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StPO III: Sicherungsbedürfnis beim Vermögensarrest, oder: Unaufgeklärte Beteiligung mehrere Personen

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Und als dritte Entscheidung dann hie rnoch etwas zum Vermögensarrest, und zwar der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 30.04.2024 – 12 Qs 11/24.

Der Ermittlungsrichter des AG hat gegen den Beschuldigten einen Beschluss, mit dem er den Vermögensarrest zur Sicherung eines Anspruchs auf Wertersatz über 34.911,57 EUR anordnete, erlassen. Tatvorwurf war gewerbsmäßiger Bandenbetrug; die Einzelheiten sind für die Entscheidung nicht von Bedeutung.

Aufgrund dieses Arrestes führte die Staatsanwaltschaft Pfändungsmaßnahmen durch. Der Verteidiger des Beschuldigten hat Beschwerde eingelegt, die aber keinen Erfolg hatte:

„Die statthafte Beschwerde (§ 304 Abs. 1 StPO) ist auch im Übrigen zulässig. In der Sache ist sie allerdings unbegründet, weil der Arrest zu Recht angeordnet wurde und derzeit aus Verhältnismäßigkeitsgründen auch nicht aufzuheben ist.

1. Die Anordnung eines Arrestes setzt gem. § 111e Abs. 1 Satz 1 StPO lediglich den Anfangsverdacht einer rechtswidrigen Straftat i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO voraus, mit der Folge, dass die Voraussetzungen der Einziehung (von Wertersatz) bejaht werden können (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25.10.2017 – 1 Ws 163/17, juris Rn. 10; OLG Hamburg, Beschluss vom 26.10.2018 – 2 Ws 183/18, juris Rn. 29 m.w.N.). Es müssen also konkrete Tatsachen vorliegen, die in Verbindung mit kriminalistischer Erfahrung den Schluss zulassen, dass später eine Einziehung erfolgen kann. Diese Voraussetzungen liegen vor.

a) Klarzustellen ist zunächst, dass es im Rahmen der Beschwerde gegen einen Vermögensarrest nicht darauf ankommt, ob im Zeitpunkt des Erlasses des Arrestbeschlusses ein Anfangsverdacht vorlag, sondern darauf, ob er im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegt. Die Beschwerde ist eine Tatsacheninstanz (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 309 Rn. 3; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 309 Rn. 6) und nicht auf die retrospektive Überprüfung der seinerzeitigen Sachlage bei Erlass der angegriffenen Entscheidung beschränkt (anderes gilt lediglich bei Durchsuchungsbeschlüssen zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts in Art. 13 Abs. 2 GG, vgl. MüKo-StPO/Hauschild, 2. Aufl., § 105 Rn. 41c m.w.N.).

b) Dies vorweggeschickt besteht zunächst ein Anfangsverdacht hinsichtlich des Beschuldigten Ö.

2. Das für die Arrestanordnung notwendige Sicherungsbedürfnis besteht.

Im Ausgangspunkt ist beim Vorliegen dringender Gründe, die die Kammer als gegeben erachtet, die Anordnung des Vermögensarrestes nach § 111e Abs. 1 Satz 2 StPO der gesetzliche Regelfall („soll“, vgl. BT-Drs. 18/9525, 77; OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 14; KK-StPO/Spillecke, 9. Aufl., § 111e Rn. 2). Diese gesetzliche Wertung begründet zwar keinen Automatismus, wonach allein schon der dringende Verdacht einer gegen fremdes Vermögen gerichteten Straftat die Bejahung des Sicherungsbedürfnisses rechtfertigt (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 6 m.w.N.), senkt aber gegebenenfalls die Hürden für die Begründung des Sicherungsbedürfnisses und der Verdacht gibt ein starkes Indiz für dessen regelmäßiges Vorliegen (vgl. die Rspr.-Nachweise bei Rettke, wistra 2024, 38), wobei auch allgemein kriminalistische Erfahrungen zu berücksichtigen sind (vgl. LR-StPO/Johann, 27. Aufl., § 111e Rn. 18). Weiterhin teilt die Kammer die Einschätzung von Köhler (in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 111e Rn. 7), dass das Sicherungsbedürfnis ohne weiteres bei mehreren Tatbeteiligten angenommen werden kann, wenn der personelle Hintergrund der Straftaten (noch) nicht völlig aufgeklärt werden konnte und deshalb zu besorgen ist, dass der Einziehungsadressat sein noch vorhandenes Vermögen mithilfe der weiteren Mittäter dem Zugriff entziehen könnte. So liegen die Dinge hier. Der Sachverhalt ist noch nicht umfassend aufgeklärt, die Ermittlungen legen aber nahe, dass hier eine größere Anzahl von Beteiligten an dem Geschäftsmodell der UG beteiligt war, sodass auch die vorläufige Bejahung eines gewerbsmäßigen Bandenbetrugs (§ 263 Abs. 5 StGB) derzeit gut begründet ist. Damit sind aber auch die Beziehungen zwischen den Beteiligten und damit das Risiko ihres kollusiven Verhaltens derzeit noch nicht sicher abzuschätzen, was prognostisch zulasten des Beschuldigten geht.

