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Corona I: Durchsuchung beim „Querdenker-Lehrer“, oder: Man hätte ja auch mal fragen können

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Und dann heute drei Entscheidungen, die mit dem zweiten Sonderthema der letzten Zeit zu tun haben. Corona. Allerdings werden derzeit kaum noch Entscheidungen zur Verstößen gegen die Corona-VO veröffentlicht, sondern mehr Entscheidungen zu anderen Fragen, die zumindest ihren Ausgang in der Pandemie und deren Auswirkungen haben. Und davon habe ich hier auch noch drei, die ich heute vorstelle.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 15.11.2023 – 1 BvR 52/23. Gegenstand des Verfahrens ist ein Durchsuchungsbeschluss des AG Heilbronn

Der Beschwerdeführer ist verbeamteter Lehrer im Schuldienst des Landes Baden-Württemberg. Die StA führte gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beleidigung. Sie warf ihm vor, am 19.06.2021 als Teilnehmer einer Kundgebung von sogenannten Querdenkern zwei dort eingesetzte Polizeibeamte als „Scheißkerle“ und „Prügelbullen“ bezeichnet zu haben. In der nach Gewährung von Akteneinsicht mit Schreiben vom 19.11.2021 durch seinen Verteidiger abgegebenen Stellungnahme beantragte dieser die Einstellung des Verfahrens. Es fehle an einem hinreichenden Tatverdacht. In Rahmen der Stellungnahme teilte der Verteidiger u.a. auch mit, der Beschwerdeführer sei „Beamter im aktiven Dienst“.

Nach Eingang der Stellungnahme beantragte die StA beim AG den Erlass einer Durchsuchungsanordnung zur Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers. Das AG ordnete daraufhin die Durchsuchung u.a. der Person und der Wohnung des Beschwerdeführers an. Der Beschwerdeführer habe mit einer empfindlichen Geldstrafe zu rechnen. Die Durchsuchung sei zur Ermittlung der Tagessatzhöhe erforderlich, da der Beschwerdeführer keine Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemacht habe. Die Maßnahme stehe in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts.

Der Beschluss wurde am 14.01.2022 vollzogen. Nachdem dem Beschwerdeführer von dem den Einsatz leitenden Polizeibeamten „die weitere Vorgehensweise“ erklärt worden war, gewährte er den Beamten Eintritt in seine Wohnung. Unter deren Aufsicht suchte er seine drei jüngsten Bezügemitteilungen sowie eine Einkommensteuererklärung heraus und händigte diese den Beamten aus. Weitere Durchsuchungsmaßnahmen wurden daraufhin nicht mehr durchgeführt.

Rechtsmittel gegen den Durchsuchungsbeschluss und die – maßnahme blieben beim AG und LG erfolglos. Im Verfahren ist dann vom AG auf Antrag der StA ein Strafbefehl erlassen worden, gegen den Einspruch eingelegt wurde, In der Hauptverhandlung ist dann das Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt worden.

Der Beschwerdeführer hat sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss gewendet und eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 13, Art. 103 Abs. 1 und 2 GG. § 102 StPO gerügt. Er hat insbesondere geltend gemacht, dass die Durchsuchungsanordnung jedenfalls unverhältnismäßig gewesen sei. Als mildere Mittel gegenüber einer Durchsuchung wären Anfragen bei der Besoldungsstelle, beim Beschwerdeführer oder bei dessen Verteidiger in Betracht gekommen.

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg:

„2. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig erhoben ist, ist sie auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG.

a) Zwar war die Durchsuchung entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers nicht bereits deshalb unzulässig, weil lediglich seine Einkommensverhältnisse ermittelt werden sollten. Nach § 1603 Satz 1 StPO haben sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft – unabhängig davon, ob der Erlass eines Strafbefehls beantragt oder Anklage erhoben werden soll – auch auf Umstände zu erstrecken, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind; dazu zählen – worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hinweist – nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zwecks Bestimmung der Tagessatzhöhe. Durchsuchungen bei Beschuldigten nach § 102 StPO zur Ermittlung dieser Umstände sind verfassungsrechtlich daher nicht grundsätzlich unzulässig (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. August 1994 – 2 BvR 983/94 u.a. -, Rn. 12 f.).

b) Allerdings war die Anordnung der Durchsuchung hier unverhältnismäßig.

aa) Eine Durchsuchung greift in die durch Art. 131 GG grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 <219>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Dem erheblichen Eingriff entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 96, 44 <51>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Januar 2016 – 2 BvR 1361/13 -, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. April 2023 – 2 BvR 1844/21 -, Rn. 46). Dabei ist es grundsätzlich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zweckmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Ermittlungshandlungen zu befinden. Ein Grundrechtseingriff ist aber jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt vorliegenden Tatverdachts (vgl. BVerfGK 11, 88 <92>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2018 – 2 BvR 2993/14 -, Rn. 25) oder zur Schwere der Straftat steht.

bb) Die Anordnung der Durchsuchung war danach unangemessen. Den Ermittlungsbehörden standen naheliegende und grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung, die ohne greifbare Gründe unterblieben sind. Ob diese hier ebenso wirksam gewesen wären wie eine Wohnungsdurchsuchung, also mildere Mittel im technischen Sinne dargestellt hätten (vgl. dazu BVerfGE 126, 112 <144 f.>; 155, 238 <280 Rn. 105>; stRspr), kann im Streitfall dahinstehen. Denn angesichts grundrechtsschonender, alternativer Ermittlungshandlungen stand eine Durchsuchung beim Beschwerdeführer jedenfalls außer Verhältnis zur Schwere der hier verfolgten Straftat.

