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beA II: Bei der Berufung fehlt die „richtige“ Signatur, oder: Irrtum des Rechtsanwalts nicht unverschuldet.

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.12.2023 – 9 U 141/23 – geht es auch noch einmal um die Frage der „richtigen“ Signatur.

Die Beklagte ist vom LG teilweise zur Zahlung verurteilt worden, im Übrigen wurde die weitergehende Klage abgewiesen. Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 04.08.2023 zugestellt.

Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte am 04.09.2023 durch einen unter dem Briefkopf der Anwaltskanzlei „pp.“ verfassten, durch die Rechtsanwältin pp. persönlich auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) eingereichten Schriftsatz vom 04.09.2023, der beim OLG Zweibrücken am selben Tag um 10:13 Uhr einging, Berufung eingelegt. In gleicher Form erfolgte die am 22.09.2023 eingegangene Berufungsbegründung, mit der das Ziel einer vollständigen Klageabweisung weiterverfolgt wird.

Die Schriftsätze enden jeweils mit der Zeile „(Rechtsanwältin)“. Ein Name oder eine Unterschrift finden sich oberhalb dieser Zeile nicht). In den Transfervermerken zu den Schriftsätzen findet sich jeweils die Angabe „Sicherer Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach“ sowie in dem Feld „Qualifiziert signiert nach ERVB“ die Angabe „nein“.

Die Beklagte ist nach Eingang der Berufungserwiderung darauf hingewiesen worden, dass Bedenken betreffend die formgerechte Einlegung und Begründung ihrer Berufung bestünden, weil die Anforderungen des § 130a Abs. 3 S. 1 ZPO nicht erfüllt seien. Dazu hat sie Stellung genommen und – unter Beifügung von jeweils mit dem Zusatz „gez. pp. (Rechtsanwältin)“ versehenen Exemplaren der Berufungseinlegungsschrift und Berufungsbegründung – vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Im Übrigen vertritt sie die Auffassung, dass sowohl die Schriftsätze bezüglich Berufungseinlegung als auch Berufungsbegründung mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen seien. Denn die Namensnennung im Briefkopf sei angesichts ihrer Tätigkeit als Einzelanwältin als einfache Signatur anzusehen; zudem sei ein sicherer Übermittlungsweg gewählt worden. Sie sei ohne Sonderwissen und Beweisaufnahme als verantwortliche Person zu erkennen. Jedenfalls sei ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da das Gericht ihr den angeblichen Formmangel jeweils noch vor Fristablauf hätte anzeigen können. Die in der diesbezüglichen Unterlassung liegende gerichtsinterne Verzögerung habe sie nicht zu verantworten.

Das OLG hat die Berufung der Beklagten ist gemäß § 522 Abs. 1 S. 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen:

„Die von der Beklagten beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung ist zurückzuweisen, da die Versäumung der Notfrist des § 517 ZPO nicht unverschuldet ist (§ 233 ZPO). Denn die Beklagte muss sich das Verschulden ihr Prozessbevollmächtigten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.

1.1.1. Entgegen der Behauptung der Beklagten im Schriftsatz vom 24.11.2023 ist der Berufungseinlegungsschriftsatz vom 04.09.2023 nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (siehe dazu Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 130a Rn 7, 8) der Rechtsanwältin pp. versehen. Denn aus dem Transfervermerk (prüfvermerk.pdf) zur Berufungseinlegung ergibt sich, dass in der Rubrik „Qualifiziert signiert nach ERVB“ ausschließlich „nein“ vermerkt ist.

1.2. Entgegen der Ansicht der Beklagten genügt für eine formgerechte Berufungseinlegung auch nicht, dass der Schriftsatz vom 04.09.2023 auf einem sicheren Übermittlungsweg (besonderes elektronisches Anwaltspostfach = beA) eingereicht wurde. Denn es fehlt dem eingereichten Schriftsatz die zusätzlich notwendige einfache Signatur der für das Schreiben verantwortlichen Person.

Die einfache Signatur erfordert eine Wiedergabe des Namens am Ende des Schriftsatzes, beispielsweise in Form eines maschinenschriftlichen Namenszugs oder einer eingescannten Unterschrift.

Die einfache Signatur soll – ebenso wie die eigene Unterschrift oder die qualifizierte elektronische Signatur – die Identifizierung des Urhebers der schriftlichen Verfahrenshandlung ermöglichen und dessen unbedingten Willen zum Ausdruck bringen, die volle Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen und diesen bei Gericht einzureichen (BAGE 172, 186 = NJW 2020, 3476 Rn. 19 mwN; BSG NJW 2022, 1334 Rn. 10). Dazu muss die Namenswiedergabe so entzifferbar sein, dass sie von den Empfängern des Dokuments ohne Sonderwissen oder Beweisaufnahme einer bestimmten Person als Verantwortlicher zugeordnet werden kann (BSG NJW 2022, 1334 Rn. 9). Fehlt es hieran, ist das Dokument nicht ordnungsgemäß eingereicht. Die einfache Signatur soll gerade sicherstellen, dass die von dem Übermittlungsweg beA ausgewiesene Person mit der Person identisch ist, welche mit der wiedergegebenen Unterschrift die inhaltliche Verantwortung für das Dokument übernimmt (BAGE 172, 186 = NJW 2020, 3476 Rn. 16 mwN; BSG NJW 2022, 1334 Rn. 9).

