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Verkehrsrecht II: Vorläufige Entziehung nach Berufung, oder: Die Annahme einer „Retourkutsche“ liegt nahe

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Und als zweite verkehrsstrafrechtliche Entscheidung dann etwas zur (vorläufigen) Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB i.V.m. § 111a StPO).

Folgender Sachverhalt: Das AG hat den Angeklagten durch Urteil vom 17.01.2023 des unerlaubten Entfernens vom Unfallort für schuldig gesprochen. Es hat ihn verwarnt und ihn angewiesen, am nächsten Fahrsicherheitstraining teilzunehmen. Es hat ihm außerdem aufgegeben, einen Geldbuße in Höhe von 300,-EUR zu zahlen. Zudem entzog es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis und zog dessen Führerschein ein.

Das AG-Urteil hat festgestellt, dass der Angeklagten am Abend des 11.06.2022 auf einem Fest Alkohol in nicht mehr bestimmbarer Menge konsumiert hatte. Am 12.06.2022 trat er vor 01:00 Uhr zusammen mit einem Freund und einer Freundin den Heimweg an. Auf dem Heimweg steuerte zunächst der Freund den Pkw des Angeklagten, nach einem Fahrerwechsel steurte der Angeklagte selbst. Dabei verlor er wegen überhöhter Geschwindigkeit die Kontrolle über das Fahrzeug und stieß gegen drei am Fahrbahnrand geparkte Fahrzeuge. Durch die jeweiligen Kollisionen entstand an den drei Fahrzeugen Schäden. Das AG hat den insgesamt entstandenen Schaden an den drei Fahrzeugen auf mindestens 7.000,- EUR geschätzt.

Obwohl der Angeklagte den Unfall bemerkte, verließ er mit seinemFahrzeug die Unfallstelle. Er stellte das Fahrzeug etwa 500 Meter entfernt von der Unfallstelle an einem Feldwegrand ab, entfernte die Kennzeichen, verschloss den Wagen und begab sich mit der Bahn nach Hause. Eine am 12.06.2022 um 04:20 Uhr durchgeführte Atemalkoholprüfung ergab einen Wert von 0,70 Promille beim Angeklagten.

Der Angeklagte hat gegen seine Verurteilung Rechtsmittel eingelegt. Daraufhin hörte das AG ihn mit Schreiben vom 24.01.2023 zur beabsichtigen vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis an. Die Staatsanwaltschaft hat die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das AG hat dann dem Angeklagten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass die Anordnung nach § 111a StPO bis zur Rechtskraft des Urteils zulässig sei. Es handle sich um eine Ermessensentscheidung. Im Vorfeld der Hauptverhandlung habe das Gericht hiervon keinen Gebrauch gemacht, da absehbar gewesen sei, dass zeitnah verhandelt werden würde und einer Entscheidung im Hauptverfahren Vorrang eingeräumt worden sei. Nachdem nunmehr für das Gericht die Verwirklichung des Tatbestandes, der die Annahme einer Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen indiziere, zweifelsfrei feststehe, sei nach Eingang des Rechtsmittels eine Anordnung nach § 111a StPO unerlässlich.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG mit dem LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 13.03.2023 – 5/3 Qs 8/23 – Erfolg hatte:

„Die Beschwerde ist nach §§ 304, 305 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Mangels Vorlage der Akten an das Berufungsgericht nach § 321 StPO ist die Kammer auch als Beschwerdekammer für die unerledigte Beschwerde zuständig.

Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Nach § 111a StPO kann die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die Fahrerlaubnis im Urteil entzogen werden wird (§ 69 StGB). Die Fahrerlaubnis wird nach § 69 Abs. 1 StGB entzogen, wenn jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt wird, wenn sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist.