(1) Naheliegend und grundrechtsschonend wäre es gewesen, zunächst den Beschwerdeführer über seinen Verteidiger zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu befragen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer insoweit freiwillige Angaben verweigert hätte und seine Befragung daher aussichtslos gewesen wäre, lagen nicht vor. Zwar hatte sich der Beschwerdeführer im Rahmen der ihm von der Staatsanwaltschaft nach § 163a Abs. 1 Satz 2 StPO eingeräumten Möglichkeit, sich zu dem Tatvorwurf schriftlich zu äußern, darauf beschränkt, das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts zu bestreiten. Allein daraus konnte jedoch nicht geschlossen werden, dass er auf konkrete Nachfrage hin freiwillige Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen verweigert hätte, denn Angaben dazu waren zu diesem Zeitpunkt aus seiner Sicht nicht veranlasst gewesen und mussten dem Ziel seiner ersten Einlassung, eine Verfahrenseinstellung zu erreichen, widersprechen. Auch die Gefahr eines Beweismittelverlusts, die nur durch eine Wohnungsdurchsuchung hätte abgewendet werden können, bestand nicht.

Eine Nachfrage beim Beschwerdeführer hätte daher im Streitfall aus der ex ante-Perspektive mit einer realistischen Wahrscheinlichkeit zu den auch mittels einer Wohnungsdurchsuchung zu erlangenden Informationen zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen geführt. Im Hinblick auf diese insofern naheliegende und gegenüber einer Wohnungsdurchsuchung grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahme stellt sich die Durchsuchungsanordnung daher jedenfalls angesichts der geringen Schwere der vorgeworfenen Straftat als unangemessen dar.

(2) Als naheliegende und grundrechtsschonende Alternative zu einer Wohnungsdurchsuchung wäre aber auch eine Anfrage bei der Besoldungsstelle des Beschwerdeführers nach dem von dort bezogenen Einkommen in Betracht gekommen (vgl. dazu Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 160 Rn. 18; von Heintschel-Heinegg, in: BeckOK StGB, § 40 Rn. 16 <1. Mai 2023>). Nachdem der Wohnort des Beschwerdeführers bekannt war und dieser sich dahingehend eingelassen hatte, er sei „Beamter im aktiven Dienst“, wäre dessen Besoldungsstelle unschwer in Erfahrung zu bringen gewesen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Juni 2015 – 2 BvR 67/15 -, Rn. 23). Durch eine solche Anfrage sind zwar nicht zwingend Informationen zu allen Einkünften eines Beschuldigten zu erlangen. § 40 Abs. 3 StGB erfordert aber – zumal in Fällen der kleineren Kriminalität (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Juni 2015 – 2 BvR 67/15 -, Rn. 22) – auch nicht die Ausschöpfung aller Beweismittel (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. August 1994 – 2 BvR 983/94 u.a. -, Rn. 3 und 13), wenn ansonsten die fachrechtlichen Voraussetzungen für eine Schätzung vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2017 – 1 StR 147/17 -, Rn. 10 ff.). Hinzu kommt, dass es sich bei der Festlegung der Tagessatzhöhe um einen wertenden Akt richterlicher Strafzumessung handelt, der dem Tatrichter Ermessensspielräume hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Faktoren belässt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2017 – 1 StR 147/17 -, Rn. 7). Durchsuchungen zur Ermittlung der für die Bestimmung der Tagessatzhöhe entscheidenden persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Beschuldigten sind daher grundsätzlich nur dann verhältnismäßig, wenn anhand der übrigen zur Verfügung stehenden Beweismittel keine Schätzung möglich ist (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 30. Januar 2007 – 1 Ws 15/07 u.a. -, Rn. 8; Thüringer OLG, Beschluss vom 12. Februar 2009 – 1 Ss 160/08 -, Rn. 15; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 23. November 2009 – 1 Ss 104/09 -, Rn. 15).

Hätten sich Staatsanwaltschaft und Amtsgericht mit den durch die genannten Maßnahmen zu erlangenden Informationen zum Einkommen des Beschwerdeführers nicht begnügen wollen, hätten darüber hinaus durch eine Anfrage bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin-Abfrage) aber auch die Bankkonten und Bankdepots in Erfahrung gebracht werden können, bezüglich derer der Beschwerdeführer wirtschaftlich Berechtigter ist (vgl. § 24c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Kreditwesengesetz). Durch Anfragen bei den entsprechenden Banken und Instituten hätten Informationen zum Einkommen des Beschwerdeführers angefordert werden können. Auch insoweit hätte es sich im Vergleich zur angeordneten Durchsuchung im Grundsatz um eine grundrechtsschonende Maßnahme gehandelt. Zwar stellen eine BaFin-Abfrage und anschließende Bankanfragen angesichts des Umfangs der damit verbundenen Erhebung gegebenenfalls auch sensibler Daten einen erheblichen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar (vgl. BVerfGE 118, 168 <185 f.>). Bankanfragen werden dennoch meist weniger grundrechtsintensiv als die Anordnung einer einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellenden Wohnungsdurchsuchung sein (zur Verhältnismäßigkeit einer BaFin-Abfrage zur Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse auch beim Verdacht nur geringfügiger Straftaten vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 13. Februar 2015 – 4 Ws 19/15 -, Rn. 8 und 11; Sackreuther, in: BeckOK StPO, § 160 Rn. 20 <1. April 2023>).“

Wenn man es liest, mag man es nicht glauben. Bei einem Beamten wird zur Feststellung der wirtschaftlichen Verhältnisse die Durchsuchung angeordnet? Und das, obwohl man ja nun wohl gerade bei einem Beamten durch die einfache Einsicht in Besoldungstabellen, die frei zugänglich sind, das Monatseinkommen ohne weiteres ermitteln kann? Auf die Idee kommt die StA nicht, das AG auch nicht und das LG macht sich offenbar insoweit auch keine Gedanken. Selbst der GBA sieht bei einem verbeamteten Lehrer diese Möglichkeit nicht bzw. nur eingeschränkt. Daher muss es dann das BVerfG richten und den beteiligten Stellen erklären, wie man die wirtschaftlichen Verhältnisse aufklärt bzw. hätte aufklären können und müssen. Wie gesagt: Nur schwer verständlich.

