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Durchsuchung III: Lange Auswertung in KiPo-Sache, oder: Mehr als sechs Monate in der Regel zu lange

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Und dann habe ich noch den LG Bonn, Beschl. v. 30.09.2024 – 22 Qs 23/24. Da geht es auch um Zeit und Gültigkeit. Aber nicht um die Gültigkeit der Durchsuchungsanordnung für die Durchführung der Durchsuchung in einem KiPo-Verfahren, sondern um die Dauer der Auswertung des bei der Durchsuchung, die am 05.09.2023 durchgeführt wurde, beschlagnahmten Materials. Der Beschwerde hat dann am 27.08.2024  gegen die am 15.09.2023 angeordnete Beschlagnahme Beschwerde eingelegt und diese mit der überlangen Auswertedauer begründet. Die Aufbereitung und Auswertung der sichergestellten Daten dauert da nach Auskunft einer Polizeibeamtin aufgrund technischer Probleme und der Wartezeit auch bei priorisierten Auswertungen nach wie vor an.

Die Beschwerde  war begründet.

„Die Beschlagnahme der unter 1. bezeichneten Gegenstände ist nicht mehr verhältnismäßig und daher aufzuheben.

Die Beschlagnahme muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts stehen und für die Ermittlungen notwendig sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 94, Rn. 18). Die Dauer der Auswertung beschlagnahmter Beweismittel bestimmt sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls, feste Zeitgrenzen sind insofern nicht sachgerecht (anders LG Aachen, Beschluss vom 14.06.2000 – 65 Qs 60/00). Vielmehr sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Hierbei ist das staatliche Interesse an der Strafverfolgung gegen die grundgesetzlich verbürgten Eigentumsrechte des Beschuldigten abzuwägen (LG Limburg, Beschluss vom 22. August 2005 – 5 Qs 96/05 -, Rn. 14, juris). Die Stärke des Tatverdachts, der Umfang und das Gewicht des Tatvorwurfs sowie der Ermittlungsstand sind dem aus der Beschlagnahme resultierenden Ausmaß der Beeinträchtigung für einen Betroffenen, dem Wert und Alter der Geräte, einem möglichen Wertverlust und gegebenenfalls vorhandenen Entschädigungsansprüchen gegenüberzustellen (LG Ravensburg, Beschluss vom 2.7.2014 – 2 Qs 19/14).

Gemessen daran wäre eine Aufrechterhaltung der Beschlagnahmeanordnung vorliegend unverhältnismäßig: Der Beschwerdeführer hat zwar die Nutzung des tatrelevanten Accounts eingeräumt, im Übrigen aber noch keine Einlassung abgegeben. Der Beschwerdeführer war zum Tatzeitpunkt 14 Jahre alt und demnach gerade strafmündiger Jugendlicher. Die Aufbereitung und Auswertung der beschlagnahmten Geräte ist über ein Jahr nach der Sicherstellung derselben noch nicht abgeschlossen, ohne dass dies auf dem besonderen Umfang der hier zu überprüfenden Datenmenge beruhen würde. Vielmehr hat sich die Auswertung aufgrund Überlastung der auswertenden Behörde, technischer Probleme und weiterer höher priorisierter Auswertungen erheblich verzögert. Eine derart verzögerte Bearbeitung durch unzureichend ausgestattete staatliche Organe vermag einen deutlich über sechs Monate hinwegdauernden Eingriff in Eigentumsrechte des Betroffenen nicht zu rechtfertigen (so auch LG Limburg, Beschluss vom 22. August 2005 – 5 Qs 96/05 -, Rn. 14, juris und LG Kiel StraFo 2004, 93). Dabei verkennt die Kammer nicht, dass es sich bei der in Rede stehenden Datei nicht um eine jugendtypische handelt, sondern um eine, die den schweren sexuellen Missbrauch eines Kindes zeigt, die überdies noch nicht bekannt war. Dennoch stellt sich der Verdacht gegenüber dem Beschwerdeführer als vergleichsweise vage dar, weil der Beschwerdeführer sich bislang lediglich dazu eingelassen hat, den tatrelevanten Snapchat-Account in der Vergangenheit genutzt zu haben bis dieser – aus ihm unbekannten Gründen – gesperrt worden sei. Insbesondere hat der Beschwerdeführer nicht den Besitz weiterer kinder- oder jugendpornografischer Dateien eingeräumt, so dass weitere inkriminierte Dateien im Rahmen der Auswertung der Daten zwingend zu erwarten wären. Dabei hat die Kammer nicht unberücksichtigt gelassen, dass – sollte sich der Verdacht erhärten und die kinderpornografische Datei auf einem der Datenträger gespeichert sein – die Ermittlungsbehörden durch die Rückgabe der Gegenstände erneuten Besitz des Beschwerdeführers an der inkriminierten Datei begründen und damit eine erneute Strafbarkeit auslösen könnten. Die Tatsache, dass die Rückgabe der sichergestellten Gegenstände einerseits die Auswertung noch nicht gesicherter Dateien unmöglich machen könnte und andererseits eine erneute Strafbarkeit auslösen könnte, ist im Vergleich zu den nunmehr über ein Jahr andauernden Eingriff in die Eigentumsrechte des Beschwerdeführers ein hinzunehmender Nachteil.“

