem Haus   gewartet zu haben, mithin für sich selbst jeweils reklamiert, lediglich vor dem Haus „Schmiere gestanden“ zu haben. Der Mitangeklagte B. hat den Tatvorwurf in  Gänze abgestritten.

 In Anbetracht dieser sich widersprechenden Einlassungen war es nach den Grundsätzen der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens zwar zur Zeit des  Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers vom 04.10.2017 geboten, dem Beschwerdeführer ebenfalls einen Pflichtverteidiger zu bestellen, um sicherzustellen, dass dieser auf etwaige, nach Aktenlage zu erwartende, belastende Angaben des verteidigten vormals Mitangeklagten H. angemessen reagieren kann. 

Diese Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist jedoch dadurch  entfallen, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer und den (b.islang nicht verteidigten) Mitangeklagten B. zwischenzeitlich zur anderweitigen Verhandlung  und Entscheidung abgetrennt worden ist. Allein der Umstand, dass der ehemalige  Mitangeklagte H. nunmehr ggf. in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers   als Zeuge seine damalige Einlassung als Angeklagte wiederholen könnte, führt nicht dazu, dass der Beschwerdeführer benachteiligt ist und ihm deswegen -ein  Pflichtverteidiger beizuordnen wäre.

Nach allgemeinen Grundsätzen ist maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen für die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers vorliegen, der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Denn die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten und. seines   Verteidigers, sondern verfolgt allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu   sorgen, dass der Angeklagte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist. Die Abtrennung der Verfahren durch das Amtsgericht stellt sich auch als sachgerecht und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechend dar, da der damalige Mitangeklagte sich in Untersuchungshaft befand und eine Entscheidung über die Beschwerde nicht mehr vor dem angesetzten Hauptverhandlungstermin am 08.11.2018 ergehen konnte.2

„Unschön“ – siehe oben – ts m.E. nocht gelinde ausgedrückt. Der Kollege stellt am 04.10.2017 den Beiordnungsantrag, also einen Monat vor dem auf den 08.11.2017 terminierten HV-Termin. Über den Antrag entscheidet das AG am 03.11.2017 – das LG kann nicht mehr rechtzeitig vor der HV über die Beschwerde entscheiden. Der Kollege erfährt dann durch Beschluss vom 09.03.2018 (!): An sich wärst du beizuordnen gewesen, aber jetzt nicht mehr. Das ist der „Ätsch-Effekt“. Man könnte bei dem Verfahrensablauf auch noch auf ganz andere Gedanken kommen. Letztlich fehlen mir die Worte…., aber: So kann man doch mit den Rechten der Angeklagten nicht umgehen…