Ich vermute einen ganz anderen Grund, nämlich die Durchsuchung als Retourkutsche für den offenbar der „Querdenker-Szene“ angehörenden oder mit ihr sympathisierenden Lehrer. Aber: So kann man doch nicht mit diesen Leuten umgehen. Das ist/war doch nur Wasser auf deren Mühlen. Unfassbar.

Verkehrsrecht II: Langer Zeitablauf nach Unfallflucht, oder: Vorläufige Entziehung ist keine Retourkutsche

entnommen openclipart.org

Als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Stuttgart, Beschl. v. 04.08.2023 – 9 Qs 39/23 – vor.

Das LG hat über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) entschieden. Zugrunde lag ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB). Insoweit ist offenbar, da das LG dazu nichts ausführt, nichts problematisch. Problematisch ist aber der Zeitablauf. Denn: Tatzeit war der 02.06.2022. Danach passiert im Hinblick auf die Fahrerlaubnis nichts. Am 20.06.2023 beantragt die Staatsanwaltschaft dann einen Strafbefehl und beantragt, der Angeklagten nach § 111a StPO vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das AG erlässt am 23.06.2023 den Strafbefehl, hinsichtlich der Fahrerlaubnis passiert nichts. Der Verteidiger äußert sich  am 10. Juli 2023 zur beantragten vorläufigen Entziehung und legt am 17.07.2023 zudem für die Angeklagte Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Strafbefehl ein.

Zwei Tage später, am 19.07.2023, beschließt das AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Zwar liege das verfahrensgegenständliche Unfallereignis bereits mehr als 13 Monate zurück, jedoch überwiege das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs die Interessen der Angeklagten als Fahrerlaubnisinhaberin.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hat:

„1. Zwar ist die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Dagegen erscheint auf der Rechtsfolgenseite insbesondere aufgrund der seither vergangenen Zeit fraglich, ob die von § 111a Abs. 1 StPO vorausgesetzten dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagten mit Abschluss des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, gegeben sind.

Das Amtsgericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss lediglich mit der seit dem verfahrensgegenständlichen Unfallereignis vergangenen Zeit knapp auseinandergesetzt, ansonsten aber ausschließlich belastende Umstände in den Blick genommen.

Unberücksichtigt geblieben ist hingegen der Umstand, dass sich die Angeklagte, soweit ersichtlich, seither im Straßenverkehr beanstandungsfrei verhalten hat. Darüber hinaus hat das Amtsgericht nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass die Angeklagte sich am 3. Juni 2022, mithin lediglich rund 14 Stunden nach dem Unfallereignis, auf das Polizeirevier Nagold begeben und dort ihre Unfallbeteiligung eingeräumt hat.

Angesichts dieses Ablaufs spricht einiges dafür, dass trotz des möglicherweise beträchtlichen Sachschadens ein die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB widerlegender Ausnahmefall gegeben ist. Denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass dies insbesondere in Betracht kommt, wenn im Hinblick auf einen die Feststellungen nachträglich ermöglichenden Täter die Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB daran scheitert, dass der Sachschaden nicht unerheblich war oder es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr gehandelt hat und tätige Reue deshalb ausscheidet (vgl. LG Aurich, NZV 2013, 53; LG Gera, StV 2001, 357; LG Zweibrücken, Beschl. v. 11.3.2003 -Qs 31/03; AG Bielefeld, NZV 2014, 378; s. auch Fischer, StGB, 70. Aufl., § 142, Rn. 30).

2. Jedenfalls unterliegt der Beschluss aber deshalb der Aufhebung, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgte, aufgrund dieser Zeitspanne nicht verhältnismäßig ist und die bisherige Sachbehandlung zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstößt.

a) Zwar kann die Fahrerlaubnis grundsätzlich auch noch in einem späteren Verfahrensabschnitt vorläufig nach § 111a StPO entzogen werden. Eine feste Grenze, ab deren Erreichen oder Überschreiten die Anordnung der Maßnahme ausscheidet, existiert nicht. Erfolgt die vorläufige Entziehung erst längere Zeit nach der Tatbegehung ist jedoch, da es sich bei § 111a StPO um eine Eilentscheidung handelt, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig zu prüfen.

b) Von diesen Maßstäben ausgehend ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Denn obwohl die Fahrereigenschaft der Angeklagten bereits einen Tag nach dem Unfallereignis feststand und sich der Verdacht eines erheblichen Sachschadens schon aufgrund des Schadensbildes vor Ort geradezu aufdrängte, wurde das Verfahren insbesondere nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen aus allein von der Justiz zu verantwortenden Gründen über Monate hinweg nicht betrieben.

Das Polizeipräsidium – Verkehrspolizeiinspektion – Ludwigsburg legte der Staatsanwaltschaft Stuttgart die Verkehrsunfallanzeige am 18. August 2022 vor. In der Folge wurde der Verteidigung Akteneinsicht gewährt, woraufhin mit Schriftsatz vom 23. September 2022 eine Stellungnahme erfolgte. Anschließend wurde auch einem für eine Versicherungsgesellschaft tätigen Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt. Dieser reichte die Akten am 13. Oktober 2022 zurück.