Die Prüfungskompetenz der Beschwerdekammer ist in Fällen, in denen die Beschwerde eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis betrifft, die mit einem erstinstanzlichen Urteil erfolgt ist, eingeschränkt. Das Beschwerdegericht darf den erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt bei der Frage der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nicht anders würdigen als der frühere Richter im Urteil. Denn das Tatgericht verfügt aufgrund der durchgeführten Hauptverhandlung über eine größere Sachkenntnis und bessere Erkenntnismöglichkeiten als das Beschwerdegericht, das sich nur auf den Akteninhalt stützen kann. Dies bedeutet aber nicht, dass das gesetzlich vorgesehene Rechtsmittel in einem solchen Fall leer läuft. So ist eine Abweichung von der erstinstanzlichen Beurteilung insbesondere dann veranlasst, wenn nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung neue Umstände entstanden sind, wenn die erstinstanzlichen Feststellungen offensichtlich fehlerhaft sind, oder wenn die erstinstanzliche Bewertung der Eignungsfrage rechtsfehlerhaft ist (LG Berlin Beschl. v. 16.12.2011 — 517 Qs 142/11, BeckRS 2012, 1174 m.w.N.). Hierzu ist ferner auch die Frage zu zählen, ob die vorläufige Entziehung wegen Zeitablaufes unverhältnismäßig ist und das Tatgericht daher an einer vorläufigen Entziehung gehindert war.

Bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis handelt es sich um eine eilige vorbeugende Maßnahme, die die Allgemeinheit bereits vor Urteilserlass vor den Gefahren schützen sollen, die von einem ungeeigneten Kraftfahrer ausgehen (Huber, in: BeckOK StPO, 46. Ed. 1.1.2023, StPO § 111a Rn. 1). Mit zunehmender zeitlicher Distanz zwischen Tatgeschehen und dem Zeitpunkt des vorläufigen Entzuges der Fahrerlaubnis gehen daher erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz der Allgemeinheit einerseits sowie dem Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis andererseits einher (vgl. Henrichs/Weingast, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, StPO § 111a Rn. 3).

Nach ständiger, gerichtsbekannter Rechtsprechung der 9. Strafkammer des Landgerichts Frankfurts, die für Beschwerden gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erwachsenen im Landgerichtsbezirk ausschließlich zuständig ist, ist eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis dabei nach Ablauf von 6 Monaten im Regelfall unverhältnismäßig. Die Kammer tritt dieser Auffassung bei, da sie nicht nur klare und seit Jahren im hiesigen Bezirk etablierte Orientierung, sondern auch noch hinreichend Raum dafür lässt, die Sicherheitsbelange der Allgemeinheit und die weiteren Umstände des Einzelfalls, namentlich die Gründe des eingetretenen Zeitablaufs, in den Blick zu nehmen (hierzu: Hauschild, in MüKoStPO, 2. Aufl. 2023, StPO § 111a Rn. 17).

Die vom Amtsgericht durch das erstinstanzliche Urteil festgestellte Anlasstat erfolgte bereits am 12.06.2022, so dass bis zur vorläufigen Entziehung durch Beschluss vom 31.01.2023 über 7 Monate verstrichen sind. Es liegen keinerlei Erkenntnisse dafür vor, dass der Beschwerdeführer seither nochmals im Straßenverkehr aufgefallen ist. Vielmehr wurde sein zeitweise sichergestelltes Fahrzeug am 05.07.2022 durch die Staatsanwaltschaft freigegeben, die auch hiernach über Monate keinen Antrag nach § 111a StPO stellte. Der Beschwerdeführer hatte seither und bis zur Zustellung des angefochtenen Beschlusses die Möglichkeit der Teilnahme am Straßenverkehr, ohne dass zwischenzeitlich erneute verkehrsrechtliche Verstöße bekannt wurden. Wenn ein Beschuldigter indes nicht zeitnah nach Bekanntwerden der Tat daran gehindert wird, mit einem von ihm geführten Kraftfahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr teilzunehmen, so ist eine Entscheidung über die endgültige Entziehung der Fahrerlaubnis abzuwarten, zumal diese vorliegend auch in Gestalt des erstinstanzlichen – wenn auch nicht rechtskräftigen – Urteils erging, ohne dass zugleich mit dem Urteil die vorläufige Entziehung angeordnet wurde. Es ist ohne neuerliche Verkehrsauffälligkeiten aufgrund des Zeitablaufs insoweit kein Raum mehr für eilige vorbeugende Maßnahme zum Schutze der Allgemeinheit nach § 111a StPO. Ein zur Schwere des Eingriffs in Verhältnis stehendes Eilbedürfnis kann nunmehr nicht mehr erkannt werden, zumal in Verfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende eine besonders sorgfältige und einzelfallorientierte Prüfung für erforderlich erachtet wird (Huber, in: BeckOK StPO, 46. Ed. 1.1.2023, StPO § 111a Rn. 3).