Diesen Vorgaben wird der Berufungseinlegungsschriftsatz vom 04.09.2023 nicht gerecht. Denn der Schriftsatz endet nur mit der Bezeichnung „(Rechtsanwältin)“ ohne weitere Namensangabe.

Das Fehlen einer Namensangabe ist entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten auch nicht unschädlich. Denn die einfache Signatur soll gerade sicherstellen, dass die von dem Übermittlungsweg beA ausgewiesene Person mit der Person identisch ist, welche mit der wiedergegebenen Unterschrift die inhaltliche Verantwortung für das Dokument übernimmt (vgl. insgesamt: BGH NJW 2022, 3512 Rn 11). Die Berufungsschrift lässt sich vorliegend jedoch keiner bestimmten Person zuordnen, die Verantwortung für ihren Inhalt übernommen hat, da sie lediglich mit der nicht durch eine Namensangabe ergänzten Zeile „(Rechtsanwältin)“ versehen ist und zudem nicht einfach signiert wurde. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten ausweislich ihres Briefkopfes als Einzelanwältin tätig ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann auch bei dieser Sachlage nicht ausgeschlossen werden, dass eine im Briefkopf nicht aufgeführte Rechtsanwältin die Verantwortung für den Schriftsatz übernommen hat (BGH NJW 2022, 3512 Rn 12; siehe auch: BAG NJW 2020, 3476 Rn 17 ff.). Das Fehlen der einfachen Signatur ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht deswegen ausnahmsweise unschädlich, weil ohne Beweisaufnahme aufgrund anderer Umstände zweifelsfrei feststehen würde, dass ihre Prozessbevollmächtigte die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernommen hat (vgl. BAG NJW 2020, 3476 Rn 19). Die Verwendung des Briefbogens der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Beklagten genügt hierfür nicht, da allein hieraus nicht folgt, dass sie für den Inhalt der Berufungsschrift Verantwortung übernehmen will. Auch lässt sich dem nicht entnehmen, ob die als Absender ausgewiesene Person identisch ist mit der den Inhalt des Schriftsatzes verantwortenden Person (vgl. BAG NJW 2020, 3476 Rn 20).

2. Der Antrag der Beklagten vom 24.11.2023 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung ist zurückzuweisen, da die Versäumung der Notfrist nicht unverschuldet war (§ 233 Satz 1 ZPO). Die Beklagte muss sich das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten, nicht formgerechte (04.09.2023) und daher verspätet nachgeholte Berufungseinlegung (24.11.2023), gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.

Ein Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts über die gesetzlichen Erfordernisse ist regelmäßig nicht unverschuldet. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss ein Rechtsanwalt die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Verfahrensbevollmächtigte die volle, von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn die Partei, die dem Anwalt die Verfahrensführung überträgt, darf darauf vertrauen, dass er dieser als Fachmann gewachsen ist. Selbst wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen. Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert. Dazu besteht umso mehr Veranlassung, wenn es sich um eine vor kurzem geänderte Gesetzeslage handelt, die ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt. Ein Rechtsirrtum ist nur ausnahmsweise als entschuldigt anzusehen, wenn er auch unter Anwendung der erforderlichen Sorgfaltsanforderungen nicht vermeidbar war (vgl. BGH Beschluss vom 07.09.2022 – XII ZB 215/22, zitiert nach juris Rn. 16; BGH NJW 2019, 2230 Rn. 25 mwN). Ein etwa vorliegender Irrtum der Prozessbevollmächtigten der Beklagten über die Notwendigkeit einer einfachen Signatur war nicht unvermeidbar. Denn aus der vorliegenden Kommentarliteratur und Rechtsprechung war grundsätzlich bekannt, dass die einfache Signatur darin besteht, einen Namen unter das Dokument zu setzen, gleich ob man ihn tippt oder eine eingescannte Unterschrift einfügt. Hierüber durfte sich die Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht ohne Verletzung ihrer anwaltlichen Sorgfaltspflichten hinwegsetzen. Zudem war im Zeitpunkt der Einreichung der Berufung bereits Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs veröffentlicht, wonach das Wort „Rechtsanwalt“ als Abschluss des Schriftsatzes nicht genügt (BAG NJW 2020, 3476 und BGH NJW 2022, 3512). Das schuldhafte Verhalten der Prozessbevollmächtigten der Beklagten war auch ursächlich für die Versäumung der Berufungseinlegungsfrist.

Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass das Gericht seine ihr gegenüber bestehende prozessuale Fürsorgepflicht und damit das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren verletzt habe, mit der Folge, dass ein in der eigenen Sphäre der Partei liegendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurücktritt.

Aus dem „allgemeinen Prozessgrundrecht“ auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt die Verpflichtung des Richters zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten prozessualen Situation. Es ist ihm hiernach untersagt, aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die betroffenen Prozessparteien abzuleiten (BVerfG 14. November 2018 – 1 BvR 433/16 – Rn. 11; 17. Januar 2006 – 1 BvR 2558/05 Rn. 8). Der Anspruch auf ein faires Verfahren kann eine gerichtliche Hinweispflicht auslösen, wenn ein Rechtsmittel nicht in der vorgesehenen Form übermittelt worden ist. Eine Partei kann erwarten, dass dieser Vorgang in angemessener Zeit bemerkt wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumnis zu vermeiden. Unterbleibt ein gebotener Hinweis, ist der Partei Wiedereinsetzung zu bewilligen, wenn er bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen können und müssen, dass es der Partei noch möglich gewesen wäre, die Frist zu wahren. Kann der Hinweis im Rahmen ordnungsgemäßen Geschäftsgangs nicht mehr so rechtzeitig erteilt werden, dass die Frist durch die erneute Übermittlung des fristgebundenen Schriftsatzes noch gewahrt werden kann, oder geht trotz rechtzeitig erteilten Hinweises der formwahrende Schriftsatz erst nach Fristablauf ein, scheidet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand allein aus diesem Grund dagegen aus. Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte und dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgt keine generelle Verpflichtung der Gerichte dazu, die Formalien eines als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes sofort zu prüfen, um erforderlichenfalls sofort durch entsprechende Hinweise auf die Behebung formeller Mängel hinzuwirken (BGH 21. März 2017 – X ZB 7/15 – Rn. 13). Dies nähme den Verfahrensbeteiligten und ihren Bevollmächtigten ihre eigene Verantwortung dafür, die Formalien einzuhalten. Eine solche Pflicht überspannte die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens (BVerfG 17. Januar 2006 – 1 BvR 2558/05 – Rn. 10; BAG 5. Juni 2020 – 10 AZN 53/20 – Rn. 39; BGH 18. Oktober 2017 – LwZB 1/17 – Rn. 11). Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist, kann sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern hat auch zu berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss (vgl. BAG 5. Juni 2020 – 10 AZN 53/20 – Rn. 39; BGH 20. April 2011 – VII ZB 78/09 – Rn. 12). Hiervon ausgehend gebietet es die aus dem verfassungsrechtlichen Gebot eines fairen Verfahrens folgende gerichtliche Fürsorgepflicht, eine Prozesspartei auf einen leicht erkennbaren Formmangel – wie die fehlende Unterschrift in einem bestimmenden Schriftsatz – hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu beheben (dazu BGH 14. Oktober 2008 – VI ZB 37/08 – Rn. 10).

Daran gemessen ist dem Senat bei der Versäumung der Frist zur Berufungseinlegung keine Fürsorgepflichtverletzung vorzuwerfen.

Die Annahme der Beklagten, das Oberlandesgericht hätte auf die am letzten Tag der Notfrist, den 04.09.2023, 10:13 Uhr, übermittelte Berufungsschrift noch im Laufe des Tages darauf hinweisen müssen, dass die Voraussetzungen des § 130a ZPO nicht erfüllt sind, überspannt die gerichtliche Überprüfungspflicht. Zwar darf eine Frist bis zum Ende ausgeschöpft werden; allerdings gilt dann ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab, der insbesondere auch die Überprüfung der Form der Rechtsmittelschrift durch den Rechtsanwalt umfasst. Eine Pflicht des Gerichts, an der Heilung von Form- und Fristmängeln durch außerordentliche Maßnahmen außerhalb des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs mitzuwirken, besteht nicht (vgl. BGH NJW 2013, 236; NJW-RR 2014, 2). Dass der ordnungsgemäße Geschäftsgang nicht vorsieht, dass vom zuständigen Spruchkörper innerhalb weniger Stunden von eingehenden Berufungen Kenntnis genommen wird, um auf mögliche Formmängel hinzuweisen, bedarf keiner weiteren Ausführungen.