In den folgenden acht Monaten geschah nichts. Nachvollziehbare oder gar in der Sphäre der An-geklagten oder der Verteidigung liegende Gründe hierfür sind nicht ersichtlich. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt grundlegend von jenem, der der vom Amtsgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschluss vorn 22. Oktober 2021 – 1 Ws 153/21) zugrunde lag. Denn dort hatten sowohl der Angeklagte als auch dessen Verteidiger durch eine Vielzahl von Verschleppungshandlungen (Erschwerung von Zustellungen durch Geltendmachung verschiedener Meldeadressen, unterlassene Rücksendung von Empfangsbekenntnissen und dadurch erzwungene Terminsaufhebung, offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche usw.) einen Abschluss des Verfahrens in missbräuchlicher Weise zu verhindern versucht.

Vorliegend hingegen haben die Angeklagte und ihre Verteidiger nichts dergleichen getan, sondern im Gegenteil bereits einen Tag nach dem verfahrensgegenständlichen Ereignis die Fahrereigenschaft offenbart und überdies auch eingeräumt, dass die Angeklagte den Unfall verursacht hat. In der Folge erfolgte eine weitere Sacheinlassung. Verzögerungshandlungen sind demgegenüber nicht ansatzweise erkennbar.

Dies gebietet die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zumal hinzukommt, dass die Angeklagte nicht vorbestraft ist, seit dem verfahrensgegenständlichen Ereignis keine neuen Verkehrsübertretungen bekannt geworden sind und sich der Tatvorwurf im Laufe des Verfahrens abgeschwächt hat, nachdem die Staatsanwaltschaft den ursprünglich ebenfalls im Raum stehenden Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung fallen gelassen hat und insoweit nach § 170 Abs. 2 StPO verfuhr.“

Soweit, schon mal gut. Das LG „setzt aber noch einen drauf“ und gibt dem AG mit auf den Weg:

„c) Die Strafkammer weist überdies darauf hin, dass es grundsätzlich bedenklich erscheint, wenn eine Maßnahme nach § 111a StPO nicht bereits dann ergriffen wird, sobald der dringende Verdacht insbesondere einer Katalogtat nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, sondern – bei unveränderter Sachlage – viele Monate später in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen zwischenzeitlich erlassenen Strafbefehl. Denn durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis soll die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer schon vor dem Urteil geschützt werden (statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl, 2023, § 111a, Rn. 1). Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit hängt indes nicht davon ab, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wird oder nicht.“

Das Letzte ist sehr vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders schreiben können. Nämlich. „Retourkutschen“ halten wir nicht. Und dass die vorläufige Entziehung eine „Retourkutsche“ war, liegt m.E. auf der Hand. Dafür spricht der Ablauf. Monatelang passiert nichts. Aber dann wird – zwei Tage nach Einspruchslegung – die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Fahrtenbuch II: Fahrtenbuchauflage versus DSGVO, oder: Sind 36 Monate verhältnismäßig?

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Und als zweite Fahrtenbuchentscheidung dann der OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 20.06.2023 – 7 B 10360/23. Die Beschwerde gegen die Anordnung des Fahrtenbuchs hatte auch hier keinen Erfolg.

Aus den Gründen schenke ich mir die Ausführungen der Beschwerde zur Frage der rechtmäßigen Feststellung der Geschwindigkeitsüberschreitung und zur Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessun. Das ist alles bekannt.

Im Übrigen führt das OVG aus:

„c) Entgegen der Annahme der Beschwerde war die Ermittlung des oder der Fahrzeugführer der auf die Antragstellerin zugelassenen PKW, mit denen am 11. Juni 2022 und 6. September 2022 Verkehrsverstöße begangen worden sind, nicht möglich, obwohl die Ermittlungsbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen ausreichende Maßnahmen getroffen haben, um den Verkehrsverstoß aufzuklären. Soweit mit der Beschwerde in diesem Zusammenhang gerügt wird, es sei der Bußgeldbehörde zumutbar gewesen, selbst Ausschau nach den Mitarbeitern zu halten und den tatsächlichen Fahrzeugführer ausfindig zu machen, vermag der Senat dieser Argumentation nicht zu folgen. Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Beschluss bereits zu Recht darauf hingewiesen, dass die Befragung von Mitarbeitern in einer Firma zu dem in Rede stehenden Verkehrsverstoß regelmäßig eine ausreichende Ermittlungsmaßnahme darstellt. Es fällt in den Verantwortungsbereich der Gesellschaft, innerbetrieblich dafür Sorge zu tragen, dass die Geschäftsführung bzw. die Mitarbeiter, die zuverlässig Auskunft über den Einsatz der Firmenwagen geben können, informiert werden. Erfolgen daraufhin keine weiteren Angaben zu der Person, die im fraglichen Zeitpunkt das Firmenfahrzeug geführt hat, ist es der Behörde regelmäßig nicht mehr zuzumuten, noch weitere zeitraubende Ermittlungen zu betreiben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. November 2013 – 8 A 632/13 –, juris Rn. 13 ff., m.w.N.). So liegt der Fall hier. Bei den insgesamt vier Vorortkontrollen wurde jeweils Herr A., der sich in Abwesenheit des Geschäftsführers als verantwortlicher Mitarbeiter der Firma zu erkennen gab, von den Beamten des Polizeipräsidiums Mainz ergebnislos zu den Fahrern der Fahrzeuge und zur Identifizierung der Personen auf den vorgezeigten Lichtbildern befragt. Darüber hinaus war eine Rückmeldung des sich bei den Befragungen stets im Ausland verweilenden und für die Beamten telefonisch nicht erreichbaren Geschäftsführer der Antragstellerin bis zuletzt nicht erfolgt. Weitere Ermittlungsmaßnahmen waren vor diesem Hintergrund nach den dargelegten Maßstäben nicht geboten, zumal mit der Beschwerde auch nicht geltend gemacht worden ist, dass den ermittelnden Beamten weiterer Zutritt zum Gelände und zu den Räumlichkeiten der Firma angeboten worden sei oder bei Bedarf gestattet worden wäre.d) Entgegen der Annahme der Antragstellerin war sie an der Preisgabe des verantwortlichen Fahrzeugführers oder der verantwortlichen Fahrzeugführerin nicht gehindert durch die Bestimmungen der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung – DSGVO –). Dabei bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, ob die Verarbeitung personenbezogener Daten im Ordnungswidrigkeitenverfahren – in dessen Rahmen die vorliegenden Ermittlungen vorgenommen wurden – in den sachlichen Anwendungsbereich der DSGVO fällt (zweifelnd: VG Regensburg, Urteil vom 17. April 2019 – RN 3 K 19.267 –, juris Rn. 25 ff.) oder sie hiervon gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. b) DSGVO ausgenommen ist (ebenfalls offenlassend: BayVGH, Beschlüsse vom 22. Juli 2022 – 11 ZB 22.895 –, juris Rn. 18 und vom 30. November 2022 – 11 CS 22.1813 –, juris Rn. 34). Selbst wenn der Anwendungsbereich der DSGVO eröffnet sein sollte, wäre die Preisgabe der persönlichen Daten der Fahrzeugführer durch die Antragstellerin an die Polizei- oder Bußgeldbehörden gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. f) DSGVO zur Wahrung der berechtigten Interessen der Behörden, eines Dritten im Sinne von Art. 4 Nr. 10 DSGVO, zulässig. Behörden haben ein berechtigtes Interesse daran, die ihnen im öffentlichen Interesse obliegenden Aufgaben zu erfüllen, zu denen die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten gehört (vgl. BayVGH, Beschluss vom 22. Juli 2022 – 11 ZB 22.895 –, juris Rn. 18). Gleiches gilt für das Führen eines Fahrzeugbuchs durch und die damit verbundene Datenerhebung durch den Fahrzeughalter (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30. November 2022 – 11 CS 22.1813 –, juris Rn. 34; ferner HambOVG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 – 4 Bs 84/20 –, juris Rn. 19: Zulässigkeit nach Art. 6 Abs. 1 lit. e) DSGVO). Ferner ist auch die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden – die Eröffnung des Anwendungsbereichs der DSGVO vorausgesetzt – gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. e) DSGVO gerechtfertigt (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 17. April 2019 – RN 3 K 19.267 –, juris Rn. 30).

2. Ob der Antragsgegner das ihm nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, kann allerdings zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend beurteilt werden.

……

b) Allerdings vermag der Senat zum jetzigen Zeitpunkt auf der Grundlage der vorgelegten Verwaltungsakten nicht abschließend zu beurteilen, ob die Dauer des hier angeordneten Fahrtenbuchs von 36 Monaten verhältnismäßig ist. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, ist die Verhältnismäßigkeit der Zeitspanne, für die ein Fahrtenbuch zu führen ist, mit Blick auf den Anlass der Anordnung und den mit ihr verfolgten Zweck unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Bei der Bemessung der Dauer der Fahrtenbuchanordnung ist insbesondere das Gewicht des nicht aufgeklärten Verkehrsverstoßes zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2015 – 3 C 13/14 –, juris Rn. 20). Daneben kann in die Ermessensentscheidung einfließen, ob das erste Mal mit dem Kraftfahrzeug des Halters ein Verkehrsverstoß ohne Fahrerfeststellung begangen wurde oder ob ein Wiederholungsfall vorliegt. Auch das Verhalten des Halters bei der Aufklärung des Verkehrsverstoßes kann gewürdigt werden (vgl. VGH BW, Beschluss vom 21. Juli 2014 – 10 S 1256/13 –, juris Rn. 10; SächsOVG, Beschluss vom 22. März 2017 – 3 B 42/17 –, juris Rn. 10). Sofern sich der Antragsgegner zur Begründung der Dauer der Fahrtenbuchanordnung neben der Schwere der Verkehrsverstöße offenbar darauf stützt, dass es neben den hier vorgeworfenen Zuwiderhandlungen bereits in der Vergangenheit zu Verkehrsverstößen mit den Fahrzeugen der Antragstellerin gekommen sei, bei denen aufgrund der fehlenden Bereitschaft der Antragstellerin zur Mitwirkung der Fahrzeugführer nicht habe ermittelt werden können, kann vorliegend nicht geklärt werden, ob diese Argumentation in tatsächlicher Hinsicht trägt. Ob und inwiefern der Antragstellerin hinsichtlich der auf sie zugelassenen Fahrzeuge bereits mehrfach Verkehrsverstöße zur Last gelegt worden sind und inwieweit sie sich diesbezüglich bei der Ermittlung des Fahrzeugführers unkooperativ gezeigt hat, ist den vorgelegten Akten nämlich nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu entnehmen. Die vom Antragsgegner in Bezug genommenen Vermerke vom 14. Juli 2022 (Bl. 31 der Verwaltungsakte) und 20. November 2022 (Bl. 53 Rs. der Verwaltungsakte) enthalten insoweit lediglich vage, in tatsächlicher Hinsicht nicht näher erläuterte Ausführungen, auf die allein sich die erhebliche Dauer der Fahrtenbuchanordnung von 36 Monaten nicht stützen lässt. Diesbezüglich bedarf es – auch vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin nun im Beschwerdeverfahren weitere Verkehrsverstöße in der Vergangenheit ausdrücklich bestritten hat – weiterer Sachverhaltsaufklärung im Widerspruchsverfahren. Insofern erweisen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache derzeit als offen.