Durchsuchung I: Durchsuchung im Kipo-Verfahren, oder: 16-Jähriger bittet 13-Jährige um Nacktbilder

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Heute gibt es dann StPO-Entscheidungen. Alle drei haben mit Durchsuchung und/oder Beschlagnahme zu tun.

Ich fange „ganz oben“ an, nämlich beim BVerfG. Das hat sich im BVerfG, Beschl. v. 29.01.2025 – 1 BvR 1677/24 – in erster Linie zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde geäußert, aber dann auch in einem obiter dictum zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung in einem KiPo-Verfahren und zur Auffindevermutung Stellung genommen

Der Entscheidudng liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Staatsanwaltschaft führte gegen den zum Tatzeitpunkt (§ 155 StPO) jugendlichen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornographischer Inhalte. Ausgangspunkt war ein Chat des damals knapp 16-jährigen Beschuldigten mit einem 11-jährigen Mädchen, das sein Alter ihm gegenüber wahrheitswidrig mit 13 Jahren angegeben hatte. In dem sehr kurzen Chatverlauf erkundigte sich der Beschuldigte, ob das Mädchen ihm Nacktbilder schicken würde. Dies lehnte das Mädchen auch auf Nachfrage hin ab. Daraufhin endete der Chatverlauf.

Auf dieser Grundlage ordnete das AG die Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten an. Aus dem Chat ergebe sich ein offensichtliches Interesse an kinderpornographischem Material, weshalb auch der Verdacht bestehe, dass der Beschuldigte im Besitz anderer solcher Inhalte sei. Die Durchsuchung wurde vollzogen, wobei mehrere elektronische Geräte des Beschuldig-ten sichergestellt wurden.

Die vom Beschuldigten gegen den Durchsuchungsbeschluss eingelegte Beschwerde hat das LG als unbegründet verworfen. Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde des Beschuldigten. Er sieht sich durch die gerichtlichen Entscheidungen unter anderem in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG verletzt. Die Durchsuchung sei wegen des eher schwachen Anfangsverdachts, der aufgrund seines Alters geringen Tatschwere und der nur schwachen Auffindewahrscheinlichkeit unverhältnismäßig gewesen.

Das BVerfG hat die Verfassungsbe-schwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei.

Insoweit stelle ich nur (meine) Leitsätze zu der Entscheidung ein und verweise im Übrigen auf den verlinkten Volltext mit der „Bitte“ um Beachtung der Ausführungen des BVerfG:

1. Die allgemeine Begründungslast des § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG umfasst grds auch die – fristgerechte – Darlegung, dass die Frist des § 93 Abs 1 S 1 BVerfGG eingehalten ist, sofern sich dies nicht ohne Weiteres aus den Unterlagen ergibt.

2. Bei einer gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme gerichteten Verfassungsbeschwerde muss dafür mitgeteilt werden, wann die für die Fristberechnung maßgebliche Instanzentscheidung sowohl der Verteidigung als auch den Beschwerdeführenden bekannt gemacht wurde.

