Schlagwort-Archive: OLG Zweibrücken

Beleidigung II: Beleidigung von Angela Merkel ?, oder: „…daß sich die dumme Schlampe nicht schämt…“

Fotolia.com

Und dann der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 30.09.2024 – 1 ORs 1 SRs 8/24 – zur Beurteilung der Frage, ob eine (beleidigende) Äußerung geeignet war, das öffentliche Wirken der betroffenen Personen des politischen Lebens erheblich zu erschweren.

Es geht um folgende Feststellungen:

„1. Der Angeklagte postete am 04.09.2021 um 11:56 Uhr auf seinem öffentlich und somit für eine unbestimmte Vielzahl von Personen einsehbaren Facebook-Profil, das er unter dem Account-Namen „pp.“ betreibt, den Kommentar: „Merkel im Ahrtal…daß sich die dumme Schlampe nicht schämt….“ Der Text war dabei in weißer Schriftfarbe auf braunem Untergrund geschrieben, auf dem zudem insgesamt sieben sogenannte Emoticons in Form von lächelnden Kothaufen zu sehen waren. Dieser Hintergrund war von dem Betreiber der Plattform Facebook erstellt worden und konnte von den Nutzern wie dem angeklagten verwendet werden. Der Post wurde zweimal als „gefällt mir“ bestätigt. Das Profil des Angeklagten führt 417 Freunde auf.

Der Angeklagte handelte, um hierdurch die frühere Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrer Ehre herabzusetzen. Anlass war ein Besuch der damaligen Bundeskanzlerin in dem von der Flutkatastrophe im Sommer 2021 betroffenen Ahrtal. Der Angeklagte hatte sich über das Auftreten von Politikern dort geärgert, weil er dies als Verhöhnung der. Betroffenen empfand. Er hatte sich zudem über das – aus seiner Sicht – gegebene Scheitern der Verantwortlichen geärgert und infolgedessen den oben zitierten Post abgesetzt.

Die damalige Bundeskanzlerin Dr. Merkel trat in der am 26.09.2021 stattgefundenen Wahl zum Deutschen Bundestag weder als Abgeordnete noch als Bundeskanzlerin erneut an.

Mit Schreiben vom 30.06.2022 ließ die frühere Bundeskanzlerin mitteilen, dass sie keinen Strafantrag in dieser Angelegenheit stellt. Auf entsprechende Nachfrage der Polizei erklärte sie mit weiterem Schreiben vom 11.07.2022, dass sie einer Strafverfolgung von Amts wegen nicht widerspricht.“

Das LG hat das Verfahren gegen den Angeklagten eingestellt, weil er den Straftatbestand der Beleidigung einer Person des politischen Lebens nicht erfüllt habe und bezüglich der-begangenen Beleidigung die Betroffene ausdrücklich keinen Strafantrag nach § 194 Abs. 1 S. 1 StGB gestellt hat.

Das OLG hat das Einstellungsurteil aufgehoben:

„1. Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass es sich bei Frau Dr. Angela Merkel um eine im politischen Leben des Volkes stehende Person handelt, die durch den Post des Angeklagten auf der öffentlichen Plattform „Facebook“ beleidigt wurde.

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verlangt bei der Anwendung des ‚§ 185 StGB grundsätzlich eine Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Geschädigten und der Meinungsfreiheit des Äußernden. Die Meinungsfreiheit tritt allerdings regelmäßig dann hinter den Ehrschutz zurück, wenn und soweit es sich um herabsetzende Äußerungen handelt, die eine bloße Schmähung der angegriffenen Person darstellen. Einer Abwägung mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit ist eine als bloße Schmähung zu wertende Äußerung regelmäßig nicht-zugänglich (KG Berlin, Beschluss vom 12.08.2005 (4) 1 S§ 93/04, NJW 2005, 2872, 2873 m.w.N.). Zur Schmähung wird eine Meinungsäußerung allerdings nicht schon wegen ihrer herabsetzenden Wirkung für Dritte. Auch eine überzogene und selbst eine ausfällige Kritik macht für sich genommen eine Äußerung noch nicht zur Schmähkritik. Von einer bloßen Schmähkritik ist namentlich auszugehen, wenn ein sachlicher Anlass nur vorgegeben oder als Vorwand genutzt wird und eine Äußerung eine allein persönlich diffamierende und herabsetzende Zielrichtung hat (Fischer § 193 Rn. 18). Gleiches gilt, wenn es sich um eine Äußerung handelt, deren diffamierender Gehalt so erheblich ist, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheint und daher unabhängig von ihrem konkreten Kontext stets als persönliche diffamierende Schmähung aufgefasst werden muss, wie es insbesondere bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter – etwa aus der Fäkalsprache – der Fall ist (Sog. Formalbeleidigung, vgl.: Senat, Beschluss vom 27.09.2018–1 OLG 2 Ss 31/18; OLG Koblenz, Beschluss vom 07.10.2009 – 2 Ss 130/09, juris Rn. 36; OLG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2014 – 1 Ss 599/13, juris Rn. 18 mwN.).