Im normalen Geschäftsgang ist das Berufungsverfahren durch die Eingangsgeschäftsstelle nach dem bestehenden Turnussystem dem 9. Zivilsenat zugeteilt worden. Im Anschluss daran hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle mit Verfügung vom 07.09.2023 (Bl. 13, 14 d. eA II) die Eingangsformalien erledigt und das Verfahren wegen Urlaubs des Vorsitzenden der Stellvertreterin zur Kenntnis vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt konnte eine rechtzeitige Berufungseinlegung durch die Beklagte nicht mehr erfolgen. Ein Verschulden von Seiten des Gerichts ist daher nicht gegeben.“

beA I: beA/elektronisches Dokument im Zivilrecht, oder: aktuelle Software, Zustellung, Ersatzeinreichung

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Und heute im „Kessel Buntes“ u.a. beA-Entscheidungen. Hier kommt zunächst eine kleine Zusammenstellung von Entscheidungen aus dem Zivilverfahren, allerdings immer nur die Leitsätze der Entscheidungen, und zwar:

1. Für die Rücksendung des elektronischen Empfangsbekenntnisses in Form eines strukturierten Datensatzes per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) ist es erforderlich, dass aufseiten des die Zustellung empfangenden Rechtsanwalts die Nachricht geöffnet sowie mit einer entsprechenden Eingabe ein Empfangsbekenntnis erstellt, das Datum des Erhalts des Dokuments eingegeben und das so generierte Empfangsbekenntnis versendet wird. Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt mithin die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird.

2. Das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis erbringt – wie das herkömmliche papiergebundene (analoge) Empfangsbekenntnis – gegenüber dem Gericht den vollen Beweis nicht nur für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt, sondern auch für den angegebenen Zeitpunkt der Entgegennahme und damit der Zustellung. (Anschluss an BVerwG, Beschluss vom 19. September 2022 – 9 B 2/22, NJW 2023, 703).

Der von der Vollstreckungsbehörde in Form eines elektronischen Dokuments zu erteilende Vollstreckungsauftrag zur Pfändung und Verwertung beweglicher körperlicher Sachen nach dem Justizbeitreibungsgesetz (JBeitrG), der eine qualifizierte elektronische Signatur des bearbeitenden Mitarbeiters als der verantwortenden Person trägt, genügt den im elektronischen Rechtsverkehr geltenden Formanforderungen (Anschluss an BGH, Beschl. v. 6.4. 2023 – I ZB 84/22, NJW-RR 2023, 906).

1. War es bereits im Zeitpunkt der Ersatzeinreichung eines Schriftsatzes möglich, die vorübergehende technische Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung darzulegen und glaubhaft zu machen, hat dies mit der Ersatzeinreichung zu erfolgen; in diesem Fall genügt es nicht, wenn die Voraussetzungen für eine Ersatzeinreichung nachträglich darlegt und glaubhaft gemacht werden (BGH, Beschl. v. 17.11.2022 – IX ZB 17/22, NJW 2023, 456 f.).

2. Die an die Nutzungspflicht und die an eine Ersatzeinreichung eines elektronischen Dokuments zu stellenden Voraussetzungen ergeben sich aus dem Gesetz. Dass die Rechtsmittelbelehrung darauf nicht gesondert hinweist, ist unschädlich und führt nicht zur Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

1. Die Glaubhaftmachung der vorübergehenden Unmöglichkeit der Einreichung eines Schriftsatzes als elektronisches Dokument bedarf einer aus sich heraus verständlichen, geschlossenen Schilderung der tatsächlichen Abläufe oder Umstände. Hieran fehlt es, wenn die glaubhaft gemachten Tatsachen jedenfalls auch den Schluss zulassen, dass die Unmöglichkeit nicht auf technischen, sondern auf in der Person des Beteiligten liegenden Gründen beruht.

2. Rechtsanwälte, die ihre beA-Software nicht aktualisieren, können sich nicht auf eine technische Unmöglichkeit berufen, wenn deshalb ein fristgebundener Schriftsatz zu spät bei Gericht eingeht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt in solchen Fällen nicht in Betracht.

Ein Rechtsmittel ist unzulässig, wenn die Rechtsmittelschrift zwar  von einem Rechtsanwalt auf einem sogenannten sicheren Übermittlungsweg eingereicht wird, aber weder einfach noch qualifiziert elektronisch signiert wurde.

 

Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Anrechnung, so die „geballte OLG_Intelligenz“

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Und als zweite Entscheidung dann der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.-10.2023 – 1 Ws 200/23. Eine – in meinen Augen – „Besserwisserentscheidung“ eines OLG, das die vorhergehenden richtigen Entscheidungen des AG Speyer., Beschl. v. 23.03.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19 und des AG Speyer, Beschl. v. 05.04.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19  und des LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23, über die ich ja jeweils hier auch berichtet habe (vgl. u.a. Erst „beschränkter, dann „voller“ Pflichtverteidiger, oder: Keine Anrechnung, sagt auch das LG Frankenthal).

