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Keine Verwirkung der Erinnerung nach 3 Monaten, oder: BayLSG zu § 14 RVG

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Heute stelle ich dann mal wieder zwei Entscheidungen zum RVG bzw. zu Kostenfragen vor. I

Ich beginne mit dem BayLSG, Beschl. v. 15.09.2022 – L 12 SF 159/20. Ja, sozialgerichtliches Verfahren. Aber zumindest die Ausführungen des BayLSG zur Frage der Verwirkung einer Erinnerung haben auch über das Sozialgerichtsverfahren hinaus Bedeutung.

Gestritten wird zwischen den Beteiligten um die Höhe der aus der Staatskasse zu erstattenden Vergütung nach Beiordnung im Rahmen der Bewilligung von PKH sowie daüber, ob das Erinnerungsrecht der Beschwerdeführerin verwirkt ist. Nach Abschluss des Verfahrens hat die bestellte Rechtsanwältin mit Antrag vom 11.01.2019 ihren Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse in Höhe von insgesamt 470,05 EUR geltend gemacht. Dabei wurden eine Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 Euro sowie die Postpauschale zuzüglich Umsatzsteuer angesetzt. Mit Beschluss vom 07.02.2019 setzte die zuständige Urkundsbeamtin abweichend vom Antrag die Vergütung auf insgesamt 380,80 EUR fest. Sie setzte dabei neben der wie beantragt festgesetzten Postpauschale die Verfahrensgebühr auf 300,00 Euro fest. Hiergegen wandte sich die Rechtsanwältin mit ihrer Erinnerung vom 09.01.2020. Die angesetzte Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 EUR entspreche billigem Ermessen. Der Erinnerungsgegner und Beschwerdegegner (Bg) hält die nach Ablauf von mehr als drei Monaten nach Erlass des Vergütungsfestsetzungsbeschlusses eingelegte Erinnerung für verwirkt.

Das SG hat die Erinnerung als zwar nicht verwirkt, aber als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen dann die Beschwerde an das LSG. Die hatte Erfolg.

Zur Erinnerung führt das LSG u.a. aus:

„Unabhängig vom zeitlichen Moment bedarf die Annahme einer Verwirkung auch im Kostenrecht noch eines Umstandsmoments (vgl. Keller, in: jurisPR-SozR 8/2019, Anm. 3, E.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.12.2018 – L 7 AS 4/17 B, juris Rn. 17; Thüringer LSG, Beschluss vom 23.07.2018 – L 1 SF 497/16 B, juris Rn. 18 ff.; LSG NRW, Beschluss vom 30.04.2018 – L 9 AL 223/16 B, juris Rn. 35 f.). Soweit sich das BayLSG in der Vergangenheit darauf festgelegt hat, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung eine Verwirkung zumindest der Staatskasse regelmäßig schon nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden der Gebührenfestsetzungsentscheidung eintritt (grundlegend Bayerisches LSG, Beschluss vom 04.10.2012 – L 15 SF 131/11 B E, juris Rn. 18 ff.), ohne zwischen Zeit- und Umstandsmoment zu unterscheiden, hält der Senat hieran nicht mehr fest (vgl. hierzu Grundsatzbeschluss des Senats vom 29.08.2022, L 12 SF 298/18). Denn allein der Zeitablauf begründet keine Verwirkung. Zwar kann das Erinnerungsrecht sowohl der Staatskasse als auch des Rechtsanwalts nicht „bis in alle Ewigkeit“ bestehen bleiben. Dies ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzprinzip, wonach Entscheidungen von Behörden und Gerichten innerhalb angemessener Zeit bestandskräftig bzw. rechtskräftig werden können und diejenigen Entscheidungen, die bestands- bzw. rechtskräftig geworden sind, grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden; dabei hat letzt-endlich eine Abwägung gegen das Prinzip der materiellen Richtigkeit zu erfolgen (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 4. Oktober 2012 – L 15 SF 131/11 B E, nach juris). Dem wird durch das Rechtsinstitut von Treu und Glauben nach § 242 das Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in Gestalt des Rechtsinstituts der Verwirkung Rechnung getragen. Anhaltspunkte für eine absolute Obergrenze bereits nach einem Jahr sind nicht ersichtlich und können auch nicht mit entsprechenden Anfechtungsfristen bei falscher oder unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung begründet werden (Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 26. September 2018 – L 1 SF 803/16 B –, juris). Demnach scheidet erst recht die Annahme des Vorliegens eines Zeitmoments nach nur drei Monaten, wie das SG unter Verweis auf die Rechtsprechung des OLG Koblenz annimmt, aus.