Die Bezeichnung der damaligen Bundeskanzlerin als „dumme Schlampe“ erfüllt somit die vorbezeichneten Voraussetzungen einer Schmähkritik,

2. Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht demgegenüber angenommen, dass die Tat im Sinne des § 188 StGB nicht geeignet war, das öffentliche Wirken der Betroffenen erheblich zu erschweren.

a) Teilweise wird zwar vertreten, dass bei der Beurteilung der entsprechenden Geeignetheit nicht alleine auf den Inhalt der Äußerung abgestellt werden könne, sondern auch die Umstände der Tat in den Blick genommen werden müssten (Schönke/Schröder StGB § 188 Rn. 6; NK-StGB/Kargl, 6.Aufl. 2023, § 188 Rn. 14; AG Schwetzingen, Urteil vom 26.06.2023 — 2 Cs 806 Js 336/23).

Zur Begründung wird auf den Wortlaut und die Systematik Bezug genommen und damit argumentiert, dass in § 188 StGB von ,,Tat“ und nicht Wie in § 186 StGB und § 187 StGB von, „Tatsachen“ die Rede ist. Zudem würde ein fehlendes Außerachtlassen der Begleitumstände die Gefahr bergen, dass das Verhältnis zwischen Grundtatbestand aus §§ 185 bis.187 StGB zur Qualifikation in § 188 StGB in Ungleichgewicht geraten würde, denn es seien dann kaum Fälle der §§ 186 und 1,87 StGB denkbar, die nicht zu einer Erfüllung des Qualifikationstatbestandes führen würden, wenn die Tatsache in Bezug auf eine Person des politischen Lebens geäußert würde.

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist demgegenüber zur Beurteilung der Geeignetheit ausschließlich auf den Inhalt der Äußerung abzustellen. Sonstige Umstände, wie beispielsweise die gewählte Verbreitungsart und die Größe des Adressatenkreises bleiben dagegen unberücksichtigt. Der Inhalt der Äußerung muss somit lediglich zur Herbeiführung von erheblichen Nachteilen für den Angegriffenen abstrakt geeignet sein; die Folge selbst braucht demgegenüber nicht eingetreten sein (BGH, Urteil vom 08.01.1954 – StR 611/53; BGH, Urteil vom 06.02.1980 2 StR 480179; BGH, Urteil vom 04.03.1981 — 2 StR 641/80).

c) Die letztgenannte Auffassung ist überzeugend. Grund der Straferhöhung in § 188 StGB gegenüber den §§ 185 bis 187 StGB ist, der Vergiftung des politischen Lebens durch herabsetzende Äußerungen entgegenzuwirken. Geschützt wird jedoch nicht das politische Amt, sondern der Amtsinhaber als. Person (BGHSt 6, 159.<160 f.>; Schönke/Schröder StGB § 188 Rn. 1; Fischer § 188-Rn. 2; MüKoStGB/Regge/Pegel § 188 Rn. 1).

Diese Auslegung entspricht dem Willen des Gesetzgebers auch, soweit als Grunddelikt eine Beleidigung in Rede steht.

Durch das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30.03.2021 (BGBl. 2021, 441) wurde der Anwendungsbereich der Norm nicht unerheblich erweitert, indem die Voraussetzungen des Abs. 1 S. 1 seitdem auch für Beleidigungen gern. § 185 StGB straferhöhende Merkmale darstellen; zuvor waren als Grunddelikte lediglich § 186 StGB und § 187 StGB erfasst. Zur Begründung wurde folgendes ausgeführt (BT-Drs. 19)20163, 43):

§ 188 StGB bezweckt einen verstärkten Ehrenschutz für Personen des politischen. Lebens, da diese in besonderem Maß ehrverletzenden Angriffen ausgesetzt sind (vergleiche Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 188, Rn. 1). Der Vergiftung des politischen-Klimas durch Diffamierungen und Verunglimpfungen soll entgegengewirkt werden (Regge/Pegel, MüKo-StGB, 3. Aufl. • 2017, § 188, Rn. 1). Der Schutzzweck der Vorschrift spricht indes dafür,-ihren Anwendungsbereich nicht auf die Behauptung falscher Tatsachen zu beschränken, sondern auf Beleidigungen zu erstrecken. Auch diese sind geeignet, das öffentliche Wirken von Personen des politischen Lebens erheblich zu erschweren, wie gerade die in jüngster Zeit zunehmenden verbalen Angriffe auf Kommunalpolitiker belegen, die deren Bereitschaft zum politischen Engagement grundlegend in Frage. stellen.“

Die Gegenmeinung schränkt – durch das Abstellen auf die Umstände der Tat – den Anwendungsbereich der Norm demgegenüber ein und widersetzt sich somit dem Willen des Gesetzgebers.

Diese Meinung führt für den Tatrichter auch zu kaum handhabbaren Abgrenzungsschwierigkeiten. Dieser wird regelmäßig nicht in der Lage sein, die Folgen der Äußerung für das politische Wirken der betroffenen Person verlässlich zu ermitteln, zumal das Ausmaß der Verbreitung der Äußerung im Internet kaum einzuschätzen ist, da die Verbreitungsmöglichkeiten über die sozialen Netzwerke vielfältig sind (so z.B. durch das Teilen von Beiträgen oder Erstellen oder Versen-. den von sog. Sticker o.Ä.).“

StPO II: Neues Beweismittel für die Wiederaufnahme?, oder: Zeuge kann nur per Video vernommen werden

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.09.2024 – 1 Ws 274/23 – geht es noch einmal um die Wiederaufnahme (§§ 359 ff. StPO). Dazu hatte ich ja neulich schon ein paar Entscheidungen vorgestellt.

