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Pflichti I: Beiordnung wegen Waffengleichheit?, oder: Nicht unbedingt/immer

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So, und heute dann noch einmal ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen. Dann hängen im Ordner aber auch keine Entscheidungen mehr zu der Thematik.

Den Reigen eröffnet der LG Stralsund, Beschl. v. 16.03.2020 – 23 Qs 6120 jug, den mir der Kollege Rakow aus Rostock geschickt. Eine bemerkenswerte Entscheidung. Nicht unbedingt wegen des Inhalts. Das war zu erwarten, dass sich die Gerichte auch nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung weiterhin mit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers aus dem sog. Grund der Waffengleichheit schwer tun würden. Man will einfach aus dem Grund nicht beiordnen, auch nicht, wenn es sich möglicherweise um einen Jugendlichen/Heranwachsenden handelt. Nein bemerkenswert aus einem anderen Grund und ich habe zweimal hingeschaut und ja, so steht es im Original: „….. eine Eintragung vom 23.12.2016, wo eine Verurteilung wegen Betruges erfolgte. Geahndet wurde dieser Betrug mit 20 Tagessätzen zu je 15 DM.“ Vielleicht kann mich ja jemand aufklären, wie das gehen soll.

In der Sache begründet das LG die Ablehnung der Bestellung dann wie folgt:

„Zu Recht hat das Amtsgericht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO lagen nicht vor.

Nach § 140 Abs. 2 StPO wird einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beigeordnet, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder ersichtlich ist, dass der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen kann. Der Gesichtspunkt der Schwere beurteilt sich nach der zur erwartenden Rechtsfolge, wobei in der Rechtsprechung für das allgemeine Strafverfahren überwiegend bei einer Straferwartung von einem Jahr die Notwendigkeit für die Beiordnung eines Verteidigers bejaht wird, ohne dass es sich dabei um eine starre Grenze handelt (vgl. Schmitt: in Meyer/Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. § 140 Rdnr. 23 m.w.N.). Eine schwierige Sach- und Rechtslage kann gegeben sein, wenn die Schuldfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen ist. Auch wenn eine Hauptverhandlung ohne Akteneinsicht nicht umfassend vorbereitet werden kann, kann eine Schwierigkeit der Sachlage angenommen werden, da nur ein Verteidiger, gem. § 147 StPO Akteneinsicht erhält (vgl. Laufhütte/Willnow in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. § 140 Rdnr. 22 m.w.N.). Ist der Verletzte anwaltlich vertreten, kann zudem aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein (Meyer/Goßner/Schmitt a.a.O. Rdnr. 31).

Die dem Angeklagten vorgeworfene Tat wiegt nicht schwer im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO. Vorgeworfen wird dem Angeklagten eine gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, wobei dem Beschwerdeführer vorgeworfen wird, die Zeugin pp., die dem Geschädigten pp. helfen wollte, festgehalten zu haben. Insoweit wird auf die Anklageschrift BI. 127 und 128 verwiesen.

Ausweislich des Bundeszentralregisterauszuges vom 02.03.2020 ist der Angeklagte zuvor nicht erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält eine Eintragung vom 23.12.2016, wo eine Verurteilung wegen Betruges erfolgte. Geahndet wurde dieser Betrug mit 20 Tagessätzen zu je 15 DM.

Die zweite Eintragung enthält einen vorsätzlichen Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz mit 30 Tagessätzen zu je 40 €.