Es gibt dann aber auch noch ein obiter dictum des BVerfG, aus dem m.E. sehr deutlich wird, was das BVerfG von der Durchsuchungsmaßnahme hält, nämlich nichts:

„2. Aufgrund der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde kann offenbleiben, ob sich die Durchsuchungsanordnung und die Entscheidung über die Beschwerde in der Sache noch als verfassungsgemäß erweisen. Zweifel bestehen allerdings in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Anordnung.

a) Die Anordnung der Durchsuchung bedarf wegen des erheblichen Eingriffs in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Beschwerdeführers einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 20, 162 <186 f.>; 96, 44 <51>). Die Durchsuchung muss insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 20, 162 <186 f.>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>).

b) Danach begegnet die Angemessenheit der Durchsuchungsanordnung verfassungsrechtlichen Bedenken. Angesichts der schwer wirkenden Eingriffsintensität einer Durchsuchung ist zu besorgen, dass der aufgrund des kurzen Chats eher schwache Anfangsverdacht sowie die daher nur geringe Auffindevermutung nicht ausreichen, um die Durchsuchungsanordnung zu rechtfertigen. So weist der vorliegende Chatverlauf lediglich auf das Interesse des erst knapp 16 Jahre alten Beschwerdeführers am Besitz von Nacktbildern eines (vermutlich) 13-jährigen Mädchens hin. Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer ein weitergehendes Interesse an dem Besitz anderer strafbarer Inhalte als an Nacktbildern pubertierender Mädchen vorzuwerfen sein könnte, sind aus den vorgelegte Unterlagen nicht ersichtlich.“

M.E. ist das mehr als deutlich. Denn danach wird man davon ausgehen können, dass die Verfassungsbeschwerde, wenn sie zulässig gewesen wäre, Erfolg gehabt hätte. Und das mit Recht. Denn man wird kaum daraus schließen können, dass ein (wahrscheinlich auch noch pubertierender) 16-Jähriger, der ein pubertierendes Mädchen von (vermeintlich) 13 Jahren nach Nacktbildern fragt, ein (weitergehendes) Interesse an dem Besitz kinderpornographischer Inhalte hat. Jedenfalls wird man davon nicht ohne weitere Anhaltspunkte ausgehen können (vgl. zur Durchsuchung im KiPo-Bereich BVerfG, Beschl. v. 21.10.2024 – 1 BvR 2215/24 und auch den schönen Beitrag des Kollegen Urbancyk in StRR 2/2025, 6). Mich hätte im Übrigen mal die Begründung des AG für die Anordnung der Durchsuchung und die Begründung des Beschwerdeentscheidung des LG interessiert. Viel kann da jedenfalls nicht an Begründung gestanden haben. Sonst wäre das BVerfG nicht doch so deutlich geworden.

Abschleppen wegen Parkens im absoluten Halteverbot, oder: Verhältnismäßigkeit der Abschleppmaßnahme

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Im zweiten Posting gann mal wieder etwas zum Abschleppen, und zwar nimmt das VG Bremen, Urt. v. 27.01.2025 – 5 K 2090/23 – zur Verhältnismäßigkeit einer Abschleppmaßnahme und zu den Anforderungen an die Einzelfallprüfung Stellung.

Gestritten wird um die Heranziehung des Klägers zu den Kosten einer Abschleppmaßnahme. Der Kläger hatte seinen Pkw am 04.07.2021 kurz nach 18:00 Uhr in der Straße Am Deich in Höhe der Langemarckstraße im absoluten Halteverbot geparkt. Das Ordnungsamt veranlasste das Abschleppen des Fahrzeugs mit dem Abschleppgrund „Parken im Halteverbot“. Vor Beendigung der Abschleppmaßnahme entfernte der Kläger das Fahrzeug. Nach Anhörung des Klägers setzte das Ordnungsamt Kosten und Gebühren in Höhe von insgesamt 223 EUR (165 EUR Kosten für die Leerfahrt, 58 EUR Verwaltungsgebühr) gegen ihn fest. Dagegen legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, für eine Abschleppmaßnahme reiche das bloße verbotswidrige Parken im absoluten Halteverbot nicht, sondern es bedürfe einer konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer. Eine solche habe nicht vorgelegen. Der Verstoß habe sich an einem Sonntagabend ereignet, zu einer Zeit, zur der gewöhnlich wenig Verkehr vorherrsche. Das Fahrzeug sei zudem nur eine relativ kurze Zeitspanne abgestellt worden. Es fehle an einer einzelfallbezogenen Prüfung und Begründung der Maßnahme.