In dem OLG-Beschluss hat das OLG zur Eignung eines neuen Beweismittels im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO Stellung genommen. Gestritten wird um die Eignung eines als Zeuge benannten früheren Mitangeklagten als neues Beweismittel, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar, sondern lediglich per Videokonferenz vernommen werden kann. Das OLG hat die Eignung im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO verneint, wenn die frühere, nunmehr teilweise widerrufene Einlassung durch gewichtige Indizien gestützt werden. Dazu das OLG:

„3. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages setzt auch voraus, dass das Beweismittel geeignet ist, die Freisprechung oder die geringere Bestrafung des Beschwerdeführers herbeizuführen. Zu diesem Zweck hat sich die Prüfung nicht allein auf die Schlüssigkeit des Antragsvorbringens zu beschränken. Es ist vielmehr auch eine gewisse Wertung der Beweiskraft der angebotenen Beweismittel vorzunehmen (vgl. BGH, NJW 1977, 59 = JR 1977, 217; OLG Braunschweig, NStE Nr. 5 zu § 359 StPO = NStZ 1987, 377 (378); OLG Nürnberg, MDR 1964, 171; OLG Köln, NJW 1963, 967; KG, JR 1975, 166; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 368 Rn. 5). Denn um festzustellen, ob neue Beweismittel geeignet sind, eines der in § 359 Nr. 5 StPO genannten Ziele zu erreichen, ist zu prüfen, ob die Schuldfrage vom Standpunkt des erkennenden Gerichts anders entschieden worden wäre, wenn die neuen Beweismittel dem Gericht bekannt gewesen wären (vgl. Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Dabei sind sie zu dem gesamten Inhalt der Akten und den früheren Beweisergebnissen in Beziehung zu setzen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 1987, 377; KG, JR 1975, 166; Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Ist das Beweismittel ein Zeuge, so ist zu unterstellen, dass er so aussagen werde, wie es der Beschwerdeführer behauptet, nicht aber auch, dass die Tatsachen zutreffen, die der Zeuge bekunden soll (vgl. OLG Karlsruhe, OLGSt § 368 OLGSt S. 2; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann StPO § 368 Rn. 9; Paulus, in: KMR, StPO, § 368 Rdnr. 10). Gleiches ist anzunehmen, wenn das Geständnis eines Mitverurteilten nachträglich (teilweise) widerrufen wird. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO zielt auf eine Erschütterung des den Urteilsfeststellungen zugrundeliegenden Beweisgebäudes in seiner Gesamtheit, weshalb eine Gesamtbetrachtung der Beweislage daher unabdingbar ist; der Normwortlaut legt die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise nahe („in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen“) (MüKoStPO/Engländer/Zimmermann StPO § 368 Rn. 31).

Das Landgericht Kaiserslautern hat sich in dem Beschluss vom 30.10.2023 ausführlich mit der Vereinbarkeit des geänderten Aussageverhaltens des Mitverurteilten C. mit der im Übrigen aus dem Urteil des Landgerichts Koblenz und dem sonstigen Akteninhalt zu entnehmenden Beweislage auseinandergesetzt. Das Landgericht führt dazu wie folgt aus:

„Die insoweit getroffenen Feststellungen (im Einzelnen s. S. 50 ff. d. Urteils) begründen sich dabei nicht ausschließlich auf der geständigen Einlassung des damaligen Mitangeklagten C. Es ist der Verteidigung zwar zuzustimmen, dass die Feststellungen des Landgerichts Koblenz, soweit es die Abrede zwischen dem Antragsteller und seinem ehemaligen Mitangeklagten C. betrifft, unter anderem auf dessen geständiger Einlassung beruhen. Diese Einlassung wird jedoch durch zahlreiche Indizien gestützt, die mit der geänderten Aussage des ehemaligen Mitangeklagten C. gerade nicht in Einklang zu bringen wären. Diese Indizien bestätigen nicht nur die Feststellungen zu einer Scheinrechnungsabrede bereits ab Mai 2014 und den Umstand, dass den Rechnungen keine Leistungen zugrunde lagen, sondern auch den Umstand, dass der Antragsteller an seine Arbeitnehmer (Teil-)Schwarzlöhne auszahlte und in der Folge keine Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeträge zur Sozialversicherung leistete und sowohl die Lohn- als auch Umsatzsteuern hinterzog. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass allein das geänderte Aussageverhalten des ehemaligen Mitangeklagten C. zu Feststellungen des erkennenden Gerichts geführt hätte, die den beabsichtigten Teilfreispruch zur Folge hätten.

Dies ergibt sich aus Folgendem:….“

Die weiteren Einzelheiten zum konkreten Fall dann bitte selbst lesen.