3. Der Arrest ist auch im Übrigen verhältnismäßig.

Bei der Anordnung eines Arrestes ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, bei der das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegen das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 Abs. 1 GG abzuwägen ist; die „Soll“-Regelung des § 111e Abs. 1 Satz 2 StPO lässt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unberührt (BT-Drs. 18/9525, S. 77). Dabei wachsen mit der den Eigentumseingriff intensivierenden Fortdauer der Maßnahme die Anforderungen an die Rechtfertigung der Anspruchssicherung (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 107 m.w.N.). Derzeit fällt die Abwägung zugunsten des staatlichen Sicherungsbedürfnisses aus.

Bedenken gegen die Dauer des Arrestes bestehen hier nicht, nachdem er erst seit wenigen Wochen vollstreckt wird. Inwieweit der Arrest die Lebensführung des Beschuldigten beschränkt, vermag die Kammer nach gegebenem Aktenstand nicht zu sagen; die Bemerkung in der Beschwerde, der Beschuldigte sei „in seinem täglichen Leben erheblich eingeschränkt“ ist reichlich unbestimmt. Aber selbst wenn der Arrest in wirtschaftlicher Hinsicht zur Folge haben sollte, dass dadurch nahezu das gesamte Vermögen des Beschuldigten dessen Verfügungsbefugnis entzogen wurde (dazu vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.2015 – 2 BvR 1986/14, juris), hinderte das die Anordnung des Arrestes nicht. Denn sind die Voraussetzungen der Einziehung von Taterträgen nach § 73 Abs. 1 StGB oder einer hieran anknüpfenden Wertersatzeinziehung gemäß § 73c StGB erfüllt, sieht die gesetzliche Regelung die Anordnung der entsprechenden Vermögensabschöpfung zwingend vor, sofern, wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt, kein Ausschlusstatbestand des § 73e StGB gegeben ist. Eine Abhilfe zugunsten des Beschuldigten ist mit der Regelung des § 459g Abs. 5 StPO eröffnet, die eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung im Vollstreckungsverfahren vorsieht (BGH, Urteil vom 27.09.2018 – 4 StR 78/18, juris Rn. 11). Dazu kann bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vorgetragen werden.“

StPO I: Haftbeschwerde während laufender HV, oder: Der dringende Tatverdacht beim Beschwerdegericht

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So, zunächst mal allen „Vätern“ einen schönen Vatertag  und viel  Spaß an alle, die sich heute auf Tour begeben. Für die, die zu Hause bleiben, gibt es hier das normale Programm, und zwar wieder mit StPO, OWi-Entscheidungen fehlen derzeit, um darüber zu berichten.

Ich beginne mit einem BGH-Beschluss, und zwar dem BGH, Beschl. v. 23.4.2024 – StB 22/24 – zur Beurteilung des dringenden Tatverdachts durch das Beschwerdegericht während laufender Hauptverhandlung.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen Beihilfe zum Mord. Der Angeklagte befand sich vom 06.062023 bis zum 08.032024 in Untersuchungshaft aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des BGH v. 01.062023 (3 BGs 106/23). Das OLG, vor dem seit dem 27.02.2024 die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Vorwurfs geführt wird, hat den Haftbefehl durch Beschluss vom 08.03.2024 mit der Begründung aufgehoben, dass ein dringender Tatverdacht in Bezug auf die subjektive Tatseite unter Berücksichtigung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise nicht mehr bestehe.