Der Widerspruch war erfolgos. Die dann erhobene Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das VG führt zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme aus:

„c) Die Anordnung der Abschleppmaßnahme war auch verhältnismäßig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Nachteile, die mit einer Abschleppmaßnahme für den Betroffenen verbunden sind, nicht außer Verhältnis zu dem bezweckten Erfolg stehen dürfen, was sich aufgrund einer Abwägung der wesentlichen Umstände des Einzelfalles beurteilt. Soweit mit dem Verkehrszeichen 283 ein absolutes Halteverbot angeordnet wurde, liegt dem eine konkrete Verkehrssituation vor Ort zugrunde, die auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Einzelfallprüfung notwendig macht, ob eine Abschleppmaßnahme gerechtfertigt ist (OVG Bremen, Urt. v. 15.04.2014 – 1 A 104/12 –, juris Rn. 28 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 09.04.2014 – 3 C 5/13 –, BVerwGE 149, 254-265, juris Rn. 12).

Das Abschleppen aus einem absoluten Halteverbot ist kein Selbstzweck, sondern findet seine Rechtfertigung in der Gefahr für die Verkehrssicherheit, die einer solchen Regelung regelmäßig zugrunde liegt. Maßgeblich ist daher eine Einzelfallprüfung der dem Verkehrsschild zugrundeliegenden konkreten Verkehrssituation vor Ort. Zu prüfen ist demnach in einem ersten Schritt, welche Verkehrssituation – damit regelmäßig: welche (abstrakte) Gefahr für die Verkehrssicherheit – dem Halteverbot zugrunde liegt und sodann in einem zweiten Schritt, ob mit Blick auf diesen (abstrakten) Zweck der mit der Abschleppmaßnahme bezweckte (konkrete) Erfolg für die Verkehrssicherheit – also die sofortige Beendigung des Verstoßes – die Nachteile für den Betroffenen überwiegt. Dabei sind Abschleppmaßnahmen ohne konkrete Behinderungen nicht ausgeschlossen, die gegenläufigen Interessen bekommen aber naturgemäß ein größeres Gewicht (BVerwG, a.a.aO.).

(aa) Die durch Fotos dokumentierten und bei google view erkennbaren örtlichen Verhältnisse zeigen einen durch Kfz-, Rad- und insbesondere auch Straßenbahnverkehr gekennzeichneten Kreuzungsbereich. Es besteht nur teilweise eine Ampelregelung. Es kann von der Langemarckstraße sowohl aus der Innenstadt kommend als auch von der B6 kommend in die Straße „Am Deich“ eingebogen werden. Durch die mit dem Halteverbot bezweckte Freihaltung des Kreuzungsbereichs soll ersichtlich sichergestellt werden, dass in diesem Abschnitt die aus der Straße „Am Deich“ herausfahrenden und die in die Straße „Am Deich“ hineinfahrenden Fahrzeuge problemlos aneinander vorbeifahren können.

Wenn der abstrakte Zweck des hier streitgegenständlichen Halteverbots danach gerade in der Freihaltung eines unübersichtlichen und engen Kreuzungsbereichs liegt, dann war in der konkreten Situation auch das Abschleppen des Fahrzeugs des Klägers gerechtfertigt. Das Abstellen des Kraftfahrzeugs im absoluten Halteverbot hat mindestens zu einer deutlichen Verengung der Fahrbahn geführt, die durch die Anordnung des absoluten Halteverbots gerade verhindert werden sollte. Diese Gefährdung der Verkehrssicherheit ist nicht dadurch aufgehoben, dass vor dem Fahrzeug des Klägers noch Platz für einen weiteren Pkw war. Denn auch dies konnte nicht verhindern, dass an dem Fahrzeug des Klägers vorbeifahrende Fahrzeuge auf entgegenkommende in die Straße „Am Deich“ einfahrende Fahrzeuge treffen und es an der unübersichtlichen Kreuzung zu gefährlichen Verkehrssituationen durch abruptes Bremsen oder einen Rückstau kommen konnte. Das Fahrzeug des Klägers beeinträchtigte in dieser besonderen Verkehrssituation die Sicherheit und Leichtigkeit des Kreuzungsverkehrs. Es kommt nicht darauf an, dass es sich um einen Sonntag handelte. Die Kreuzung liegt innenstadtnah in unmittelbarer Nähe zur Schlachte, einem Bereich mit großem gastronomischen Angebot, das Besucher gerade auch an Sonntagabenden anzieht. Bereits nach allgemeiner Lebenserfahrung ist in diesem Bereich mit einem erhöhten Parksuchverkehr zu rechnen.