Pflichti II: OLG bejaht rückwirkende Bestellung, oder: Beiordnungsgrund „Gesamtstrafe“

© pedrolieb -Fotolia.com

Und als zweite Entscheidung dann noch eine weitere OLG-Entscheidung, nämlich der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.09.2024 – 1 Ws 208/24 -, der sich noch einmal mit dem Beiordnungsgrund „Schwere der Rechtsfolge“ in den Gesamtstrafenfällen befasst und zur Zulässigkeit der Rückwirkung – ohne viel Worte 🙂 Stellung nimmt:

2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Grundsätzlich ist eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers möglich (OLG Bamberg (1. Strafsenat), Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21, OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20; MüKo-StPO § 142 Rn. 14). Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers (bezogen auf den Zeitpunkt der Antragsstellung) setzt jedoch voraus, dass die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor dem Abschluss des Verfahrens erfolgte (OLG Bamberg aaO.).

Vorliegend wurde der Antrag auf Beiordnung durch den Angeklagten zeitlich vor der (vorläufigen) Einstellung durch das Landgericht gestellt; jedoch lagen die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO nicht vor.

a) In dem Verfahren selbst liegen keine Umstände vor, die eine Verteidigung als notwendig erscheinen lassen. Die Schwere der angeklagten Tat begründet eine solche Notwendigkeit für sich genommen nicht. Maßgeblich für die Beurteilung ist vor allem die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung. Meist wird angenommen, dass die Erwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe die Grenze bildet, ab der regelmäßig Anlass zur Beiordnung besteht (Meyer-Goßner, StPO, § 140 Rn 23a mwN). Gegenstand des Verfahrens ist eine Unterhaltspflichtverletzung. Der Angeklagte wurde deswegen erstinstanzlich durch das Amtsgericht Speyer zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 40 EUR verurteilt. Da gegen das Urteil lediglich der Angeklagte Berufung eingelegt hatte, war eine härtere Strafe nach § 331 StPO ausgeschlossen.

b) Auch der Umstand, dass aus der Strafe im vorliegenden Verfahren und aus der Strafe, die in dem gesonderten Verfahren gegen den Angeklagten zu erwarten ist, voraussichtlich eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr zu bilden sein wird, rechtfertigt es nicht, wegen der Schwere der Tat einen Fall notwendiger Verteidigung i.S. von § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen.

Die Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung dar. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand (Verteidiger) erhält (BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 – 2 BvR 462/77 – juris Rn 31; Meyer-Goßner; StPO, § 140 Rn 1). Bei der Bewertung, ob ein solcher schwerwiegender Fall vorliegt, ist auch die Gesamtwirkung der Strafe zu berücksichtigen. Hierzu gehören auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu befürchten hat, wie etwa ein drohender Bewährungswiderruf. Nach verbreiteter Auffassung gehören hierzu auch weitere gegen den Angeklagten anhängige Strafverfahren, in denen es zu einer Gesamtstrafenbildung kommen kann (OLG Hamm, StV 2004, 586; KG, Beschluss vom 13.12.2018 – 3 Ws 290/18121 AR 260/18, KK-StPO/Willnow StPO § 140 Rn. 27, 27a).

Hierbei bedarf es allerdings einer gründlichen Prüfung des Einzelfalls, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 – 2 Ws 37/12).

Diese Voraussetzungen liegen hier ersichtlich nicht vor. Das vorliegende Verfahren selbst bietet – wie dargelegt – kein Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers. In dem weiteren Verfahren gegen den Angeklagten wird ihm der Vorwurf des bewaffneten Handeltreibens gemacht, wofür § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG eine Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren vorsieht. Selbst bei Annahme eines minder schweren Falles läge der Strafrahmen nicht unter 1 Jahr Freiheitsstrafe. Die Einstellung des vorliegenden Verfahrens lag daher nahe, was von dem Angeklagten auch beantragt wurde. Selbst im Falle einer Gesamtstrafenbildung wäre lediglich eine geringfügige – für den Angeklagten nicht wesentlich ins Gewicht fallende – Erhöhung der in dem gesonderten Verfahren zu erwartende Strafe anzunehmen gewesen.

Zudem lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass durch eine im vorliegenden Verfahren gegebenenfalls zu verhängende Strafe im Rahmen einer späteren Gesamtstrafenbildung eine sonst mögliche Strafaussetzung zur Bewährung gefährdet werden könnte (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 06.01.2017, 4 Ws 212/16).“

Schön, dass sich das OLG zur Zulässigkeit der Rückwirkung äußert, obwohl es darauf ja gar nicht ankam.

Pflichti III: Rechtsmittelbefugnis des Pflichtverteidigers, oder: Kein Rechtsmittel gegen Willen des Mandanten

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und im letzten Pflichti-Posting Entscheidungen dann noch etwas vom OLG Zweibrücken, und zwar OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.07.2024 – 1 Ws 168/24 – zur Rechtsmittelbefugnis des Pflichtverteidigers.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren über die Fortdauer der Unterbringung des Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese ist von der StVK angeordnet worden. Dagegen hat der Verteidiger sofortige Beschwerde eingelegt. Mit am gleichen Tag eingegangen Schreiben hat der Verteidiger mitgeteilt, der Untergebrachte habe ihm telefonisch mitgeteilt, er habe Rechtsmittelverzicht erklärt, wobei der Rechtsmittelverzicht auch von seinem Verteidiger innerhalb der Rechtsmittelfrist abgegebene strafprozessuale Erklärungen umfassen solle. Das LG hat die Sache dem OLG zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vorgelegt. Sie hatte keinen Erfolg:

„2. Der Untergebrachte hat mit seinem Schreiben vom 28.05.2024 (Blatt 1694 V-Heft) nach § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO wirksam auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen Beschluss der Großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 15.04.2024 verzichtet.

a) In dem vorgenannten Schreiben kommt der Wille des Untergebrachten, auf Rechtsmittel gegen den vorbezeichneten Beschluss zu verzichten, eindeutig zum Ausdruck; er erstreckt seine Verzichtserklärung auch auf „eventuell eingelegte Rechtsmittel“ seines Verteidigers.