Auch eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage liegt nicht vor. Dass die anderen Angeklagten sich nicht eingelassen haben, stellt noch keine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage dar, sondern ist vielmehr eine durchaus übliche Konstellation in Verfahren vor dem Strafrichter. Nebenkläger sind nicht, ersichtlich. Die Tatsache, dass zwei Mitangeklagte durch Verteidiger vertreten sind, rechtfertigt ebenfalls keine Beiordnung. Der Grundsatz der Waffengleichheit gebietet hier noch keine Beiordnung. Zwar ist zu erwarten, dass es in der Hauptverhandlung auch um die Frage der jeweiligen Tatbeteiligung der Angeklagten geht. Vor diesem Hintergrund besteht die Möglichkeit, dass sich die Angeklagten gegenseitig für die Tatbegehung verantwortlich machen. Dies reicht bei der umfassenden Würdigung der Umstände im jeweiligen Einzelfall nicht dafür aus, eine Pflichtverteidigung auszusprechen. Angesichts auch dass (Anm. So im Original) von der Staatsanwaltschaft angenommenen Tatbeitrages und der belanglosen Eintragungen im Bundeszentralregisterauszug sind die vorgenannten Gesichtspunkte, die für eine Waffengleichheit sprechen würden, zu vernachlässigen.

M.E. nicht zwingend. Die Gesamtumstände sprechen für mich eher für eine Bestellung. Aber vielleicht fürchtet man ja auch, dass man dem Pflichtverteidiger zu viel „DM“ zahlen muss 🙂 .

Pflichti III: Mittäter eines Betruges?, oder: Waffengleichheit

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Etwas versöhnlicher stimmt dann die dritte Entscheidung des Tages, bei der es sich um den LG Duisburg, Beschl. v. 15.01.2019 – 31 Qs-119 Js 173/17-96/18 – handelt. Entschieden hat das LG in ihm die Thematik: Dauerbrenner Waffengleichheit:

„Der Beschwerdeführerin war gemäß § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Zwar begründet der bloße Umstand, dass ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat, die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO für sich allein nicht (KK-StPO/Laufhütte/Willnow, 7. Auflage 2013, § 140 Rn. 22 m. w. N., beck-online; OLG Köln, Beschluss vom 20.06.2012, 2 Ws 466/12, NStZ-RR 2012, 351, beck-online). In besonderen Konstellationen kann aber aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein, wenn der Mitangeklagte anwaltlich verteidigt wird, so etwa wenn die Angeklagten sich gegenseitig belasten bzw. die Möglichkeit gegenseitiger Belastungen besteht (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage, § 140 Rn. 31 m. w. N.; OLG Köln, Beschluss vom 20.06.2012, 2 Ws 466/12, NStZ-RR 2012, 351, beck-online; MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, 1. Auflage 2014, § 140 Rn. 48, beck-online). In einem solchen Fall befände sich der unverteidigte Mitangeklagte dem anderen Mitangeklagten gegenüber in einer strukturellen Unterlegenheit, die es auszugleichen gilt.

So liegt der Fall hier. Die beiden Angeklagten werden jeweils beschuldigt, einen Betrug begangen zu haben, indem sie je zwei Verrechnungsschecks zur Gutschrift auf ihr Konto bei der Postbank eingereicht haben sollen, die sie als Begünstigte und das Konto der Finanzverwaltung Dinslaken als bezogenes Konto auswiesen. Die Angeklagten haben sich bislang nicht zur Sache eingelassen. Da beide verheiratet sind und nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen Vollmacht für das Konto des jeweils anderen hatten, besteht jedenfalls die Möglichkeit, dass sie sich – sollten sie sich in der Hauptverhandlung einlassen – gegenseitig belasten könnten. Dem Angeklagten pp. ist ein Pflichtverteidiger bestellt worden. Die dadurch für die Beschwerdeführerin entstehende strukturelle Unterlegenheit war durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers auch für sie auszugleichen. Die Beschwerdeführerin ist zwar derzeit nicht unverteidigt; sie hat einen Wahlverteidiger. Dies steht der beantragten Bestellung ihres bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger indes nicht entgegen. Voraussetzung einer Pflichtverteidigerbestellung ist zwar, dass der Angeklagte keinen Verteidiger hat. Ausreichend ist es insofern aber, wenn der Wahlverteidiger im Moment der Bestellung sein Wahlmandat niederlegt. In dem Beiordnungsantrag durch den bisherigen        Wahlverteidiger kann die Ankündigung einer solchen Mandatsniederlegung gesehen werden (vgl. MüKo-StPO/Thomas/Kämpfer, a. a. 0., § 141 Rn. 4 m. w. N., beck-online).“