Die hiernach vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der angegriffenen Verfügung und dem Interesse der Antragstellerin, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache vom Vollzug der Verfügung verschont zu bleiben, fällt dennoch zu Lasten der Antragstellerin aus. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass es sich bei der Fahrtenbuchanordnung um eine Maßnahme zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs handelt (vgl. hierzu auch BayVGH, Beschluss vom 18. Mai 1999 – 11 CS 99.730 –, juris Rn. 18). Demgegenüber belastet die Erfüllung der Fahrtenbuchanordnung die Antragstellerin – wie bereits dargelegt – nicht in nennenswertem Umfang. Hinzu kommt, dass die Anordnung eines Fahrtenbuchs dem Grunde nach – wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt – gerechtfertigt ist. Die Konstellation, dass sich die Anordnung aller Voraussicht nach vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens erledigen könnte und der Halter aufgrund des Sofortvollzugs ein Fahrtenbuch geführt hat, ohne hierzu verpflichtet gewesen zu sein (zu diesem Aspekt vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. April 2013 – 8 B 173/13 –, juris Rn. 16; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20. Februar 2020 – 3 M 15/20 –, juris Rn. 12), besteht vorliegend nicht. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass die Auferlegung eines Fahrtenbuchs für 24 Monate auf der Grundlage des bereits feststehenden Sachverhaltes – wiederholter mit einem Punkt bewerteter unaufgeklärter Verkehrsverstoß (vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 2016 – 8 A 1217/15 –, juris Rn. 16, m.w.N.) – rechtlich nicht zu beanstanden sein dürfte. Da zu erwarten ist, dass vor Ablauf dieses Zeitraums das Widerspruchsverfahren unter Nachholung der genannten Sachverhaltsermittlungen beendet sein wird, besteht auch mit Blick auf das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes kein Anlass, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Fahrtenbuchanordnung wiederherzustellen.“

StPO I: Die Unzulässigkeit einer Durchsuchung, oder: Keine Frage nach der Funktion des Nachtbriefkastens?

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Heute stelle ich drei Entscheidungen in Zusammenhang mit (Zwangs)Maßnahmen im Strafverfahren vor, also StPO.

Ich beginne mit „ganz oben“, also mit dem BVerfG. Das hat sich im BVerfG, Beschl. v. 19.04.2023 – 2 BvR 1844/21 – mal wieder zur Zulässigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme geäußert bzw. äußern müssen.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Beschuldigten angestrengten Ermittlungsverfahrens war der Vorwurf der falschen Versicherung an Eides statt. Der Beschuldigte hatte vor dem AG Passau – Familiengericht – eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erwirkt, deren Wirksamkeit bis zum 06.01.2021 befristet war. In der Nacht vom 06. auf den 07.01.2021 warf der Beschuldigte seinen schriftlichen Antrag auf Verlängerung der Gewaltschutzanordnung in den Nachtbriefkasten des AG. Dieser wurde am folgenden Tag geleert. Da die Antragsschrift in das Fach gefallen war, in das alle nach 24:00 Uhr eingeworfenen Schreiben gelangten, erhielt der Schriftsatz den Eingangsstempel des 07.01.2021. Das AG wies den Beschuldigten in der Folge darauf hin, dass sein Antrag verspätet, da nach Ablauf der Gewaltschutzanordnung, bei Gericht eingegangen sei.

Der Beschuldigte legte daraufhin eine Videodatei vor, von der er erklärte, sie zeige ihn beim Einwurf des Schreibens in den Nachtbriefkasten. Im Hintergrund sei das Radio seines Wagens zu hören. Ein Abgleich mit dem Programm des Senders ergebe, ebenso wie der Zeitstempel des Videos, dass er sein Schreiben am 06.01.2021, um 21:21 Uhr, in den Briefkasten eingeworfen habe.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Familiengericht gab der Beschuldigte eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er erklärte, er habe die Antragsschrift am 06.01.2021, vor 24:00 Uhr, in den Nachtbriefkasten des AG eingeworfen.

Das AG wies den Antrag mit Beschluss vom 11.03.2021 ab. Er sei verspätet eingegangen. Dies zeige der Eingangsstempel der Poststelle. Die eidesstattliche Versicherung und das von dem Beschuldigten vorgelegte Video könnten diesen nicht widerlegen. Der Beschuldigte habe offenbar versucht, Beweise zur Verschleierung des Eingangszeitpunktes herzustellen.

Der Antragsgegner in dem Verfahren vor dem Familiengericht erhob Strafanzeige gegen den Beschuldigten wegen falscher Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB). Die Staatsanwaltschaft Passau kontaktierte am 15.03.2021 die Wachtmeisterei des AG. Telefonisch teilte diese mit, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Nachtbriefkasten nicht einwandfrei gearbeitet haben könnte. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das AG Passau am 16.04.2021 zwei Durchsuchungsbeschlüsse. Angeordnet wurde zum einen die Durchsuchung des Elternhauses und – nach dessen Angaben – der Hauptwohnung des Beschuldigten, zum anderen der von ihm in jedem Fall tatsächlich bewohnten Nebenwohnung in Passau. Nur der letztgenannte Beschluss ist Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Das LG hat die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss als unbegründet verworfen.