An der Wirksamkeit des Verzichts des Untergebrachten auf die Einlegung von Rechtsmittel bestehen keine Zweifel. Der Untergebrachte muss bei Abgabe einer Rechtsmittelverzichtserklärung dazu in der Lage sein, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung erkennen. Dies wird selbst durch eine – hier allerdings nicht vorliegende – Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Verzichtserklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Untergebrachte nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen (BGH, Beschluss vom 20.02.2017 ? 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487; zur Rechtsmittelrücknahme: Senat, Beschluss vom 24.05.2022 – 1 Ws 83/22, BeckRS 2022, 12794). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Es sind vielmehr keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dem Verurteilten im Hinblick auf seinen geistigen Zustand die genügende Einsichtsfähigkeit für seine Prozesserklärung und deren Tragweite gefehlt hätte. Vielmehr belegen seine auch in der Vergangenheit gestellten Eingaben, dass der Untergebrachte sehr wohl in der Lage ist, für seine Interessen einzutreten und dabei die Bedeutungen seiner Erklärungen zu erkennen. Auch das am 03.06.2024 bei der Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz eingegangene Schreiben der Untergebrachten zeigt, dass er über die genügende Einsichtsfähigkeit in die von ihm abgegebenen Prozesserklärungen verfügt. Mit diesem Schreiben schildert der Untergebrachte in sachlicher Weise ihm in der Vergangenheit gewährte Lockerungen und regte dann mit verständlicher Begründung erneut die Gewährung von Vollzugslockerungen an (Blatt 1697 bis Blatt 1704 V-Heft). Auch die Ausprägung der Anlasserkrankung des Untergebrachten – eine mit einer Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2) kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, antisozialen und schizoiden Persönlichkeitsanteilen (ICD-10: F61.1) – lässt nicht den Schluss zu, dass er nicht in der Lage ist, die Bedeutung seiner Prozesserklärungen zu erfassen.

Danach ist der vom Untergebrachten erklärte Verzicht auf die Einlegung der sofortigen Beschwerde bindend. Der Rechtsmittelverzicht ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar und führt zum Verlust des Rechtsmittels.

b) Dem steht nicht entgegen, dass der Verteidiger an der durch ihn gegen den Beschluss des Landgerichts eingelegten sofortigen Beschwerde festhält.

Mit Wirksamwerden des Rechtsmittelverzichts durch Eingang der Erklärung beim zuständigen Gericht kann der Verteidiger kein Rechtsmittel mehr einlegen (BGH, Beschluss vom 09.09.1977 – 3 StR 454/77 –, Rn. 2-3, juris); ein vom Verteidiger schon vorher eingelegtes Rechtsmittel wird wirkungslos (BGH NJW 1960, 2202, 2203; BGH, GA 1973, 47; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Dezember 1982 – 1 Ws 999/82 –, juris). Dass das Rechtsmittel vom Verteidiger eingelegt und begründet worden war, ist insoweit ohne Belang (BGH, Beschluss vom 13. 06. 2006 – 4 StR 182/06, NStZ-RR 2007, 210). Zwar kann die Verteidigung aus eigenem Recht und im eigenen Namen Rechtsmittel einlegen und zurücknehmen. Allerdings folgt aus § 297 StPO, dass es sich bei dem Rechtsmittel um ein solches des Beschuldigten bzw. Untergebrachten handelt (BGH, Beschluss vom 10.07.2019 – 2 StR 181/19 -, Rn. 10, juris). Nach dieser Vorschrift kann der Verteidiger für den Untergebrachten, jedoch nicht gegen dessen ausdrücklichen Willen, Rechtsmittel einlegen. Allein maßgebend ist der Wille des Untergebrachten. Ein Rechtsmittel darf deshalb nie gegen den Willen des Untergebrachten ausgeübt werden. Bei unterschiedlicher Auffassung und Anfechtung ist jene des Untergebrachten und nicht die seiner Verteidigung maßgeblich. Der erklärte Wille des Untergebrachten geht vor und kann die in § 297 StPO enthaltene Vermutung, dass ein Rechtsmittel der Verteidigung in seinem Auftrag und Willen eingelegt wurde (KG, Beschluss vom 12.01.2022 – 4 Ws 4/22, BeckRS 2022, 911, Rn. 7), widerlegen. Hieraus folgt, dass der Rechtsmittelverzicht des Untergebrachten auch für das vom Verteidiger eingelegte Rechtsmittel gilt und selbst dann wirksam ist, wenn der Verteidiger das von ihm zugunsten seines Mandanten eingelegte Rechtsmittel durchgeführt wissen will (BGH NStZ-RR 2007, 210). Auch eine im „wohlverstandenen Interesse“ des Untergebrachten nach § 198 GVG eingelegte Verzögerungsrüge erlaubt es nicht, den ausdrücklich erklärten Willen des Untergebrachten außer Acht zu lassen. Danach ist die vom Verteidiger am 30.05.2024 eingelegte sofortige Beschwerde mit dem Rechtsmittelverzicht des Untergebrachten wirkungslos geworden.“