Pflichti II: Ätsch-Effekt, oder: So kann man doch mit den Rechten von Angeklagten nicht umgehen

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, ist „unschön. Es handelt sich um den LG Essen, Beschl. v. 09.03.2018 – 64 Qs 51/17. Das Verfahren richtet sich gegen mehrere Angeklagte wegen gemeinschaftlichen Diebstahls. Zwei der Angeklagte haben einen Pflichtverteidiger, weil ua. der Grundsatz der Waffengleichheit die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebiete. U.a. darauf wird auch der Beiordnungsantrag des Kollegen vom 04.10.2017 für seinen Mananten gestützt. Das AG lehnt ab am 03.11.2017 ab. Dann wird, weil die Beschwerdekammer nicht so schnell vor der HV am 08.11.2017 entscheiden kann, das Verfahren gegen den Angeklagten und einen Mitangeklagten – beide nicht in Haft – abgetrennt. Und dann:

 

 

1. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers folgt — entgegen der Sichtweise der Beschwerde — nicht daraus, dass gegen den Beschwerdeführer und die vormaligen Mitangeklagten Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben worden ist.

Zwar kommt nach § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO eine Pflichtverteidigerbestellung insbesondere auch dann in Betracht, wenn eine solche wegen der Schwere der Tat geboten erscheint. Diese „Schwere der Tat“ beurteilt sich aber maßgeblich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung, wobei sich eine Pflichtverteidigerbestellung in der Regel erst bei einer Straferwartung von etwa neun Monaten Jugend- oder Freiheitsstrafe als notwendig erweist.

Dass der Angeklagte vorliegend eine solche Jugend- oder Freiheitsstrafe zu erwarten  hätte, ist — auch unter Berücksichtigung der im Bundeszentralregisterauszug vom 19.07.2017 enthaltenen 2 Voreintragungen – jedoch nicht zu etwarten, zumal das Amtsgericht bereits im Beschluss vom 03.1 1.2017 darauf hingewiesen hat, dass die vom Beschwerdeführer zu erwartenden Rechtsfolgen nichtso schwerwiegend seien.

2. Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers folgt auch nicht daraus, dass dem vormals Mitangeklagten H. gem.. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist. 

Dabei verkennt die Kammer nicht, dass in der Rechtsprechung umstritten ist, ob es in Konstellationen, in denen ein Mitangeklagter verteidigt ist, der Grundsatz des fairen Verfahrens und das Prinzip der Waffengleichheit gebieten, auch den weiteren Angeklagten einen Pflichtverteidiger zu bestellen (vgl. zum Streitstand etwa OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.11.2012 — 4aWs 151/12 m.w.N.).

Die Kammer teilt die – insbesondere auch in der jüngeren obergerichtlichen Rechtsprechung vertretene Auffassung, dass ein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger nur deswegen beizuordnen ist, weil auch der Mitangeklagte einen Verteidiger hat, nicht existiert.  Vielmehr ist in jedem Einzelfall anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände gesondert zu prüfen, ob aus Gründen der Waffengleichheit und / oder des fairen Verfahrens die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist (vgl. hierzu etwa OLG Köln, Beschluss vom 20.06.2012 – 2 Ws 466/12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.11.2012 — 4a Ws 151/12; OLG Hamburg, Beschluss vom 30.01.2013 – 3 Ws 5/13).

Im vorliegenden Fall führt die vorzunehmende Würdigung der zu berücksichtigenden  Gesamtumstände dazu, dass dem Beschwerdeführer nach Abtrennung der Verfahren kein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.

Vor Abtrennung der Verfahren stellte sich die Sachlage zwar anders dar.