Dagegen die Haftbeschwerde des GBA, die beim BGH keinen Erfolg hatte:

„1. Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, unterliegt im Haftbeschwerdeverfahren in nur eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht. Allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, ist in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder weggefallen ist. Das Beschwerdegericht hat demgegenüber keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme. Allerdings muss es auch im Fall der Aufhebung eines Haftbefehls in die Lage versetzt werden, seine Entscheidung über ein hiergegen gerichtetes Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft auf einer hinreichend tragfähigen tatsächlichen Grundlage zu treffen. Hieraus folgt indes nicht, dass das erkennende Gericht alle bislang erhobenen Beweise in der von ihm zu treffenden Entscheidung einer umfassenden Darstellung und Würdigung zu unterziehen hat. Seine abschließende Bewertung der Beweise und ihre entsprechende Darlegung ist den Urteilsgründen vorbehalten. Das Haftbeschwerdeverfahren führt insoweit nicht zu einem über die Nachprüfung des dringenden Tatverdachts hinausgehenden Zwischenverfahren, in dem sich das Tatgericht zu Inhalt und Ergebnis aller Beweiserhebungen erklären müsste.

Um dem Beschwerdegericht eine eigenverantwortliche Entscheidung zu ermöglichen, bedarf es daher einer – wenn auch knappen – Darstellung, ob und inwieweit sowie durch welche Beweismittel sich der zu Beginn der Beweisaufnahme vorliegende Verdacht bestätigt oder verändert hat und welche Beweisergebnisse gegebenenfalls noch zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht beanstandet die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, soweit die Würdigung des Erstgerichts offensichtliche Mängel aufweist, welche die Einschätzung der Verdachtslage als unvertretbar erscheinen lassen. Der Beschwerde vermag es indes nicht zum Erfolg zu verhelfen, wenn der Rechtsmittelführer die Ergebnisse der Beweisaufnahme abweichend bewertet (s. insgesamt BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – StB 38/20, juris Rn. 12 mwN).

2. Daran gemessen ist die vorläufige Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts hinzunehmen…..“

Verkehrsrecht III: Bewegungsdaten versus Zeugen, oder: Dringender Tatverdacht für Trunkenheitsfahrt?

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Und dann als dritte verkehrsrechtliche Entscheidung noch ein Beschluß des LG Itzehoe. Bei dem hatte die Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) Erfolg. Das LG hat im LG Itzehoe, Beschl. v. 11.10.2023 – 2 Qs 137/23 – den dringenden Tatverdacht für eine „Trunkenheitsfahrt“ verneint, und zwar mit einer ganz interessanten Begründung bzw. aufgrund einer interessanten „Beweiserhebung“:

„Voraussetzung einer Maßnahme nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO ist das Vorliegen von dringenden Gründen für die Annahme, dass in einem Urteil die Maßregel nach § 69 StGB angeordnet werden wird. Dies erfordert dringenden Tatverdacht und einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht den Beschuldigten für ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen halten und ihm daher die Fahrerlaubnis entziehen werde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 111a Rn. 2). Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs anzusehen und die Fahrerlaubnis deshalb zu entziehen, wenn er ein Vergehen nach § 316 StGB (Trunkenheit im Verkehr) begangen hat.

Derzeit ist aber nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird. Denn es liegen keine dringenden Gründe für die Annahme vor, dass der Angeklagte im Verkehr ein Fahrzeug geführt hat, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel nicht in der war, das Fahrzeug sicher zu führen.

Die Zeugen pp. und pp. haben zwar angegeben, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug neben ihnen (ein)parkte. Die vorgelegten Bewegungsdaten des Fahrzeugs, mit dem der Angeklagte sich auf den Parkplatz begeben hatte und bei dem es sich um einen Firmenwagen handelt, widersprechen dem aber. Danach ist nicht davon auszugehen, dass der Angeklagte zu einem Zeitpunkt um kurz vor 13.20 Uhr das Fahrzeug führte. Aus ihnen ergibt sich lediglich, dass das Fahrzeug um 11.27 Uhr entriegelt und um 13.16 Uhr verriegelt wurde. Eine Bewegung in der Zwischenzeit ist dem nicht zu entnehmen. Die Bewegungsdaten hat ausweislich der schriftlichen Angaben des Herrn pp. des Arbeitsgebers des Angeklagten, er selbst und nicht der Angeklagte ausgelesen. Dem Privatgutachten liegen zwar nur diese von Herrn pp. an den Angeklagten übermittelten Screenshots der Bewegungsdaten zugrunde, allerdings lässt sich dem Gutachten zumindest entnehmen, dass man die Daten nicht manipulieren könne. Der den 02.06.2023 betreffenden Übersicht kann man zudem auch geringe Entfernungen von unter einem Kilometer entnehmen, das System erfasst also auch sehr kurze Strecken.