beA II: Bei der Berufung fehlt die „richtige“ Signatur, oder: Irrtum des Rechtsanwalts nicht unverschuldet.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 04.12.2023 – 9 U 141/23 – geht es auch noch einmal um die Frage der „richtigen“ Signatur.

Die Beklagte ist vom LG teilweise zur Zahlung verurteilt worden, im Übrigen wurde die weitergehende Klage abgewiesen. Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 04.08.2023 zugestellt.

Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte am 04.09.2023 durch einen unter dem Briefkopf der Anwaltskanzlei „pp.“ verfassten, durch die Rechtsanwältin pp. persönlich auf einem sicheren Übermittlungsweg aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) eingereichten Schriftsatz vom 04.09.2023, der beim OLG Zweibrücken am selben Tag um 10:13 Uhr einging, Berufung eingelegt. In gleicher Form erfolgte die am 22.09.2023 eingegangene Berufungsbegründung, mit der das Ziel einer vollständigen Klageabweisung weiterverfolgt wird.

Die Schriftsätze enden jeweils mit der Zeile „(Rechtsanwältin)“. Ein Name oder eine Unterschrift finden sich oberhalb dieser Zeile nicht). In den Transfervermerken zu den Schriftsätzen findet sich jeweils die Angabe „Sicherer Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach“ sowie in dem Feld „Qualifiziert signiert nach ERVB“ die Angabe „nein“.

Die Beklagte ist nach Eingang der Berufungserwiderung darauf hingewiesen worden, dass Bedenken betreffend die formgerechte Einlegung und Begründung ihrer Berufung bestünden, weil die Anforderungen des § 130a Abs. 3 S. 1 ZPO nicht erfüllt seien. Dazu hat sie Stellung genommen und – unter Beifügung von jeweils mit dem Zusatz „gez. pp. (Rechtsanwältin)“ versehenen Exemplaren der Berufungseinlegungsschrift und Berufungsbegründung – vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Im Übrigen vertritt sie die Auffassung, dass sowohl die Schriftsätze bezüglich Berufungseinlegung als auch Berufungsbegründung mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen seien. Denn die Namensnennung im Briefkopf sei angesichts ihrer Tätigkeit als Einzelanwältin als einfache Signatur anzusehen; zudem sei ein sicherer Übermittlungsweg gewählt worden. Sie sei ohne Sonderwissen und Beweisaufnahme als verantwortliche Person zu erkennen. Jedenfalls sei ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da das Gericht ihr den angeblichen Formmangel jeweils noch vor Fristablauf hätte anzeigen können. Die in der diesbezüglichen Unterlassung liegende gerichtsinterne Verzögerung habe sie nicht zu verantworten.

Das OLG hat die Berufung der Beklagten ist gemäß § 522 Abs. 1 S. 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen und den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen:

„Die von der Beklagten beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung ist zurückzuweisen, da die Versäumung der Notfrist des § 517 ZPO nicht unverschuldet ist (§ 233 ZPO). Denn die Beklagte muss sich das Verschulden ihr Prozessbevollmächtigten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.

1.1.1. Entgegen der Behauptung der Beklagten im Schriftsatz vom 24.11.2023 ist der Berufungseinlegungsschriftsatz vom 04.09.2023 nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (siehe dazu Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl., § 130a Rn 7, 8) der Rechtsanwältin pp. versehen. Denn aus dem Transfervermerk (prüfvermerk.pdf) zur Berufungseinlegung ergibt sich, dass in der Rubrik „Qualifiziert signiert nach ERVB“ ausschließlich „nein“ vermerkt ist.

1.2. Entgegen der Ansicht der Beklagten genügt für eine formgerechte Berufungseinlegung auch nicht, dass der Schriftsatz vom 04.09.2023 auf einem sicheren Übermittlungsweg (besonderes elektronisches Anwaltspostfach = beA) eingereicht wurde. Denn es fehlt dem eingereichten Schriftsatz die zusätzlich notwendige einfache Signatur der für das Schreiben verantwortlichen Person.

Die einfache Signatur erfordert eine Wiedergabe des Namens am Ende des Schriftsatzes, beispielsweise in Form eines maschinenschriftlichen Namenszugs oder einer eingescannten Unterschrift.