Dabei war — worauf die Beschwerde zutreffend hinweist insbesondere zu berücksichtigen, dass in Konstellationen, in denen mehrere Angeklagte wegen derselben Tat angeklagt sind, die Möglichkeit besteht, dass sich die Angeklagten gegenseitig für die Tatbegehung verantwortlich machen, weshalb in derartigen Konstellationen ein nicht verteidigter Angeklagter einem verteidigten Angeklagten gegenüber. benachteiligt ist, zumal der verteidigte Mitangeklagte über seinen  Verteidiger jederzeit Akteneinsicht erhalten und seine Verteidigung am Akteninhalt ausrichten kann, was dem nicht verteidigten Angeklagten nicht möglich ist. Es ist daher anerkannt, dass es in derartigen Konstellationen nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens geboten sein kann, dem nicht verteidigten Angeklagten einen   Pflichtverteidiger beizuordnen, um dessen Fähigkeit, sich zu verteidigen und auf  etwaige belastende Angaben des verteidigten Mitangeklagten angemessen  reagieren zu können, sicherzustellen (vgl. etwa LG Verden, Beschluss vom 04.03.2014 – 1 Qs 36/14; LG Itzehoe, Beschluss vom „2.01.2012 – 1 Qs 3/12 sowie  i.E. auch OLG Hamburg, Beschluss vom 30.01.2013 3 Ws 5/13; OLG Köln,    Beschluss vom 20.06.2012 — 2 Ws 466/12; • OLG Stuttgart, Beschluss vom  22.11.2012 – 4a Ws 151/12).

Der Beschwerdeführer und der vormals Mitangeklagte H. haben in ihren Beschuldigtenvernehmungen bei der Polizei divergierende Angaben zu den jeweiligen Tatbeteiligungen, insbesondere auch bei dem gewaltsamen Versuch, die   Wohnungstür zu öffnen, gemacht und angegeben, jeweils selbst vor dem Haus   gewartet zu haben, mithin für sich selbst jeweils reklamiert, lediglich vor dem Haus „Schmiere gestanden“ zu haben. Der Mitangeklagte B. hat den Tatvorwurf in  Gänze abgestritten.

 In Anbetracht dieser sich widersprechenden Einlassungen war es nach den Grundsätzen der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens zwar zur Zeit des  Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers vom 04.10.2017 geboten, dem Beschwerdeführer ebenfalls einen Pflichtverteidiger zu bestellen, um sicherzustellen, dass dieser auf etwaige, nach Aktenlage zu erwartende, belastende Angaben des verteidigten vormals Mitangeklagten H. angemessen reagieren kann. 

Diese Notwendigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist jedoch dadurch  entfallen, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer und den (b.islang nicht verteidigten) Mitangeklagten B. zwischenzeitlich zur anderweitigen Verhandlung  und Entscheidung abgetrennt worden ist. Allein der Umstand, dass der ehemalige  Mitangeklagte H. nunmehr ggf. in der Hauptverhandlung des Beschwerdeführers   als Zeuge seine damalige Einlassung als Angeklagte wiederholen könnte, führt nicht dazu, dass der Beschwerdeführer benachteiligt ist und ihm deswegen -ein  Pflichtverteidiger beizuordnen wäre.

Nach allgemeinen Grundsätzen ist maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen für die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers vorliegen, der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Denn die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten und. seines   Verteidigers, sondern verfolgt allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu   sorgen, dass der Angeklagte in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist. Die Abtrennung der Verfahren durch das Amtsgericht stellt sich auch als sachgerecht und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechend dar, da der damalige Mitangeklagte sich in Untersuchungshaft befand und eine Entscheidung über die Beschwerde nicht mehr vor dem angesetzten Hauptverhandlungstermin am 08.11.2018 ergehen konnte.2

„Unschön“ – siehe oben – ts m.E. nocht gelinde ausgedrückt. Der Kollege stellt am 04.10.2017 den Beiordnungsantrag, also einen Monat vor dem auf den 08.11.2017 terminierten HV-Termin. Über den Antrag entscheidet das AG am 03.11.2017 – das LG kann nicht mehr rechtzeitig vor der HV über die Beschwerde entscheiden. Der Kollege erfährt dann durch Beschluss vom 09.03.2018 (!): An sich wärst du beizuordnen gewesen, aber jetzt nicht mehr. Das ist der „Ätsch-Effekt“. Man könnte bei dem Verfahrensablauf auch noch auf ganz andere Gedanken kommen. Letztlich fehlen mir die Worte…., aber: So kann man doch mit den Rechten der Angeklagten nicht umgehen…

Pflichtverteidiger zur Waffengleichheit, oder: Zirkelschluss?