Die anderweitige Argumentation des Amtsgerichts vermag jedenfalls im hiesigen Fall nicht zu überzeugen. Zwar ist es im Grundsatz zutreffend, dass eine vorläufige Entziehung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens möglich ist. Wenn hiermit indes bei einem zur Tatzeit noch Heranwachsenden über 7 Monate und bis zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen das erstinstanzliche Urteil zugewartet wird, dann lässt sich mit Blick hierauf und durch die seither bestehende Unauffälligkeit des Betroffenen kein hinreichendes Eil- und Sicherungsbedürfnis mehr begründen, das die vorläufige Entziehung noch verhältnismäßig erscheinen lässt. Eine andere Beurteilung rechtfertigt vorliegend auch die Schwere der erstinstanzlich festgestellten Tat oder ein vermeintliches Vorrangverhältnis einer Klärung im Hauptverfahren nicht. Es sind vorliegend auch keine Gründe aus der Sphäre des Beschwerdeführers ersichtlich, die hier den Zeitablauf bedingt haben könnten und eine andere Beurteilung rechtfertigen.“

Das LG begründet m.E. recht „vornehm“, warum die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht – mehr – zulässig war. Denn man hätte auch etwas dazu sagen können, dass die amtsgerichtliche Entscheidung schon den „Beigeschmack“ einer „Retourkutsche“ = Antwort auf die Berufungseinlegung hatte. Denn, wenn nicht biw zum Urteil und dann im Urteil entzogen wurde, fragt man sich schon, warum dann nach der Berufungseinlegung.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin Bender-Paukens geschickt. Ja, das ist die Kollegin, die die schöne Werbung für meine Handbücher gemacht hat (vgl. hier: Wenn „Staatsanwältinnen“ Werbung machen, oder: „Das Strafverfahren steht Kopf“). Sie kann also nicht nur „Staatsanwältin“ 🙂 .

 

Parken im geschützten/beschränkten „E-Auto-Bereich“, oder: Zusatzschild und Verhältnismäßigkeit

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Im „Kessel Buntes“ „köcheln“ dann heute zwei OVG-Entscheidungen, also Verkehrsverwaltungsrecht.

Ich starte mit dem OVG Münster, Beschl. v. 13.04.2023 – 5 A 3180/21. Der äußert sich zur Rechtmäßigkeit einer Abschleppmaßnahme wegen Verstoßes gegen die Parkerlaubnis nur für elektrisch betriebene Fahrzeuge mit Parkschein. Das VG hatte den Kläger zur Zahlung der Abschleppkosten verurteilt und das damit begründet, dass die Einleitung der Abschleppmaßnahme zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr erforderlich gewesen. Der Kläger habe beim Abstellen seines Fahrzeug in einer Parkbucht gegen die Verkehrsvorschrift gemäß § 42 Abs. 2 StVO i. V. m. Anlage 3 zur StVO lfd. Nr. 7 Spalte 3 Nr. 3 a) verstoßen. Das Parkschild habe zwar grundsätzlich zum Parken von Fahrzeugen berechtigt. Die Parkerlaubnis sei aber zugunsten von Elektrofahrzeugen beschränkt worden; das kraftstoffbetriebene Fahrzeug des Klägers habe dort nicht abgestellt werden dürfen. Es bestünden keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der sich aus der Beschilderung ergebenden Verkehrsregelung; die Beschilderung sei insbesondere hinreichend bestimmt. Sie sei unmissverständlich dahingehend zu lesen gewesen, dass das Parken nur für Elektrofahrzeuge während der Ladezeit und nur mit Parkschein erlaubt gewesen sei. Das unter dem Zusatzzeichen nach § 39 Abs. 3 StVO (Pkw mit Elektrokabel) angebrachte weitere Zusatzzeichen „Mit Parkschein“ habe sich auf das Verkehrszeichen unmittelbar darüber bezogen. Die Anordnung der Abschleppmaßnahme sei auch ermessensfehlerfrei erfolgt.