Die Verfassungsbeschwerde hatte (teilweise) Erfolg:

„3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Die im Tenor genannten fachgerichtlichen Entscheidungen verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG).

a) Art. 13 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Der Schutzbereich, auch in persönlicher Hinsicht, ist vorliegend eröffnet.

Der hier angegriffene Beschluss des Amtsgerichts (Gs 909/21) bezieht sich nicht auf das Elternhaus des Beschwerdeführers, hinsichtlich dessen zweifelhaft ist, ob es sich tatsächlich um die Wohnung des Beschwerdeführers handelt, sondern auf die Wohnung des Beschwerdeführers in Passau, die dieser ohne Zweifel bewohnte. Ein weiterer Durchsuchungsbeschluss (Gs 910/21), der sich auf das Elternhaus des Beschwerdeführers bezieht, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

b) In die durch Art. 13 1 GG grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 <219>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG wird nicht schrankenlos gewährleistet. Art. 13 Abs. 2 GG ermöglicht Durchsuchungen der Wohnung, wenn dies gesetzlich zugelassen ist und von dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch im Gesetz bestimmte andere Organe angeordnet wurde. Im Strafprozess gestattet § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnung bei dem Beschuldigten. Die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Rechtsgrundlage liegen aber in einer Verfassungsrecht verletzenden Weise nicht vor.

(1) Ein Ermittlungsmaßnahmen rechtfertigender Anfangsverdacht lag dabei noch vor. Es bestanden auf konkreten Tatsachen beruhende Anhaltspunkte (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>; BVerfGK 2, 290 <295>; 5, 84 <88>) für die Begehung einer Straftat. Es sind diesbezüglich keine Fehler erkennbar, die auf objektive Willkür oder auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung des Grundrechts des Beschwerdeführers schließen lassen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>; 95, 96 <128>; 115, 166 <199>; BVerfGK 5, 25 <30 f.>). Der Beschwerdeführer gab eine eidesstattliche Versicherung ab, die dem Eingangsstempel des Familiengerichts inhaltlich widersprach und das Familiengericht sah diese als unglaubhaft an. Diese Umstände tragen den weitere Ermittlungen rechtfertigenden Anfangsverdacht, es sei eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben worden.

(2) Auch ist anzunehmen, dass eine Durchsuchung grundsätzlich geeignet war, Beweismittel zu finden. Die nach der Lebenserfahrung begründete Vermutung, bei dem Beschuldigten könnten die gesuchten Beweisgegenstände grundsätzlich aufzufinden sein (vgl. BVerfGK 1, 126 <132>; 15, 225 <241>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Januar 2016 – 2 BvR 1361/13 -, Rn. 13), wurde vorliegend nicht entkräftet. Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer ab einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnis von den Ermittlungen und angedeutet hatte, er werde sich eventueller Beweismittel entledigen, erschüttert diese Vermutung nicht. Es handelte sich vorliegend erkennbar um eine Schutzbehauptung, die der Beschwerdeführer in den Raum stellte, um sich weiteren Ermittlungsmaßnahmen zu entziehen.

(3) Die Anordnung der Durchsuchung war aber unverhältnismäßig, denn sie war nicht erforderlich. Mildere Ermittlungsmaßnahmen, die den Verdacht wohl auch zerstreut hätten, drängten sich geradezu auf und wurden unterlassen.

(a) Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <198>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 – 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 -, Rn. 25). Dabei ist es grundsätzlich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zweckmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Ermittlungshandlungen zu befinden. Ein Grundrechtseingriff ist aber jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende, grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt vorliegenden Tatverdachts steht (BVerfGK 11, 88 <92>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2018 – 2 BvR 2993/14 -, juris, Rn. 25).

(b) Aufgrund der Besonderheiten des hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalts standen den Ermittlungsbehörden zwei sehr naheliegende, grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung, die sich vor einer Durchsuchung durchzuführen aufgedrängt hätten.

(aa) Naheliegend und jedenfalls grundrechtsschonender wäre es vorliegend gewesen, zunächst nicht nur das störungsfreie Funktionieren, sondern auch die exakte Handhabung des Nachtbriefkastens und die Besetzung der Wachtmeisterei durch Befragung der Leitung und des diensthabenden Personals der Wachtmeisterei zu erhellen. Diese Befragung hätte ergeben, dass die Wachtmeisterei am 6. Januar 2021 nicht besetzt gewesen war und dass – im Ergebnis – der Nachtbriefkasten keinen Aufschluss darüber geben konnte, ob ein Schreiben am 6. Januar 2021 oder am 7. Januar 2021 einging. Dies ist in der Regel wegen § 193 BGB beziehungsweise § 222 Abs. 2 ZPO unerheblich, da Fristen üblicherweise nicht an Feiertagen enden. Der vorliegende Fall weist aber die Besonderheit auf, dass das Familiengericht der Auffassung war, dass die einzuhaltende Frist ausnahmsweise an einem Feiertag, 24:00 Uhr, endete. Diese Besonderheit drängt sich vorliegend auf und hätte die Ermittlungsbehörden dazu auffordern müssen, die Besetzung der Wachtmeisterei und die Handhabung des Nachtbriefkastens genau nachzuvollziehen.