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Und als dritte Entscheidung „kocht“ im heutigen „Kessel Buntes“ dann der LG Magdeburg, Beschl. v. 08.08.2017 – 25 Qs 51/17, den ich vom Kollegen T. Reulecke aus Wernigerode erhalten habe. Gegenstand des Beschlusses ist ein – in meinen Augen – Dauerbrenner aus dem Pflichtverteidigungsrecht, nämlich die Frage der Beiordnung eines Pflichtverteidigers aus Gründen der Waffengleichheit. Im zugrunde liegenden Verfahren geht es um einen Fahrraddiebstahl. Die Angeklagte hatte hier geltend gemacht, dass einem der Mitangeklagten – wegen der Schwere der Tat – ein Pflichtverteidiger beigeordnet worden sei. Der verteidigte Mitangeklagte habe durch das Recht seines Verteidigers zur Akteneinsicht die Möglichkeit, seine Einlassung hieran auszurichten, eine Möglichkeit, die der unverteidigten Angeklagten verwehrt sei. Nach Aktenlage bestehe somit zumindest die Gefahr bestehe, dass der verteidigte Mitangeklagte in einer gemeinsamen Hauptverhandlung die nicht verteidigte Angeklagte belaste. Das AG hat die Beiordnung abgelehnt. Das LG hat das „gehalten“:

„Die zulässige Beschwerde ist im Ergebnis unbegründet. Zutreffend hat das Amtsgericht Wernigerode den allein hier in Betracht kommenden und zu diskutierenden Beiordnungsgrund der Waffengleichheit verneint. Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Falle der anwaltlichen Vertretung durch einen Mitangeklagten nicht ausdrücklich durch den Gesetzgeber geregelt wurde, anders als der Fall der Beiordnung eines Rechtsanwaltes für den Verletzten. Dies lässt den generellen Rückschluss zu, dass auch der Gesetzgeber nicht davon ausgeht, dass allein durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei einem Mitangeklagten die Waffengleichheit derart verletzt ist, dass auch dem anderen Mitangeklagten unabhängig von dem Vorliegen der weiteren Voraussetzungen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. Es handelt sich somit um eine Einzelfallentscheidung, die unter Berücksichtigung der nach Aktenlage ersichtlichen Umstände zu beurteilen ist. Allein der Umstand, dass es sich um Mitangeklagte derselben Tat handelt und dem Mitangeklagten ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist, reicht insofern nicht aus, um allein deshalb die Gefahr der Belastung des nicht verteidigten Angeklagten durch den verteidigten Angeklagten zu begründen. Vielmehr kommt es maßgeblich auf die konkrete Beweislage sowie das Verhältnis der Angeklagten untereinander an. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass die Angeklagte offenbar schon Kontakt zum Mitangeklagten pp. aufgenommen hat und ihn im Hinblick auf die Angaben der sie belastenden Zeugen zur Rede gestellt hat. Dies ergibt sich jedenfalls aus ihrer Einlassung, die sie über ihren Anwalt mit Schriftsatz vom 27.05.2016 abgegeben hat. Darüber hinaus hat sich die Angeklagte hinsichtlich einer möglichen Motivlage, sie fälschlicherweise zu belasten, dahingehend eingelassen, dass sie und die Zeugin pp. verfeindet seien. Allein diese Verteidigungsstrategie, auch wenn sie im anwaltlichen Schriftsatz enthalten ist, dessen Inhalt im Hinblick auf die tatsächlichen Angaben jedoch nur von ihr stammen kann, zeigt, dass die Angeklagte durchaus in der Lage ist, sich angesichts der Beweissituation selbst zu verteidigen.