Dagegen die Berufung, die das OVG nicht zugelassen hat. Hier dann nur die Leitsätze des OVG zu der umfangreich begründeten Entscheidung:

    1. Zur Rechtmäßigkeit der Beschränkung der Parkerlaubnis zugunsten von Elektrofahrzeugen während der Ladezeit und nur mit Parkschein.
    2. Ein Zusatzschild bezieht sich jeweils auf das unmittelbar über ihm befindliche Verkehrszeichen, das seinerseits ebenfalls ein Zusatzzeichen sein kann.
    3. Zur Unwirksamkeit einer Regelung wegen mangelnder Bestimmtheit (vgl. § 37  VwVfG NW). Hier kommt der Regelung für jedermann erkennbar der oben geschilderte Regelungsgehalt zu.
    4. Eine Maßnahme verstößt nicht schon dann gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn zum Zeitpunkt der Maßnahme weitere Plätze des betroffenen Funktionsbereichs frei waren. Dies liefe auf die nicht tragbare Forderung hinaus, entweder nicht berechtigten Verkehrsteilnehmern eine Einschätzungsbefugnis darüber zuzugestehen, ob voraussichtlich in der überschaubaren Zeit sämtliche Plätze des betroffenen Funktionsbereichs belegt sein werden oder nicht, oder den Bediensteten der Verkehrsordnungsbehörden eine Pflicht aufzuerlegen, den Bedarf an freizuhaltenden Plätzen fortlaufend zu überprüfen und hiervon ein Einschreiten abhängig zu machen.

Haft II: Verhältnismäßigkeit des Sitzungshaftbefehls, oder: Vorführung geht vor Verhaftung

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Im zweiten Posting dann noch einmal etwas zur Verhältnismäßigkeit eines „Sitzungshaftbefehls“, also § 230 Abs. 2 StPO.

Dazu führt das LG Nürnberg-Fürth im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 13.03.2023 – 7 Qs 17/23 – aus:

„Die zulässige Beschwerde ist begründet, weshalb der Haftbefehl vom 07.03.2023 aufzuheben war.

Zwar liegen die Voraussetzungen des § 230 Abs. 2 StPO insoweit vor, als der Angeklagte zum Termin am 07.03.2023 ordnungsgemäß mit der Belehrung über die Folgen unentschuldigten Fernbleibens geladen wurde und ohne (genügende) Entschuldigung zum Termin nicht erschienen ist.

Allerdings verstößt der Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht – wie das Amtsgericht auch erkannt hat – ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen (OLG Nürnberg. Beschluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21). Dieser ist nach dem Willen des Gesetzgebers stets der Vorrang vor dem Haftbefehl zu geben.

Wie das OLG Nürnberg in seinem Beschluss vom 10.08.2021 (Ws 734/21) ausführte, kommt der Erlass eines Haftbefehls in der Regel nur dann in Betracht, wenn der Versuch der Vorführung zum Termin gescheitert ist und/oder mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass die Anwesenheit des Angeklagten durch eine Vorführung sichergestellt werden kann (OLG Nürnberg, Be-schluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21). Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Er-wartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann. Ohne eine Vorführung versucht zu haben, ist der Erlass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig, etwa wenn feststeht, dass der An-geklagte auf keinen Fall erscheinen will oder die Vorführung wahrscheinlich deshalb aussichtslos sein wird, weil der Aufenthaltsort des Angeklagten unbekannt ist oder die begründete Sorge besteht, dass der Angeklagte vor einer Vorführung untertauchen wird (OLG Nürnberg, Beschluss vom 10.08.2021 – Ws 734/21).

Diese Voraussetzungen liegen nach Auffassung der Kammer nicht vor. Der Beschwerdeführer hat einen festen Wohnsitz. Zum Termin am 07.03.2023 war er zwar nicht im Sitzungssaal erschienen, bot jedoch nach telefonischer Rücksprache mit seinem Verteidiger an, sich unverzüglich von Bayreuth aus auf den Weg zum Gericht zu machen. Es ist mithin nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer auf keinen Fall zum Termin erscheinen will oder untertauchen wird, um sich der Verhandlung zu entziehen. Die Gesamtschau ergab damit für die Kammer, dass eine Vorführung durchaus geeignet ist, die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung zu gewährleisten.

Von einer eigenen Entscheidung über die Vorführung sieht die Kammer angesichts der Verfahrenslage – noch ist kein neuer Hauptverhandlungstermin bestimmt – ab.“

Haft I: Alkoholisiert in der Hauptverhandlung, oder: Haftbefehl ist das letzte Zwangsmittel

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Ich habe länger keine Haftentscheidungen vorgestellt. Heute ist es dann mal wieder so weit.