Letztlich muss die Klärung des Sachverhalts der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben und der Widerspruch dort geklärt werden. Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist aber nicht davon auszugehen, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB entzogen werden wird.“

EncroChat: Verwendung eines Krypto-Handys genügt für dringenden Tatverdacht, oder: Nein, OLG Rostock

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Die zweite Entscheidung, die ich zum Wochenauftakt vorstelle, ist dann ein weiterer OLG-Beschluss zur EncroChat-Thematik und zwar der OLG Rostock, Beschl. v. 23.03.2021 – 20 Ws 70/21, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Ergangen ist der Beschluss in einem BtM-Verfahren im Verfahren der weiteren (Haft)Beschwerde. Das OLG verwirft – und macht es sich dabei m.E. sehr einfach. Denn es führt zum dringenden Tatverdacht, bei dem ja die Frage der Verwertung von EncorChat-Erketnntnissen eine Rolle spielt, nur aus:

„Der dringende Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 StPO) folgt aus den bislang gewonnenen, verwertbaren Beweismitteln. Schon die Verwendung eines Krypto-Handys der Fa. EncroChat deutet auf ein konspiratives Verhalten zur Begehung und Verdeckung von Straftaten hin (OLG Bremen, Beschluss vom 18.12.2020 – 1 Ws 166/20 – juris -). Soweit der Beschuldigte die Ansicht vertreten lässt, die EncroChat-Erkenntnisse und die darauf aufbauenden Beweisergebnisse seinen prozessrechtlich nicht verwertbar, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Beschlussgründe des OLG Bremen (a.a.O.) und des Hanseatischen OLGG Hamburg vom 29.01.2021 — 1 Ws 2/21 — Bezug genommen. Den dort vertretenen Auffassungen schließt sich der Senat an. Zur Verwertbarkeit der Erkenntnisse ausländischer Ermittlungsbehörden (EncroChat) vgl. zudem Pauli, NStZ 2021, 146 (m.w.N.).“

„Sehr einfach“, man kann , ja man muss es anders nennen: M.E. ist das, was das OLG da macht so nicht hinnehmbar. Abgesehen davon, dass man sich gar nicht erst die Mühe macht eigene Gedanken zu Papieren zu bringen – man verweist nur auf OLG Bremen und OLG Hamburg, die beide auch hier Gegenstand der Berichterstattung waren (OLG Bremen, Beschl. v. 18.12.2020 – 1 Ws 166/20 und dazu VV I: Verwertung einer Überwachung der TK mit Krypto-Handys, oder: Stichwort “EncroChat” und OLG Hamburg, Beschl. v. 29.01.2021 – 1 Ws 2/21 und dazu EncroChat-Erkenntnisse, oder: Verwertbar, auch wenn “nicht mehr hinnehmbar rechtsstaatswidrig….”, ist auch die Aussage/Schlußfolgerung: Verwendung eines Krypto-Handys ==> dringender Tatverdacht nicht hinnehmbar. Denn damit wird m.E. dem Beschuldigten eine Art Beweislast auferlegt. Er muss sich von dem Verdacht entlasten. Aber: Nein, das muss er nicht. Ich denke, das würde in Karlsruhe kaum halten. Ganz schön „mutig“ das OLG, aber leider zu Lasten des Beschuldigten, der nach dem Beschluss den Eindruck haben muss, dass das OLG die erforderliche Einzelfallprüfung nicht vorgenommen hat.