Auch die Möglichkeit der Akteneinsicht und daraus resultierender besserer Erkenntnis eines verteidigten Mitangeklagten rechtfertigt nicht zwangsläufig die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass jeder, der Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, noch vor Abschluss der Ermittlungen als Beschuldigter zu vernehmen ist. Im Rahmen dieser Beschuldigtenvernehmung müssen ihm der Tatvorwurf und die wesentlichen Verdachtsgründe mitgeteilt werden. In einfach gelagerten Fällen, wie dem vorliegenden, reicht dies aus, sich auch ohne Anwalt hiergegen zu verteidigen.“

M.E. unterliegt das LG einem Zirkelschluss, wenn es auf die Verteidigungsstrategie der Angeklagten abstellt.

Waffengleichheit

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Die Fähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, kann auch dann erheblich beeinträchtigt sein, wenn ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat und sich zum Beispiel die Mitangeklagten gegenseitig, Im Recht der Pflichtverteidigung sieht § 140 Abs. 2 StPO sich als Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers die „Unfähigkeit der Selbstverteidigung“ vor. Als „Untergrund“  hat sich der Begriff der sog. „Waffengleichheit“ etabliert. Davon spricht die Rechtsprechung u.a. immer, wenn einer von mehreren Angeklagten einen Verteidiger hat, ein anderer aber noch nicht und ggf. die Gefahr besteht, dass diese Angeklagten sich gegenseitig belasten. So auch die Konstellation im LG Braunschweig, Beschl. v. 18.05.2015 – 3 Qs 51/15:

„Ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 9 StPO liegt zwar ersichtlich nicht vor. Allerdings ist dem Angeklagten gemäß § 68 Nr. 1 JGG in Verbindung mit 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger unter anderem auch dann beizuordnen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten richtet sich nach seinen geistigen Fähigkeiten, seinem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Falles. Die Fähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, kann auch dann erheblich beeinträchtigt sein, wenn ein Mitangeklagter einen Verteidiger hat und sich zum Beispiel die Mitangeklagten gegenseitig, belasten. Dahingehend bedarf es unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit einer jeweiligen, Einzelfallprüfung (vgl. Meyer- Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., 2015, § 140 Rn. 30,31; LG Verden, Beschluss vom 04.03.2014, 1 Qs 36/14). Vorliegend liegt den Anklagen der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen die Angeklagten T und S , welcher von Rechtsanwalt M verteidigt wird, derselbe tatsächliche Lebenssachverhalt zugrunde. Beide Angeklagten sollen insbesondere auf den Zeugen H. zeitgleich eingeschlagen haben. Aufgrund der räumlichen, zeitlichen und personellen Nähe der bei beiden angeklagten Tat besteht zumindest die nicht fernliegende Möglichkeit, dass der verteidigte Mitangeklagte S in einer gemeinsamen Hauptverhandlung den Tatvorwurf betreffend eine den Angeklagten T belastende Aussage machen könnte. Bislang haben die Angeklagten T und S keine Angaben zur Sache gemacht. Nicht unberücksichtigt bleiben kann auch, dass nach dem angeklagten Sachverhalt aufgrund der mehreren beteiligten Personen Änderungen des bisherigen Aussageverhaltens nicht nur der Mitangeklagten, sondern auch von Zeugen möglich erscheinen und gegebenenfalls für einzelne Handlungen Rechtfertigungsgründe in Betracht kommen. Aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens heraus ist es daher erforderlich, dem Angeklagten T. einen Pflichtverteidiger zu bestellen, um seine Fähigkeit, sich zu verteidigen und auf eventuelle belastende Angaben insbesondere des Mitangeklagten S. angemessen reagieren zu können, sicherzustellen.“