(bb) Dieses Verständnis führt auch nicht dazu, dass letztlich jeder Verstoß gegen ein absolutes Halteverbot die Behörde zum Abschleppen berechtigen würde. Es sind genügend Fälle denkbar, in denen die Analyse des dem Halteverbot zugrundeliegenden (abstrakten) Regelungszwecks ergeben kann, dass ein (konkreter) Abschleppvorgang nicht erforderlich oder angemessen ist. So kann etwa das Abschleppen bei einem verbotswidrigen Parken an einem Taxistand dann unverhältnismäßig sein, wenn der (dem Verkehrsschild abstrakt zugrundeliegende) Regelungszweck – der reibungslose Taxenverkehr – im konkreten Fall nicht beeinträchtigt ist, weil offenkundig nicht (mehr) mit einer Inanspruchnahme des Taxenstandes durch Taxen und deren Fahrgäste zu rechnen ist (ausdrücklich: BVerwG, Urt. v. 09.04.2014 – 3 C 5/13 –, juris Rn. 20). Denkbar wäre etwa ebenfalls, dass für einen bestimmten Tag ein Halteverbot zum (abstrakten) Zweck, eine Sinkkastenreinigung zu ermöglichen, errichtet worden ist (vgl. zu dieser Konstellation etwa OVG Bremen, Beschl. v. 24.06.2020 – 1 LA 90/20 –, juris), dieser Zweck durch ein später abgestelltes Fahrzeug jedoch konkret nicht (mehr) beeinträchtigt wird, weil etwa die Reinigung bereits erfolgreich durchgeführt wurde.“

Verkehrsrecht III: Entziehung der FE nach 9 Monaten, oder: Verstoß gegen des Verhältnismäßigkeitsgebot

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Und dann noch der LG Hamburg, Beschl. v. 05.08.2024 – 612 Qs 67/24  – ebenfalls zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach längerem Zeitablauf nach der Anlasstat.

Das AG hat dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis in einem Verfahren mit dem Vorwurf des unerlaubten Entfernens vom Unfallort vorläufig entzogen. Dagegen dann die Beschwerde, die Erfolg hatte:

„2. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Beschuldigten durch das Amtsgericht Hamburg stellt sich im vorliegenden Fall mit Blick auf die Verfahrensdauer als nicht mehr verhältnismäßig dar.

a) Es besteht indes der dringende Tatverdacht, dass der Beschuldigte eine Straftat nach § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB begangen hat.

…..

3. Der Beschuldigte ist nach vorläufiger Würdigung der Beweislage auch als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen. Dies folgt aus der vorliegend einschlägigen und nicht widerlegten Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB in Verbindung mit § 142 StGB.

…..

4. Die Entscheidung über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Amtsgericht Hamburg genügt jedoch mit Blick auf die Verfahrensdauer nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist aufzuheben, wenn durch schwerwiegende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens eintritt (OLG Nürnberg, Beschluss vom 14.02.2006 – Az. 1 Ws 119/06, Rn. 21, juris). Dies gilt insbesondere für eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens, die den Beschuldigten sodann in seinem Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verletzt (BVerfG, Beschluss vom 15.03.2005 – 2 BvR 364/05, NJW 2005, 1767 (1768)). Es sind mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits und dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits zu stellen. Darüber hinaus ist grundsätzlich in den Blick zu nehmen, dass wenn der Beschuldigte nach der ihm angelasteten Tat weiter im Besitz seiner Fahrerlaubnis ist und beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilnimmt, sein Vertrauen in den Bestand der Fahrerlaubnis wächst, während die Möglichkeit ihres vorläufigen Entzuges nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ihren Charakter als Eilmaßnahme zunehmend verliert (zum Ganzen: KG, Beschluss vom 08.02.2017 – Az. 3 Ws 39/17, BeckRS 2017, 113772).