U-Haft II: „Totschlagsargument „Corona-Virus“,, oder: „…. in den Bereich der Geschmacklosigkeit“

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Die zweite Haftentscheidung des Tages kommt vom OLG Jena. Das hat im OLG Jena, Beschl. v. 30.04.2020 – 1 Ws 146/20 – zu der zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht abschließend geklärten Frage der Haftfortdauer in Coronazeiten Stellung genommen.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 03.04.2019 in Untersuchungshaft. Das AG hat ihn mit Urteil vom 02.10.2019 der Vergewaltigung und der sexuellen Belästigung schuldig gesprochen und ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 7 Monaten verurteilt. Dagegen die Berufungen des Angeklagten und der StA. Mit Verfügung vom 10.02.2020 bestimmte der Vorsitzende der Berufungskammer des LG Erfurt Beginn der Berufungshauptverhandlung auf den 26.03.2020 und Termine zur Fortsetzung auf den 27. und 30.03. sowie den 20., 23. und 24.04.2020. Mit Beschluss vom 18.03.2020 hob der Vorsitzende alle Termine ab dem 26.03.2020 auf und kündigte an, dass neuer Termin von Amts wegen ergehe. Zur Begründung ist ausgeführt, dass we­gen der Corona-Pandemie aus Schutzgründen nicht verhandelt werde.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers/seiner Verteidiger hat der Angeklagte Antrag auf mündliche Haftprüfung, Aufhebung des Haftbefehls und hilfsweise Gewährung von Haftverschonung beantragt. Das LG hat die Anträge zurückgewie­sen, Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet und hinsichtlich des weiteren Verfahrensgangs u. a. darauf hingewiesen, dass davon ausgegangen werde, dass die Berufungshauptverhandlung noch vor dem Sommer 2020 stattfinden könne. Dagegen die weitere Haftbeschwerde des Angeklagten.

Die hatte beim OLG keinen Erfolg. Zum mit der Beschwerde offenbar auch angegriffenen dringenden Tatverdacht weist das OLG darauf hin, dass die Bewertung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender bzw. – wie hier – aufgrund bereits (durch Urteil) abgeschlossener Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Überprüfung durch das Beschwerdegericht unterliegt, was ständige Rechtsprechung ist.  Nach durch Urteil abgeschlossener Hauptverhandlung komme eine Aufhebung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht nur ganz ausnahmsweise bei offenkundiger Begründetheit des Rechtsmittels in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 117 Rn. 11b). Das hat das OLG hier verneint.

Und zum Beschleunigungsgrundsatz – insoweit spielt dann „Corona“ eine Rolle:

„4. Der Fortdauer der Untersuchungshaft steht bislang auch nicht die mit der Beschwerde gerügte Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen entgegen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 22.01.2014, Az. 2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13, bei juris) setzt das verfassungsrechtliche Erfordernis der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs der Dauer der Untersuchungshaft unabhängig von der Straferwartung in dem zu sichernden Verfahren eine weitere Grenze, die mit dem verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerten Beschleunigungsgrundsatz in Zusammenhang steht (vgl. BVerfGE 20, 45, 49; 53, 152, 158).

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermitt­lungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines ge­ordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungs­haft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht ge­rechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (BVerfG, a. a. O.; Senat, Beschluss vom 23.01.2019, 1 Ws 13/19, Rn. 17 juris).

Gemessen daran ist der bisherige Verfahrensgang nicht zu beanstanden. Insbesondere ist nach der – mittlerweile ständigen – Senatsrechtsprechung nichts gegen den mit der Beschwerde pri­mär angegriffenen Beschluss des Landgerichts Erfurt vom 18.03.2020 zu erinnern, mit dem die in den Monaten März und April 2020 zunächst vorgesehenen Verhandlungstermine wieder aufge­hoben wurden. Denn diesem Aufschub der Hauptverhandlung liegt mit den zum betreffenden Zeitpunkt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen dringend gebotenen und nicht nur bundes-, sondern weltweit ergriffenen pandemiebedingten Gefahrenabwehrmaßnahmen im Gesundheits­sektor zum Schutz der Gesamtbevölkerung (COVID-19) ein nachvollziehbarer und wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO zu Grunde (vgl. u. a. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30.03.2020, HEs 1 Ws 84/20, juris), der eine Verletzung des Beschleunigungsgebots aus­schließt.