Den Opener mache ich mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.03.2023 – Ws 207/23 -, den mir der Kollege Jendricke aus Amberg geschickt hat. Das OLG nimmt Stellung zu einem nach § 230 Abs. 2 StPo ergangenen (Sitzungs)Haftbefehl. Ergangen ist der Haftbefehl im Berufungsverfahren. Der Angeklagte war dort in der Berufungshauptverhandlung alkoholisiert erschienen. Das LG erlässt daraufhin Haftbefehl, den das OLG auf die Haftbeschwerde des Kollegen hin aufgehoben hat:

„Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und hat in der Sache Erfolg, da der Haftbefehl unverhältnismäßig ist.

Dabei kann die Frage einer genügenden Entschuldigung des Beschwerdeführers dahin stehen.

Ein Haftbefehl nach § 230 Abs: 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur-dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müsssen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung ‚gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann.

Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich, werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht.

Das Landgericht hat die in der Hauptverhandlung vorw15.02.2023 anwesende Sachverständige nicht befragt, ob durch eine frühzeitige Ingewahrsamnahme und Vorführung des Angeklagten zur nächsten Hauptverhandlung – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Facharztes – eine Verhandlungsfähigkeit hergestellt werden könne, zumal der Angeklagte sich bereit gezeigt hatte, zur Verhandlung zu erscheinen und die Sachverständige ausgeführt hat, der Angeklagte sei in Anbetracht seiner Erkrankung bei einem Alkoholgehalt von .einem Promille weniger verhandlungsfähig als bei zwei Promille.

Hinzukommt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert, dass die Hauptverhandlung in angemessener Frist durchgeführt wird und vorliegend nicht geprüft wurde, ob zeitnah eine Herstellung der Verhandlungsfähigkeit bei zeitnaher Fortsetzung der Hauptverhandlung hergestellt kann. Ein neuer Hauptverhandlungstermin wurde bis jetzt nicht bestimmt, hierzu hätte spätestens zum Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung Veranlassung bestanden.

Vor diesem Hintergrund ist der Haftbefehl unverhältnismäßig, er wird daher aufgehoben. Angesichts des Fehlens eines neuen Hauptverhandlungstermins und Feststellungen zur Erfolgsaus-sieht einer Vorführung wird davon abgesehen, schon jetzt über die Vorführung des Angeklagten als milderes Mittel zu entscheiden.

Einziehung III: Die Vollstreckung der Einziehung, oder: „Ich habe nichts mehr aus der Tat.“

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Und als dritte Entscheidung zur Einziehung dann noch der OLG Hamburg, Beschl. v. 05.01.2023 – 5 Ws 52/22 – zur Fragen in Zusammenhang mit der Vollstreckung der Einziehung.

Das OLG geht von folgendem Sachverhalt aus:

„Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 32, vom 9.7.2019 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 25 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit dem strafbaren Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen und mit unerlaubtem Betreiben eines Lagers von explosionsgefährlichen Stoffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem wurde gemäß § 73c StGB die Einziehung von Wertersatz in Höhe von € 80.091,69 angeordnet.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer nach den Feststellungen der Kammer von Anfang 2015 bis Januar 2019 gemeinsam mit einem Mittäter im Keller des Wohnhauses seiner Mutter Cannabispflanzen zur Produktion von Marihuana anbaute, um sich durch fortgesetzte Betäubungsmittelverkäufe eine Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zu verschaffen. Der Betrag der angeordneten Wertersatzeinziehung errechnete sich aus dem Gesamterlös der im Tatzeitraum erwirtschafteten Ernten (€ 170.055,50) abzüglich des Werts der im Zuge der Durchsuchung sichergestellten, noch nicht verkauften Betäubungsmittelmenge (€ 15.409,81) und abzüglich des Wertes der Betäubungsmittelteilmenge, über die der Mittäter des Beschwerdeführers allein verfügt bzw. die dieser allein verkauft hatte (€ 23.769,-). Abgezogen wurde zudem ein aus Betäubungsmittelverkäufen stammender Bargeldbetrag, der bei der Durchsuchung am 18.1.2019 sichergestellt und gesondert eingezogen wurde (€ 50.785,-).

Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Freiheitsstrafe wurde zum Teil vollstreckt. Mit Beschluss vom 5.11.2021 setzte die Strafvollstreckungskammer den Rest der Freiheitsstrafe zur Bewährung aus.

