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Pflichti II: Bestellung im JGG-Verfahren wegen BtM, oder: Schwierge Sachlage, wenn viele Polizeizeugen

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Im zweiten Posting dann etwas zur Schwere der Tat i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Zunächst der Hinweis auf den LG Mannheim, Beschl. v. 16.02.2022 – 7 Qs 9/22. Das LG hat in einem JGG-Verfahren mit dem Vorwurf des Handeltreibens mit BtM, und zwar u.a. gewerbsmäßig, einen Pflichtverteidiger bestellt. Hier die Begründung:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO vor, da zumindest die Schwere der Tat eine Beiordnung rechtfertigt.

Aufgrund der bisherigen Ermittlungen, insbesondere aber aufgrund der Angaben des Beschuldigten im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung vom 15.04.2021, in der er umfassende Angaben zu seinen bisherigen Drogengeschäften gemacht hat, werden dem Beschuldigten derzeit mehr als 80 Fälle des Erwerbs von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum (jeweils 1 -g Marihuana) sowie mehr als 15 Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (mit einer Gesamtmenge von rund 600 g Marihuana) zur Last gelegt, wobei. bzgl. des Handeltreibens von einer gewerbsmäßigen Begehungsweise im Sinne des § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG auszugehen ist (vgl. die Übersicht der Staatsanwaltschaft Mannheim vom 22.12.2021, BI. 74 u. 75). Die Taten soll er im Zeitraum von Januar 2020 bis März 2021 jeweils über einen Zeitraum von mehreren Monaten begangen haben.

Abgesehen davon, dass Dauer und Umfang der Taten durchaus Raum für die Annähme des Vorliegens schädlicher Neigungen lassen und damit ggf. auch an die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu denken wäre, sind die Taten des gewerbsmäßigen Handeltreibens als solche aufgrund des – jedenfalls im Erwachsenenstrafrecht geltenden – Regelstrafrahmens von mindestens einem Jahr als schwer anzusehen.

Der Gesetzgeber hat sich durch die Neugestaltung des § 140 Abs. 2 StPO bewusst von der reinen Ausrichtung der Schwere der Tat nach der zu. erwartenden Rechtsfolge gelöst und die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge als eigenständige Voraussetzung normiert- damit kommt der Schwere der Tat ein eigenständiger Anwendungsbereich zu, der nur in der Schwere des Tatvorwurfs liegen kann (vgl. BeckOK/Noah JGG § 68 RN 13; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68 RN.24). Dass eine Tat; die – wenn gleich als Regelbeispiel – grds. mit einer Mindeststrafe von einem Jahr, bedroht ist, als schwer anzusehen ist, liegt auf der Hand, zumal wenn wie im vorliegenden Fall die Tat wiederholt begangen worden ist.

Zudem ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu beachten, dass diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und des geistigen und körperlichen Entwicklungsprozesses, in dem sie sich befinden, weit Weniger als-Erwachsene in der Lage sind, die Abläufe und Tragweite eines Strafverfahrens, insbesondere auch für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung ab-zu schätzen und sich dementsprechend zu verteidigen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet deshalb eine diesem Umstand gerecht werdende – in Rspr. und Lit. auch als „großzügig und extensiv“ bezeichnete (vgl. OLG Schleswig-Holstein StraFo 2009, 28; OLG Hamm StV 2008, 120; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2007, 282; OLG Brandenburg NStZ 2002, 184; OLG Hamm StraFo 2002, 293; Beck9K/Noah JGG § 68 RN 12; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68. RN 23; Ostendorf, JGG, 11. Aufl. § 68 .RN 7f), jeweils m.w.N.) – Anwendung des § 68 Abs. 1 .Nr. 1 JGG. Im vorliegenden Fall ist nicht nur zu‘ berücksichtigen, dass der Beschuldigte erst vor wenigen Tagen 18 Jahre alt geworden ist, sondern auch, dass es sich bei ihm – was der regelmäßige und relativ intensive Drogenkonsum nahelegt – durchaus um eine instabile Persönlichkeit handeln könnte.

Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Versagung der Beiordnung, auch eine dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG nicht entsprechende Privilegierung erwachsener Straftäter darstellen würde. Maßgeblich ist nach §.68 Abs. 1 Nr. 1 JGG, ob im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde; davon wäre, bei einem Erwachsenen bei vergleichbaren Tatvorwürfen ohne Weiteres auszugehen. Dass im Jugendstrafrecht im Hinblick auf die Entwicklung jugendlicher Straftäter ein breites Spektrum von. Rechtsfolgen vorgesehen ist und diese Rechtsfolgen nicht mit der Eingriffsintensität von Geld-. oder Freiheitsstrafen verlieren sind, rechtfertigt nicht, den jugendlichen Täter allein aufgrund der geringeren Rechtsfolgenerwartung schlechter als den Erwachsenen zu stellen.“

Und zur Abrundung dann noch der LG Düsseldorf, Beschl. v. 14.02.2022 – 18 Qs 9/22. Es handelt sich um einen „Polizeizeugenfall“. Das LG hat bestellt. Hier der Leitsatz:

Ein Fall der notwendigen Verteidigung unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann aufgrund der zu erwartenden umfangreicheren Beweisaufnahme durch Vernehmung einer Vielzahl von Polizeizeugen anzunehmen sein.

Pflichti I: 6 x Beiordnungsgründe, oder: u.a. AufentG, Waffengleichheit, Steuerhinterziehung, BVV, KiPo

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Heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag. Die Flut von Entscheidungen, die mir  Kollegen schicken, reißt nicht ab.

Ich starte mit Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

1. Verändert ein Zeuge im Verlaufe des Verfahrens seine Aussage und ist damit zu rechnen, dass Vorhalte notwendig werden, die Kenntnis vom Akteninhalt erfordern, ist die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.

2. Die Mitwirkung eines Verteidigers kann über den Wortlaut des § 140 Abs 2 StPO hinaus unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit und des fairen Verfahrens geboten sein, wenn der Nebenkläger anwaltlich beraten ist.

Wird der Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung beim Kindergeldbezug verfolgt und kommt es für den Kindergeldanspruch wegen des grenzüberschreitenden Sachverhalts auf eine Koordinierung der Ansprüche nach Art. 68 Verordnung (EG) 883/2004 an, liegt regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung vor.

Zur verneinten Annahme der Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers, obwohl nur Polizeizeugen zur Verfügung stehen, die zur Last gelegte Tat unter BtM-Einfluss begangen wurde und ein Beweisverwertungsverbot zu erörtern ist.

Die Entscheidung ist m.E. falsch. In Osnabrück hat man offenbar noch nie etwas von einem „Beiordnungsgründebündel“ gehört.

Wenn die öffentlich-rechtliche Pflicht der Angeklagten zum Erscheinen vor Gericht mit der durch Ausweisung und Abschiebung begründeten — strafbewehrten — Pflicht, sich von dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten, kollidiert und die Angeklagte für die Teilnahme an der Hauptverhandlung eine besondere Betretenserlaubnis durch die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG und zudem die Verteidigungsmöglichkeiten wegen fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache, aber auch wegen der nicht vorhandenen Kenntnis des deutschen Ausländerrechts eingeschränkt sind, ist die Sach – und Rechtslage schwierig i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Die Frage, ob ein Verteidiger beizuordnen ist, kann auch in einem Gesamtstrafenfall nicht losgelöst von allen in Betracht zu ziehenden Umständen des Einzelfalls entschieden werden.

In einem Verfahren wegen Verdachts der Verbreitung kinderpornografischer Schriften ist die Sach- und Rechtslage schwierig im Sinn des § 140 Abs. 2 StPO, da neben der Problematik der Inaugenscheinnahme der pornografischen Bilder ggf. ein Großteil der Beweismittel lediglich in englischer Sprache abgefasst vorliegen.