Ich erinnere an den Sachverhalt: Dem Beschuldigten ist der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht worden. Ihm wurde mit Beschluss des AG vom 16.12.2020 der Kollege Flory für die Dauer der Vernehmung einer Zeugin im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beigeordnet. Nach Abrechnung der insoweit entstandenen gesetzlichen Gebühren ist der Kollege dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit Beschluss vom 21.o4.2021 als Pflichtverteidiger beigeordnet worden. Dafür sind dann seine weiteren Gebühren und Auslagen wie folgt vom AG festgesetzt worden: Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG, Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG, zweimal Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG mit einem Zuschlag Nr. 4110 VV RVG und Auslagen. Die dagegen eingelegte Erinnerung der Vertreterin der Staatskasse hatte keinen Erfolg (das sind die o.a.  AG Speyer Beschlüsse). Gegen den Beschluss des AG hat die Staatskasse natürlich Beschwerde eingelegt. Diese hat das LG Frankenthal mit dem LG Frankenthal, Beschl. v. 05.07.2023 – 2 Qs 144/23 – zurückgewiesen.

Solche Entscheidungen lassen die Vertreter der Staatskasse dann natürlich nicht ruhen. Und er hat weitere Beschwerde eingelegt und hatte damit beim OLG Erfolg:

„Das Rechtsmittel der Vertreterin der Landeskasse ist gern. §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 RVG zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Die im Beschlussausspruch genannten Entscheidungen des Amtsgerichts Speyer und des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) sind rechtsfehlerhaft.

Der Verteidiger ist demselben Angeklagten in demselben Strafverfahren während des Ermittlungsverfahrens zweimal beigeordnet worden. In diesem Fall stellt ein und dasselbe Strafverfahren – jedenfalls für jede Instanz – immer ein und dieselbe Angelegenheit im Sinne von § 15 Abs. 2 RVG dar (OLG Celle, Beschluss vom 25.08.2010, 2 Ws 303/10, Rn. 14; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.2013, III 1 Ws 416/13, juris, Rn. 6; LG Landshut, Beschluss vom 23.03.2010, 2 Qs 326/09, juris, Rn. 15; für das Revisionsverfahren: OLG München, Beschluss vom 21.01.2008, 4 Ws 3/08 <K>, juris, Rn. 7). Die von dem Rechtsanwalt übernommenen Aufgaben sind für die Beurteilung unerheblich, soweit sie in demselben Verfahren wahrgenommen werden (OLG Celle a.a.O., Rn. 11). Die mehrfache Beauftragung eines Rechtsanwalts in derselben Angelegenheit regelt § 15 Abs. 5 RVG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift erhält der Rechtsanwalt, der in einer Angelegenheit, in der er bereits vorher tätig war, weiter tätig wird, nicht mehr an Gebühren, als er erhalten würde, wenn er von vomherein hiermit beauftragt worden wäre. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt dies nicht, wenn der frühere Auftrag seit mehr als zwei Kalenderjahren erledigt ist. Im vorliegenden Fall liegen zwischen den beiden Beiordnungen durch das Amtsgericht Speyer keine zwei Jahre mit der Folge, dass der Verteidiger nur die Gebühren abrechnen kann, die er hätte abrechnen können, wenn er bereits am 16.12.2020 umfassend als Pflichtverteidiger beigeordnet worden wäre.

Der Umsetzung dieser Rechtslage steht auch nicht die Rechtskraft des Kostenfestsetzungsbeschlusses vom 06.04.2021 entgegen; denn der Inhalt dieses Beschlusses hindert die Anrechnung der bereits zuerkannten Gebühren und Auslagen auf den weiteren Gebühren- und Auslagenanspruch des Verteidigers nicht.

Wie gesagt: „Besserwisserentscheidung. Denn das OLG liegt falscg, die AG und LG-Entscheidungen waren richtig. Das OLG übersieht, dass die Bestellung des Verteidigers im Ermittlungsverfahren nur für die „Dauer der Vernehmung der Zeugin“ erfolgt, also zeitlich beschränkt, ist. Sie war mit der Vernehmung beendet und es ist eine neue Beiordnung erfolgt. Es handelt sich also nicht um dieselbe Angelegenheit i.S. des § 15 RVG. Insofern übersieht das OLG auch, dass die Tätigkeit des Rechtsanwalts während der Dauer einer Vernehmung etwas anders ist als Verteidigertätigkeit im Erkenntnisverfahren. Die vom OLG angeführte Rechtsprechung stützt die falsche Auffassung des OLG im Übrigen nicht. Denn die den zitierten Entscheidungen zugrunde liegende Sachverhalte sind mit der hier entschiedenen Konstellation nicht zu vergleichen. Denn es handelt sich u.a. um Fragen der Nebenklage und/oder der Vertretung mehrerer Adhäsionskläger. Da spielen m.E. ganz andere Fragen eine Rolle. Das OLG sieht es offenbar anders. Schade, aber gegen die geballte Intelligenz (?) eines OLG-Senats kommt man (kaum) an.