Hierzu hat der Senat in jüngster Vergangenheit – u. a. mit Blick auf die Rechtsprechung des Bun­desverfassungsgerichts zur Rechtfertigung der Haftfortdauer bei Verfahrensverzögerungen durch unvorhersehbare, schicksalhafte Ereignisse (vgl. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01. 2019, 2 BvR 2429/18, juris) – bereits mehrfach entschieden, dass eine aus der pan­demiebedingten Verschiebung von Hauptverhandlungen resultierende Verlängerung der Untersu­chungshaft, die auf ein außerhalb der Sphäre der Justiz liegendes schicksalhaftes Ereignis zu­rückgeht, von den Betroffenen in gewissen Grenzen hinzunehmen ist (u. a. Beschl. v. 20.03.2020, Az. 1 Ws 77/20, u. v. 08.04.2020, 1 Ws 109/20). Dies gilt auch für den vorliegenden Fall, zumal die Hauptverhandlung nach derzeitiger – nicht zu beanstandender – Planung der Straf­kammer jedenfalls zeitnah „noch vor dem Sommer“, mithin spätestens Juni 2020 beginnen soll.

Unangebracht erscheint in diesem Kontext der Vorwurf des Verteidigers PP2, dass die Berufungs­kammer seit über einem Monat „im Stillstand“ verharre, da bekanntermaßen erst mit der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Co­ronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO) vom 18.04.2020 die Beschränkun­gen des öffentlichen Lebens teilweise zurückgenommenen wurden, ohne dass im Zeitpunkt des Inkrafttretens am 20.04.2020 absehbar war, wie sich die Lockerungen auf die erst zwei Wochen später seriös bewertbare Entwicklung der Infektionszahlen auswirkt.

Die darüber hinaus im Schriftsatz vom 20.04.2020 gewählte Formulierung „Totschlagsargument „Corona-Virus’“, mit der eine vermeintlich unnötige Verzögerung zu Lasten des „bereits seit über 13 Monaten in Untersuchungshaft“ befindlichen Angeklagten angeprangert werden soll, gerät an­gesichts der in zahllosen amtlichen Erklärungen und zuverlässigen Medien hinlänglich erläuterten Problemstellung der unbedingten Vermeidung einer drohenden – und in einigen Staaten mit einer Vielzahl von Todesfällen leidvoll erfahrenen – Überforderung des Gesundheitssystems bereits in den Bereich der Geschmacklosigkeit.

Soweit in diesem Zusammenhang betont wird, dass die Untersuchungshaft des Angeklagten be­reits mehr als 1 Jahr andauert, führt dies ebenfalls zu keiner anderen Beurteilung, zumal während dieser Zeit bereits ein Urteil gegen den Angeklagten ergangen ist. Zwar gewinnt im Rahmen der gebotenen Abwägung des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ersterer mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft an Gewicht. Allerdings vergrößert sich mit einer gerichtlichen Verurteilung auch das in die Abwä­gung einzustellende Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, weil aufgrund einer durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Verurteilten als erwiesen angesehen worden ist. Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Um­stand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29.12.2005, 2 BvR 2057/05, juris).

Ungeachtet dessen weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass es angesichts der nach Maßga­be der 3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO vom 18.04.2020 teilweise zurückgenommenen Be­schränkungen, die auch nach Ablauf der Inkubationszeit von ca. 2 Wochen keine Verschärfung erfahren haben, mit Blick auf den Freiheitsanspruch des – zwar immerhin in einem ersten Rechtszug, aber noch nicht rechtskräftig verurteilten – Angeklagten nunmehr geboten erscheint, unter Ausschöpfung der Möglichkeiten des Infektionsschutzes bei richterlichen Amtshandlungen, deren Ausgestaltung nach Art und Weise gem. § 3 Abs. 3 der 3. ThürSARS-CoV-2 EindmaßnVO dem Richter überlassen bleibt, alsbald auf eine zeitnahe Neuterminierung hinzuwirken.“

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass das OLG von der Argumentation betreffend „Corona“ „not amused“ war. Die Formulierungen „unangebracht“ und „in den Bereich der Geschmacklosigkeit“ deuten darauf hin 🙂 . Ist/war ja auch irgendwie zweispältig: Da wurde einerseits beklagt, dass bzw. wenn verhandelt wurde, wenn nicht verhandelt wurde, wurde ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz reklamiert.