Gemessen an diesen Maßstäben stellt sich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vorliegend als nicht mehr verhältnismäßig dar.

Dabei ist die erhebliche, gegen das Beschleunigungsgebot verstoßende Verfahrensdauer zwischen der hochwahrscheinlich begangenen Tat und den ersten Maßnahmen der Strafermittlungsbehörden in den Blick zu nehmen. Die Tat wurde seitens der Zeugin pp. durch eine E-Mail ihres Rechtsanwaltes pp. am 20.09.2023 dem Polizeikommissariat 43 zur Kenntnis gebracht (Bl. 5 ff. d.A.). Als nächstes Schriftstück befindet sich ein Schreiben des Rechtsanwalts pp. vom 13.11.2023 in der Akte, in dem dieser mitteilt, dass die Akte nicht mehr benötigt werde (Bl. 11 d.A.). In der Akte folgt sodann ein Vermerk der Polizeidienststelle VD 42 vom 09.04.2024, in dem mitgeteilt wird, dass die Sachbearbeitung übernommen wurde. Demzufolge sind fast sieben Monate vergangen, ohne dass ersichtliche Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet wurden. Der Beschluss über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erging sodann am 16.06.2024 (Bl. 31 d.A.) und damit mehr als neun Monate nach der hochwahrscheinlich begangenen Tat, was bereits für sich genommen in erheblicher Spannung zum Charakter des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO als Eilmaßnahme steht.

Hinzu kommt, dass der Beschuldigte zumindest laut der in der Akte befindlichen Auskunft des Kraftfahrbundesamtes vom 07.05.2024 seit der hochwahrscheinlich begangenen Tat am 05.09.2023 beanstandungsfrei am Straßenverkehr teilgenommen hat, wodurch neben der langen Verfahrensdauer zusätzlich Vertrauen in den – zumindest vorläufigen – Bestand der Fahrerlaubnis beim Beschuldigten entstanden ist.“

Tja, vielleicht ein Phyrrussieg? Einerseits sicherlich sehr schön die Aufhebung, andererseits macht das LG aber – an sich nicht notwendige – Ausführungen zur Tat und zur Beweiswürdigung, die das AG – je nach Einlassung des Beschuldigten – wahrscheinlich mit Freuden lesen wird. Denn da kann es ggf. schän „abschreiben“.

Drei Beschlüsse zur Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: KCanG, Cannabiskonsum, berufliche Gründe, Diabetes

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Heute dann „Kessel-Buntes-Tag“, und zwar mit einigen verwaltungsrechtlichen Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem StVG.

Ich beginne mit drei Entscheidungen aus Bayern, von denen ich aber nur die Leitsätze vorstelle. Das sind:

1. Die regelmäßige Einnahme von Cannabis hat nach der Rechtslage vor dem 01.04.2024 gemäß Nr. 9.2.1 der Anlage 4 FeV ohne das Hinzutreten weiterer Umstände im Regelfall die Fahreignung ausgeschlossen.

2. Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der Anfechtung einer Entziehung der Fahrerlaubnis ist grundsätzlich der Zeitpunkt des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich. Eine Rückwirkung der für den Fahrerlaubnisinhaber günstigeren Neuregelung nach der Rechtsänderung am 01.04.2024 hat der Gesetz- und Verordnungsgeber nicht vorgesehen. Sie ist im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der bisherigen Regelung auch nicht verfassungsrechtlich geboten.

  • BayVGH, Beschl. v. 19.12.2024 – 11 CS 24.1933 – Zur Frage der Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem und zur – verneinten – Unverhältnismäßigkeit bei beruflicher Angewiesenheit auf die Fahrerlaubnis:

Dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt angesichts der Gefahren durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen.

Ergeben sich Zweifel an der Fahreignung des Fahrerlaubnisinhabers aus einer feststehenden insulinbehandelten Diabetes-Erkrankung mit einer reduzierten Hypoglykämiewahrnehmung und überdies aus einer Polyneuropathie mit einer einer leichtgradigen Gangunsicherheit und einer eingeschränkten linken Fußhebung, kann die Verwaltungsbehörde die Fahrerlaubnis entziehen.