OWi II: Falsche Entbindung des Betroffenen von der HV, oder: Keine Verletzung des rechtliches Gehörs

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Die zweite Entscheidung, der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.10.2023 – 1 ORbs 1 SsRs 37/23 – hat auch etwas mit der Frage der Entbindung und/oder der Abwesenheitsverhandlung zu.

Der Betroffene war in dem nach seinem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid anberaumten Hauptverhandlungstermin nicht erschienen. Seine – nicht mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht versehene – Verteidigerin hat zu Beginn der Hauptverhandlung die Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen beantragt. Die Jugendrichterin des AG hat diesem Antrag stattgegeben, ohne den Betroffenen zur Sache verhandelt und den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 100 EUR verurteilt.

Dagegen der Antrag der Verteidigerin des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Das OLG hat nicht zugelassen:

„2. Auch die Gehörsrüge dringt nicht durch. Mit ihr beanstandet der Betroffene, dass das Amtsgericht seinen Antrag auf Entbindung vom persönlichen Erscheinen fehlerhaft beschieden, ohne seine Anwesenheit zur Sache verhandelt und hierdurch den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt habe. Eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung kann auf der Grundlage des Rechtsbeschwerdevorbringens jedoch nicht festgestellt werden.

Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Art. 103 Abs. 1 GG geht davon aus, dass die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben muss (BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 74, 1 <5>), und gewährt keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen. Bei der Verletzung solcher Vorschriften bedarf es aber jeweils der Prüfung, ob dadurch nicht zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verkürzt worden ist (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91, juris, Rn. 14).

Grundsätzlich ist der Betroffene in einem Bußgeldverfahren zum Erscheinen in der Hauptverhandlung gemäß § 73 Abs. 1 OWiG verpflichtet, womit sein Anwesenheitsrecht als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör korrespondiert (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 5 StPO). Der Betroffene kann allerdings auf sein Anwesenheitsrecht verzichten. Die Hauptverhandlung darf aber nur dann in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt werden, wenn er nicht erschienen ist und darüber hinaus von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden war, § 74 Abs. 1 OWiG. In einer fehlerhaften Anwendung der Norm kann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör liegen (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 25.04.2002 – 2 Ss (OWi) 44 Z/02; NZV 2003, 587).

Das Amtsgericht hat die Hauptverhandlung zwar unter Verstoß gegen § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt. Es hat dem Antrag auf Entbindung, den die Verteidigerin zu Beginn der Hauptverhandlung gestellt hat, nachdem der Betroffene nicht erschienen war, stattgegeben und zugelassen, dass die Verteidigerin den Betroffenen in der Hauptverhandlung vertritt. Da die Verteidigerin keine schriftliche Vertretungsvollmacht hat, konnte sie aber weder den von ihr zu Beginn der Hauptverhandlung gestellten Entbindungsantrag wirksam stellen, noch konnte sie den Betroffenen in der Sitzung wirksam vertreten, § 73 Abs. 2 und 3 OWiG (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 04.08.2011 – 1 SsBs 26/10, juris). Entschuldigungsgründe, die ein Fehlen des Betroffenen rechtfertigen, wurden im Rahmen der Hauptverhandlung nicht vorgetragen, und es ist aus der Rechtsbeschwerde auch nicht ersichtlich, dass dem Amtsgericht Entschuldigungsgründe bekannt waren. Richtigerweise hätte die Jugendrichterin den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG ohne Verhandlung zur Sache verwerfen müssen.

Dieser Verstoß gegen einfaches Recht hat im vorliegenden Fall aber nicht den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt. Das verfahrensrechtlich gebotene Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG wäre ausschließlich aufgrund verfahrensrechtlicher Vorschriften ohne materiell-rechtliche Prüfung ergangen, mit der Folge, dass der Betroffene mit seinem Vortrag zur Sache bei richtiger Verfahrensweise nicht gehört worden wäre. Das Amtsgericht hat hier den Vortrag des Betroffenen dagegen zu seinen Gunsten in der Weise berücksichtigt, dass die Geldbuße herabgesetzt wurde.“

Mir erschließt sich nicht so ganz, was angesichts der erfolgten Reduzierung der Geldbuße Ziel der Rechtsbeschwerde war.

Corona I: Gebrauch eines gefälschten Impfpasses, oder: Wie weit sperrt die alte Fassung von § 279 StGB?

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Und dann starte ich in die 36. KW. mit zwei Entscheidungen zu Corona. Die Problematik ist ja in den letzten Monaten ein wenig in den Hintergrund getreten. Ich hoffe, dass sie nicht zu stark wieder kommt.