Die einfache Signatur soll – ebenso wie die eigene Unterschrift oder die qualifizierte elektronische Signatur – die Identifizierung des Urhebers der schriftlichen Verfahrenshandlung ermöglichen und dessen unbedingten Willen zum Ausdruck bringen, die volle Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu übernehmen und diesen bei Gericht einzureichen (BAGE 172, 186 = NJW 2020, 3476 Rn. 19 mwN; BSG NJW 2022, 1334 Rn. 10). Dazu muss die Namenswiedergabe so entzifferbar sein, dass sie von den Empfängern des Dokuments ohne Sonderwissen oder Beweisaufnahme einer bestimmten Person als Verantwortlicher zugeordnet werden kann (BSG NJW 2022, 1334 Rn. 9). Fehlt es hieran, ist das Dokument nicht ordnungsgemäß eingereicht. Die einfache Signatur soll gerade sicherstellen, dass die von dem Übermittlungsweg beA ausgewiesene Person mit der Person identisch ist, welche mit der wiedergegebenen Unterschrift die inhaltliche Verantwortung für das Dokument übernimmt (BAGE 172, 186 = NJW 2020, 3476 Rn. 16 mwN; BSG NJW 2022, 1334 Rn. 9).

Diesen Vorgaben wird der Berufungseinlegungsschriftsatz vom 04.09.2023 nicht gerecht. Denn der Schriftsatz endet nur mit der Bezeichnung „(Rechtsanwältin)“ ohne weitere Namensangabe.

Das Fehlen einer Namensangabe ist entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten auch nicht unschädlich. Denn die einfache Signatur soll gerade sicherstellen, dass die von dem Übermittlungsweg beA ausgewiesene Person mit der Person identisch ist, welche mit der wiedergegebenen Unterschrift die inhaltliche Verantwortung für das Dokument übernimmt (vgl. insgesamt: BGH NJW 2022, 3512 Rn 11). Die Berufungsschrift lässt sich vorliegend jedoch keiner bestimmten Person zuordnen, die Verantwortung für ihren Inhalt übernommen hat, da sie lediglich mit der nicht durch eine Namensangabe ergänzten Zeile „(Rechtsanwältin)“ versehen ist und zudem nicht einfach signiert wurde. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten ausweislich ihres Briefkopfes als Einzelanwältin tätig ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann auch bei dieser Sachlage nicht ausgeschlossen werden, dass eine im Briefkopf nicht aufgeführte Rechtsanwältin die Verantwortung für den Schriftsatz übernommen hat (BGH NJW 2022, 3512 Rn 12; siehe auch: BAG NJW 2020, 3476 Rn 17 ff.). Das Fehlen der einfachen Signatur ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht deswegen ausnahmsweise unschädlich, weil ohne Beweisaufnahme aufgrund anderer Umstände zweifelsfrei feststehen würde, dass ihre Prozessbevollmächtigte die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernommen hat (vgl. BAG NJW 2020, 3476 Rn 19). Die Verwendung des Briefbogens der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Beklagten genügt hierfür nicht, da allein hieraus nicht folgt, dass sie für den Inhalt der Berufungsschrift Verantwortung übernehmen will. Auch lässt sich dem nicht entnehmen, ob die als Absender ausgewiesene Person identisch ist mit der den Inhalt des Schriftsatzes verantwortenden Person (vgl. BAG NJW 2020, 3476 Rn 20).

2. Der Antrag der Beklagten vom 24.11.2023 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung ist zurückzuweisen, da die Versäumung der Notfrist nicht unverschuldet war (§ 233 Satz 1 ZPO). Die Beklagte muss sich das Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten, nicht formgerechte (04.09.2023) und daher verspätet nachgeholte Berufungseinlegung (24.11.2023), gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.

Ein Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts über die gesetzlichen Erfordernisse ist regelmäßig nicht unverschuldet. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss ein Rechtsanwalt die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis gewöhnlich zur Anwendung kommen. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Verfahrensbevollmächtigte die volle, von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen, denn die Partei, die dem Anwalt die Verfahrensführung überträgt, darf darauf vertrauen, dass er dieser als Fachmann gewachsen ist. Selbst wenn die Rechtslage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen. Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger Fachliteratur über den aktuellen Stand der Rechtsprechung informiert. Dazu besteht umso mehr Veranlassung, wenn es sich um eine vor kurzem geänderte Gesetzeslage handelt, die ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit verlangt. Ein Rechtsirrtum ist nur ausnahmsweise als entschuldigt anzusehen, wenn er auch unter Anwendung der erforderlichen Sorgfaltsanforderungen nicht vermeidbar war (vgl. BGH Beschluss vom 07.09.2022 – XII ZB 215/22, zitiert nach juris Rn. 16; BGH NJW 2019, 2230 Rn. 25 mwN). Ein etwa vorliegender Irrtum der Prozessbevollmächtigten der Beklagten über die Notwendigkeit einer einfachen Signatur war nicht unvermeidbar. Denn aus der vorliegenden Kommentarliteratur und Rechtsprechung war grundsätzlich bekannt, dass die einfache Signatur darin besteht, einen Namen unter das Dokument zu setzen, gleich ob man ihn tippt oder eine eingescannte Unterschrift einfügt. Hierüber durfte sich die Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht ohne Verletzung ihrer anwaltlichen Sorgfaltspflichten hinwegsetzen. Zudem war im Zeitpunkt der Einreichung der Berufung bereits Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs veröffentlicht, wonach das Wort „Rechtsanwalt“ als Abschluss des Schriftsatzes nicht genügt (BAG NJW 2020, 3476 und BGH NJW 2022, 3512). Das schuldhafte Verhalten der Prozessbevollmächtigten der Beklagten war auch ursächlich für die Versäumung der Berufungseinlegungsfrist.

Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass das Gericht seine ihr gegenüber bestehende prozessuale Fürsorgepflicht und damit das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren verletzt habe, mit der Folge, dass ein in der eigenen Sphäre der Partei liegendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurücktritt.

Aus dem „allgemeinen Prozessgrundrecht“ auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt die Verpflichtung des Richters zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten prozessualen Situation. Es ist ihm hiernach untersagt, aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrensnachteile für die betroffenen Prozessparteien abzuleiten (BVerfG 14. November 2018 – 1 BvR 433/16 – Rn. 11; 17. Januar 2006 – 1 BvR 2558/05 Rn. 8). Der Anspruch auf ein faires Verfahren kann eine gerichtliche Hinweispflicht auslösen, wenn ein Rechtsmittel nicht in der vorgesehenen Form übermittelt worden ist. Eine Partei kann erwarten, dass dieser Vorgang in angemessener Zeit bemerkt wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumnis zu vermeiden. Unterbleibt ein gebotener Hinweis, ist der Partei Wiedereinsetzung zu bewilligen, wenn er bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen können und müssen, dass es der Partei noch möglich gewesen wäre, die Frist zu wahren. Kann der Hinweis im Rahmen ordnungsgemäßen Geschäftsgangs nicht mehr so rechtzeitig erteilt werden, dass die Frist durch die erneute Übermittlung des fristgebundenen Schriftsatzes noch gewahrt werden kann, oder geht trotz rechtzeitig erteilten Hinweises der formwahrende Schriftsatz erst nach Fristablauf ein, scheidet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand allein aus diesem Grund dagegen aus. Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte und dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgt keine generelle Verpflichtung der Gerichte dazu, die Formalien eines als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes sofort zu prüfen, um erforderlichenfalls sofort durch entsprechende Hinweise auf die Behebung formeller Mängel hinzuwirken (BGH 21. März 2017 – X ZB 7/15 – Rn. 13). Dies nähme den Verfahrensbeteiligten und ihren Bevollmächtigten ihre eigene Verantwortung dafür, die Formalien einzuhalten. Eine solche Pflicht überspannte die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens (BVerfG 17. Januar 2006 – 1 BvR 2558/05 – Rn. 10; BAG 5. Juni 2020 – 10 AZN 53/20 – Rn. 39; BGH 18. Oktober 2017 – LwZB 1/17 – Rn. 11). Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist, kann sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern hat auch zu berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss (vgl. BAG 5. Juni 2020 – 10 AZN 53/20 – Rn. 39; BGH 20. April 2011 – VII ZB 78/09 – Rn. 12). Hiervon ausgehend gebietet es die aus dem verfassungsrechtlichen Gebot eines fairen Verfahrens folgende gerichtliche Fürsorgepflicht, eine Prozesspartei auf einen leicht erkennbaren Formmangel – wie die fehlende Unterschrift in einem bestimmenden Schriftsatz – hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu beheben (dazu BGH 14. Oktober 2008 – VI ZB 37/08 – Rn. 10).

Daran gemessen ist dem Senat bei der Versäumung der Frist zur Berufungseinlegung keine Fürsorgepflichtverletzung vorzuwerfen.

Die Annahme der Beklagten, das Oberlandesgericht hätte auf die am letzten Tag der Notfrist, den 04.09.2023, 10:13 Uhr, übermittelte Berufungsschrift noch im Laufe des Tages darauf hinweisen müssen, dass die Voraussetzungen des § 130a ZPO nicht erfüllt sind, überspannt die gerichtliche Überprüfungspflicht. Zwar darf eine Frist bis zum Ende ausgeschöpft werden; allerdings gilt dann ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab, der insbesondere auch die Überprüfung der Form der Rechtsmittelschrift durch den Rechtsanwalt umfasst. Eine Pflicht des Gerichts, an der Heilung von Form- und Fristmängeln durch außerordentliche Maßnahmen außerhalb des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs mitzuwirken, besteht nicht (vgl. BGH NJW 2013, 236; NJW-RR 2014, 2). Dass der ordnungsgemäße Geschäftsgang nicht vorsieht, dass vom zuständigen Spruchkörper innerhalb weniger Stunden von eingehenden Berufungen Kenntnis genommen wird, um auf mögliche Formmängel hinzuweisen, bedarf keiner weiteren Ausführungen.

Im normalen Geschäftsgang ist das Berufungsverfahren durch die Eingangsgeschäftsstelle nach dem bestehenden Turnussystem dem 9. Zivilsenat zugeteilt worden. Im Anschluss daran hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle mit Verfügung vom 07.09.2023 (Bl. 13, 14 d. eA II) die Eingangsformalien erledigt und das Verfahren wegen Urlaubs des Vorsitzenden der Stellvertreterin zur Kenntnis vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt konnte eine rechtzeitige Berufungseinlegung durch die Beklagte nicht mehr erfolgen. Ein Verschulden von Seiten des Gerichts ist daher nicht gegeben.“