Die Vollstreckung des Einziehungsbetrags blieb im Wesentlichen erfolglos. Nachdem die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 24.2.2022 erfolglos zur Zahlung des bis dahin verbliebenen Einziehungsbetrags von € 78.793,29 aufgefordert hatte, beantragte dieser am 27.6.2022, gemäß § 459g Abs. 5 StPO das Unterblieben der Vollstreckung des Einziehungsbetrags anzuordnen. Der Wert des Erlangten befinde sich nicht mehr in seinem Vermögen, da er von dem Gewinn aus den Taten damals seinen Lebensunterhalt bestritten habe. Aktuell lebe er von ALG I in Höhe von € 1.100,- monatlich. Weitere Vermögenswerte seien nicht vorhanden, so dass er entreichert sei. Dies führe nach der aus seiner Sicht anwendbaren, bis zum 30.6.2021 gültigen Gesetzesfassung des § 459g Abs. 5 S. 1 StPO zwingend dazu, dass das Unterbleiben der Vollstreckung anzuordnen sei. Zudem stelle sich die weitere Vollstreckung als unverhältnismäßig dar. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass es sich bei der vom Gericht errechneten Einziehungssumme um den Verkaufswert der Ernte handele und nicht um den Gewinn aus der Tat; Ausgaben z.B. für Strom seien bei der Berechnung nicht berücksichtigt worden. Selbst wenn er aus seinem unpfändbaren Einkommen monatliche Raten in Höhe von z.B. € 150 zahlen würde, wären bis zum Ausgleich der Forderung ca. 534 Raten aufzubringen, so dass er über fast 45 Jahre auf sein unpfändbares Einkommen verwiesen sei. Dies sei erdrosselnd und verletzte ihn in seinem Grundrecht auf Resozialisierung.

Das Landgericht lehnte den Antrag des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 5.9.2022 ab. Es könne dahinstehen, welche Gesetzesfassung des § 459g Abs. 5 StPO Anwendung finde. Der Beschwerdeführer habe nämlich schon nicht ausreichend dargelegt, dass der Wert des durch die Tat Erlangten nicht mehr in seinem Vermögen vorhanden, er also entreichert sei. Auch aus den Feststellungen des erkennenden Gerichts ergebe sich dies nicht. Es seien angesichts des Alters und der beruflichen Perspektiven des Beschwerdeführers auch keine besonderen Umstände erkennbar, die seine Resozialisierungsmöglichkeiten als gefährdet erscheinen ließen.“

Hiergegen richtet sich sofortige Beschwerde der Verurteilen, mit der er geltend macht, das LG habe die Anforderungen an die Darlegung und den Beweis der „Entreicherung“ überspannt, da diese darauf hinausliefen, dass er ein Haushaltsbuch hätte führen müssen. Von dem Tatertrag hätten ihm im Tatzeitraum rechnerisch ca. EUR 1.670,- monatlich zur Verfügung gestanden. Dies halte sich ohne Weiteres im Rahmen des für den Lebensunterhalt Üblichen.

Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

1. Bei der Regelung in § 459g Abs. 5 StPO, nach der das Gericht das Unterbleiben der Vollstreckung der Einziehung anzuordnen hat, wenn die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre, handelt es sich nicht um eine materiell-rechtliche, sondern um eine das Verfahren betreffende Vorschrift, so dass die Meistbegünstigungsregel des § 2 Abs. 3, 5 StGB hierauf keine Anwendung findet.

2. Infolgedessen ist die aktuelle Gesetzesfassung des § 459g Abs. 5 StPO, nach der im Falle der Entreicherung des Einziehungsschuldners nicht mehr zwingend das Unterbleiben der Vollstreckung anzuordnen ist, auch auf Altfälle anzuwenden, bei denen der Zeitpunkt Tatbeendigung vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neufassung (1. Juli 2021) liegt.

3. Soweit sich der Einziehungsschuldner zur Begründung der Unverhältnismäßigkeit der weiteren Vollstreckung darauf beruft, dass sich die Taterträge nicht mehr in seinem Vermögen befinden, obliegt ihm hierfür die Darlegungs- und Beweislast. Beweiserleichterungen oder gar eine Vermutung dafür, dass Taterträge für den Lebensunterhalt verbraucht wurden, besteht auch dann nicht, wenn dem Einziehungsschuldner der Nachweis der Mittelverwendung durch deliktstypische Besonderheiten erschwert ist (hier: Ausgabe von Bareinnahmen aus Betäubungsmittelgeschäften).