(bb) Daneben hätte es sich aufgedrängt, zunächst einmal die von dem Beschwerdeführer dem Familiengericht vorgelegte Videodatei darauf zu überprüfen, ob Hinweise für eine Manipulation vorlagen. Die Datei war bereits aktenkundig. Eine Analyse wäre ohne großen Zeitverlust möglich gewesen. Die Auswertung hätte die Ermittlungen nicht in den Ermittlungszweck gefährdender Weise verzögert. Hätte sich bei der Analyse ergeben, dass, um eine sichere Aussage zu treffen, auch die Aufnahmegeräte hätten ausgelesen werden müssen, so wäre eine Durchsuchung immer noch möglich gewesen.“

BVerfG II: Zulässigkeit der einstweiligen Unterbringung, oder: Keine Unterbringung zur Explorationserzwingung

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Und dann der BVerfG, Beschl. v. 19.05.2023 – 2 BvR 637/23. Entschieden hat das BVerfG in einem Eilverfahren betreffend einen Unterbringungsbeschluss nach § 81 Abs 1 StPO.

Zugrunde liegt ein Verfahren wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Diebstahl. Das AG hatte Bedenkene wegen der Schuldfähigkeit der Angeklagten. Zudem stand ggf. auch die Frage einer Unterbringung nach § 63 StGB an. Es hat daher einen Sachverständigem bestellt.  Die Angeklagte sagte vereinbarte Termine zur Exploration durch den bestellten Sachverständigen zunächst ab bzw. erschien so verspätet, dass der Termin scheiterte. Der Sachverständige legte sodann ein Gutachten nach Aktenlage vor, das er später ergänzte. Im Rahmen eines Hauptverhandlungstermins vereinbarten die Angeklagte und der Sachverständige einen Termin für ein Explorationsgespräch. Zu diesem erschien die Angeklagte, verweigerte jedoch nach Belehrung ihre Mitwirkung. Der Sachverständige regte daraufhin eine Unterbringung zur Begutachtung nach § 81 StPO an. Da die Angeklagte nicht kooperiere, sei die Unterbringung zur Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus sinnvoll. Aufgrund des sich abzeichnenden Fehlens der Kooperationsbereitschaft solle diese sechs Wochen dauern. Dieses Vorgehen sei aus forensisch-psychiatrischer Perspektive notwendig.

Das AG ist dem gefolgt und hat die Unterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand der Angeklagten für die Dauer von höchstens sechs Wochen angeordnet. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg. Die Angeklagte hat Verfassungsbeschwerde erhoben und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Der hatte Erfolg:

„2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

a) Die Verfassungsbeschwerde genügt den Zulässigkeitsanforderungen. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin den Rechtsweg erschöpft und ihre Verfassungsbeschwerde substantiiert begründet.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin erscheint nicht ausgeschlossen. Dies abschließend zu klären, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

aa) Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Recht schützt grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter eines Menschen (vgl. BVerfGE 32, 373 <378 ff.>; 44, 353 <372 f.>; 65, 1 <41 f.>; 78, 77 <84>; 84, 192 <194 f.>).

bb) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht absolut geschützt. Vielmehr muss jeder Bürger staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 32, 373 <379>; 65, 1 <44>). Die Auslegung und Anwendung des einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gestattenden Gesetzes ist dabei grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Verfassungsgerichtliches Einschreiten ist nur geboten, wenn sich diese als objektiv willkürlich erweisen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>).

(1) Nach § 81 Abs. 1 StPO kann das zuständige Gericht zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten beziehungsweise Angeklagten nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers die Unterbringung und Beobachtung in einem öffentlichen psychiatrischen Krankenhaus anordnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Unterbringung jedoch nicht verhältnismäßig, wenn sich der Betroffene weigert, die erforderlichen Untersuchungen zuzulassen beziehungsweise an ihnen mitzuwirken. Insbesondere dann, wenn eine Exploration erforderlich wäre, die Mitwirkung hieran aber verweigert wird und ein Erkenntnisgewinn daher nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden oder einer anderen Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist, ist die Anordnung der Unterbringung nicht verhältnismäßig (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2001 – 2 BvR 1523/01 -, Rn. 20). Zielt das Untersuchungskonzept darauf ab, den Betroffenen in seinem Alltagsverhalten und seiner Interaktion mit anderen Personen zu beobachten, so steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer derartigen „Totalbeobachtung“ unüberwindbar entgegen. In einem solchen Fall wäre der Betroffene nur noch Objekt staatlicher Erkenntnisgewinnung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2001 – 2 BvR 1523/01 -, Rn. 22).

(2) Aufgrund des Vortrags der Beschwerdeführerin und den von ihr vorgelegten Unterlagen steht ernsthaft im Raum, dass die Anordnung der Unterbringung im vorliegenden Fall darauf abzielte, die Beschwerdeführerin in unzulässiger Weise zu veranlassen, einer Exploration und weiteren Untersuchungen entgegen ihrer eindeutigen Weigerung zuzustimmen. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterbringung auf eine unzulässige „Totalbeobachtung“ abzielt. Dies abschließend zu klären, ist dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

3. Die damit eröffnete Folgenabwägung spricht für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als zulässig und begründet, so wäre mit der Unterbringung ein nicht mehr revidierbarer Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin geschehen. Etwaige Erkenntnisse unterlägen dann zwar eventuell einem Verwertungsverbot. Die Einwirkung auf den Willensentschluss der Beschwerdeführerin und die vollständige Beobachtung ihres Verhaltens könnten jedoch nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Erginge hingegen die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als erfolglos, so könnte der Beschluss des Amtsgerichts vollzogen werden. Die Aufklärung der offenen Fragen wäre nach wie vor möglich. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Unterbringung erst so spät erfolgen könnte, dass Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin zu den Tatzeitpunkten unmöglich wären.

Die negativen Folgen in erstgenanntem Fall überwiegen insgesamt.“