Hier zunächst der OLG Zweibrücken, Beschl. v.  26.06.2023 – 1 OLG 2 Ss 33/22. Der äußert sich noch einmal zum Verhältnis von § 279 StGB a.F. zu § 267 StGB. Das AG hatte die Angeklagte vom Vorwurf der Urkundenfälschung freigesprochen. Es hatte folgende Feststellungen getroffefeN:

„Am 13.10.2021 legte die Angeklagte in der pp. Apotheke in der pp. in pp. einen auf ihren Namen lautenden Impfausweis vor, der zwei mittels Stempel und Unterschrift verifizierte Eintragungen enthielt, die entgegen der Tatsachen bescheinigen sollten, dass sie am 14.07.2021 (Chargennummer: 1DO18A) und am 25.08.2021 (Chargennummer: Ey2172) beim Impfzentrum pp. jeweils eine Impfung mit dem Impfstoff Comirnaty von der Firma BioNTech/Pfizer erhalten habe. Tatsächlich hatte die Angeklagte diese Impfungen zu keinem Zeitpunkt erhalten und die Eintragungen waren von einer unberechtigten Person vorgenommen worden, was ihr bekannt war. Der Absicht der Angeklagten folgend wurde ihr daraufhin in der Annahme der Echtheit der Eintragungen ein digitaler Impfnachweis ausgestellt, den sie in der Folgezeit in ihrer Corona Warnapp hochlud, um das Zertifikat in der Folgezeit zu verwenden.“

Das AG hat die Angeklagte freigesprochen, weil sie keinen Straftatbestand erfüllt habe. Dagegen die Revsion, die Erfolg hatte:

„Eine Verurteilung wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB sei nicht möglich, weil die §§ 277 ff. StGB a.F. in der bis zum 23.11.2021 geltenden Fassung gegenüber dem Delikt der Urkundenfälschung eine umfassende Privilegierung des Umgangs mit gefälschten bzw. unrichtigen Gesundheitszeugnissen darstellen würden.

Ein Verwenden des digitalen Impfnachweises habe sich mangels objektiver Beweismittel bzw. Ermittlungsansätze nicht klären lassen.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Der Freispruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Nicht zu beanstanden ist, dass das Amtsgericht den Gebrauch eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses in der von den §§ 277, 278 a.F. StGB bezeichneten Art gemäß § 279 StGB a.F. nicht festzustellen vermochte.

Bei der Impfbescheinigung handelt es sich um ein Gesundheitszeugnis im Sinne der §§ 277, 278 StGB a.F. (vgl. BGH, Urteil vom 10.11.2022 – 5 StR 283/22; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 27.01.2022 – 1 Ws 114/21 – juris Rn. 16; OLG Bamberg, Beschluss vom 17.01.2022 – 1 Ws 732-733/21 –, juris Rn. 14; Heine/Schuster in Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 30. Auflage, § 277 Rn. 2; Erb in Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage, § 277 Rn. 2; jeweils m.w.N.), auf die § 279 StGB a.F. hinsichtlich der Tatobjekte verweist. Keinen Bedenken unterliegt auch, dass das Amtsgericht einen Gebrauch des unrichtigen Gesundheitszeugnisses i.S.d. § 279 StGB a.F. nicht festzustellen vermochte.

Der Tatbestand des § 279 StGB a.F. setzt voraus, dass von dem unrichtigen Gesundheitszeugnis Gebrauch gemacht wird, um eine Behörde oder Versicherungsgesellschaft zu täuschen. An dieser Verwendungsabsicht fehlt es vorliegend. Wie im Anwendungsbereich des § 277 StGB a.F. besteht die Tathandlung auch im Anwendungsbereich des § 279 StGB a.F. im Gebrauch des Attests gegenüber einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft (vgl. Erb, a.a.O., § 279 Rn. 3 m.w.N.; BT-Drucks., a.a.O., S. 34).

Als einzige tatsächliche Verwendungsweise festgestellt ist, dass der Impfausweis in einer Apotheke zur Erstellung eines digitalen Impfzertifikats vorgelegt wurde.

Apotheken kommen als Vorlageadressaten nicht in Betracht, da sie keine Behörden i.S.d. Vorschrift sind (vgl. BGH, a.a.O. zu §§ 277, 278 StGB a.F. m.w.N.).

Durch die Vorlage der Falsifikate in Apotheken zur Erlangung eines digitalen Impfzertifikats wird die Impfbescheinigungen auch nicht dem Robert-Koch-Institut als der für die Erstellung digitaler Impfzertifikate zuständigen Behörde zugänglich gemacht. Denn ein Gebrauchen setzt jedenfalls ein Verbringen des Gesundheitszeugnisses in den Machtbereich der Behörde mit der Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmung voraus (BGH, a.a.O. m.w.N.). Daran fehlt es, weil dem Robert-Koch-Institut durch die Apotheke nicht der Impfpass, sondern lediglich darin befindliche personenbezogene Daten übermittelt werden (BGH, a.a.O. unter Hinweis auf OLG Celle, Urteil vom 31.05.2022 – 1 Ss 6/22 Rn. 20, NJW 2022, 2054, 2055; Hanseatisches OLG Hamburg, a.a.O.).

Weitere Verwendungsweisen oder Absichten, die auf die Täuschung einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft gerichtet sind, hat das Amtsgericht nicht festzustellen vermocht, so dass es vorliegend an einem Gebrauchen des Gesundheitszeugnisses gegenüber dem besonderen Adressatenkreis i.S.d. § 279 StGB a.F. fehlt.

2. Das Amtsgericht hat sich allerdings zu Unrecht an einer Verurteilung wegen Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB gehindert gesehen.

a) Die Ansicht, der Tatbestand des § 279 StGB a.F. sperre die Anwendbarkeit des § 267 StGB, ist unzutreffend.

Der Bundesgerichtshof hat die in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittene Frage zum Verhältnis des § 277 StGB zu § 267 StGB in dem Sinne entschieden, dass § 267 StGB auch unter Geltung des § 277 StGB a.F. nicht aufgrund einer privilegierenden Spezialität verdrängt wird (vgl. BGH, a.a.O. m.w.N. auch zum Meinungsstand).

Nach Auffassung des Senats ist die Begründung des Bundesgerichtshofs auch auf das Verhältnis des § 279 StGB a.F. zu § 267 StGB zu übertragen. Zwar spricht das zu § 277 StGB a.F. herangezogene systematische Argument des zweiaktigen Deliktsaufbaus des § 277 StGB a.F. im Vergleich zum einaktigen Deliktsaufbau des § 267 StGB beim ebenfalls einaktig aufgebauten § 279 StGB a.F. nicht gleichermaßen gegen eine Privilegierung. Die weitere Argumentation trifft aber, nicht zuletzt aufgrund der gemeinsamen Entstehungsgeschichte und Weitergeltung der Vorschriften (§§ 256 bis 258 PreußStGB bzw. §§ 277 bis 279 StGB) und der Bezugnahme in der Verweisung des § 279 StGB auf § 277 StGB, auf das Verhältnis von § 279 StGB a.F. und § 267 StGB zu (vgl. zu einer sinngemäßen Übertragung der Anwendungsbereiche des § 277 StGB a.F. und § 279 StGB a.F. gegenüber § 267 StGB auch Erb, a.a.O., Rn. 10; Puppe/Schumann in Nomos Kommentar zum StGB, 5. Aufl., § 279 Rn. 9; BT-Drucks., a.a.O., S. 2, 33 m.w.N.).

b) Der Impfpass ist im vorliegenden Fall eine Urkunde im Sinne des § 267 StGB. Insbesondere handelt es sich bei vollständigen Impfdokumentationen um verkörperte Gedankenerklärungen, die zum Beweise geeignet und bestimmt ist und ihren Aussteller erkennen lassen und damit um Urkunden. Die in der ausgefüllten Zeile des Impfausweises enthaltenen Angaben über Datum der Impfung, Impfstoff und Charge ergeben im Zusammenhang mit den Personalien auf dem Deckblatt des Impfausweises die Erklärung des Impfarztes, der genannten Person die bezeichnete Impfung an einem bestimmten Tag unter Verwendung eines Vakzins einer bestimmten Charge verabreicht zu haben (vgl. BGH, a.a.O.).

Wird die Impfbescheinigung etwa mit einem Stempel mit dem Aufdruck des Impfzentrums und einer erfundenen oder nachgeahmten Unterschrift versehen, möchte der Aussteller den Eindruck erwecken, die Bescheinigung sei von einem Arzt des Impfzentrums ausgestellt worden, obwohl sie tatsächlich von ihm selbst herrührten. Scheinbarer Aussteller ist hingegen der angebliche Impfarzt.

Benutzte eine Person ein solches unechtes Attest zur Vorlage gegenüber einem Apotheker, um ein digitales Impfzertifikat zu erhalten, beabsichtigte sie, dass der Apotheker gem. § 22 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 IfSchG (in der zum Tatzeitpunkt geltenden Fassung vom 28.5.2021) die Durchführung der Impfung nachträglich bescheinigt, gebrauchte mithin das unechte Attest zur Täuschung im Rechtsverkehr i.S.d. § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB.

c) Soweit das Amtsgericht allerdings lediglich zum Ausdruck bringt, der Impfausweis sei von einer nicht berechtigten Person ausgestellt worden, sind diese Feststellung offenkundig lückenhaft und vor dem Hintergrund der Annahme getroffen, dass eine Anwendbarkeit des § 267 StGB in allen Fällen des § 277 StGB, mithin auch im Fall der unrichtigen Bescheinigung, ausgeschlossen ist, so dass es auf diese Differenzierung für die Beurteilung der Strafbarkeit der Angeklagten nicht mehr ankam.“