Zudem fehlt es hier an einem Umstandsmoment. Allein aufgrund der Tatsache, dass die Bfin nicht innerhalb eines Jahres Erinnerung eingelegt hatte, durfte sich der Bg nicht darauf einrichten, die Bfin werde ihr Recht auf Erinnerung nicht mehr geltend machen. Andere Umstände, aus denen dem Bg ein Vertrauensschutz hätte erwachsen können, liegen nicht vor, zumal die Bfin umfangreich begründet hat, warum sie ihr Erinnerungsrecht erst nach 11 Monaten ausgeübt hat.“

Und zu § 14 RVG heißt es dann:

„Bei der Bestimmung der billigen Gebühr anhand der Kriterien von § 14 Abs. 1 RVG wird dem Rechtsanwalt zu Recht und im Einklang mit der Systematik des § 315 BGB ein gewisser Spielraum bzw. Toleranzrahmen zugestanden. In Übereinstimmung mit der ober-gerichtlichen Rechtsprechung hält der Senat nach wie vor eine vom Rechtsanwalt bestimmte Gebühr für noch verbindlich, wenn sie bis zu 20% von der Gebühr abweicht, die der Kostenbeamte und ggf. das Gericht bzw. Beschwerdegericht für angemessen halten (vgl. auch Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl., § 14, Rdnr. 12, m.w.N.; Toussaint, Kostengesetze, 52. Aufl., § 14, Rdnr. 24; vgl. zur Berechnung der Toleranzgrenze Be-schluss des Senats vom 24.03.2020, L 12 SF 271/16 E). Auch unter Berücksichtigung des Toleranzrahmens war die Gebührenanforderung der Bfin unbillig. Bei Betrachtung der o.g. Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG lag der Rechtsstreit im leicht überdurchschnittlichen Bereich anderer Streitigkeiten.

Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit war im Vergleich mit den übrigen sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 19.08.2011, Az.: L 6 SF 872/11 B m.w.N., nach juris) leicht überdurchschnittlich. Der Senat geht davon aus, dass eine anwaltliche Tätigkeit jedenfalls dann durchschnittlich umfangreich ist, wenn Klage erhoben, Akteneinsicht genommen, die Klage begründet und zu den (z.B. medizinischen, sonstigen tatsächlichen oder auch rechtlichen) Ermittlungen des Gerichts Stellung genommen wird, einschließlich der eben genannten Tätigkeiten. Zu berücksichtigen ist dabei der zeitliche Aufwand, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der Sache betrieb und objektiv verwenden musste (vgl. Bundessozialgericht BSG, Urteil vom 01.07 2009, Az.: B 4 AS 21/09 R, nach juris). Gleiches gilt auch für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. In diesen findet zwar nur eine summarische Prüfung durch das Gericht statt, allerdings hat der Antragsteller sowohl den Anordnungsgrund als auch den Anordnungsanspruch so darzulegen, dass das Gericht innerhalb kurzer Zeit zu einer Entscheidung in der Lage ist. Insbesondere die Darstellung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit, kompensiert die aufgrund der kurzen Verfahrensdauer häufig eingeschränkte Anzahl an gewechselten Schriftsätzen. Die Tatsache, dass es sich um ein Eilverfahren handelt, darf sich demnach grundsätzlich nicht gebührenmindernd auswirken (vgl. hierzu auch Beschluss des Senates vom 15.11.2018, L 12 SF 124/14 sowie bereits BayLSG, Beschluss vom 05.10.2016, L 15 SF 282/15).

Hier fertigte die Bfin zur Begründung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens eine Antragsschrift samt umfangreicher Antragsbegründung, die eine Sachverhaltsdarstellung sowie rechtliche Ausführungen zum Anordnungsanspruch sowie zum Anordnungsgrund enthielt. Es wurden zur Glaubhaftmachung umfangreiche Unterlagen beigefügt. Zudem musste die Bfin auf vier Schreiben des Antragsgegners replizieren und auch hierzu gezielt Unterlagen zur Untermauerung ihres Vorbringens anfügen. Akteneinsicht hat die Bfin nicht genommen, Gutachten oder medizinische Ermittlungen waren nicht erforderlich. Besprechungen sowie Schriftwechsel mit dem Mandanten wurden glaubhaft vorgetragen. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit bewertet der Senat objektiv als durchschnittlich. Die Bedeutung der Angelegenheit für den Antragsteller bewertet der Senat angesichts der Sanktionen in Höhe von 100% als überdurchschnittlich, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers als unterdurchschnittlich. Ein besonderes Haftungsrisiko der Bfin ist nicht ersichtlich.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass von einer leicht überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen ist, die nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung der Toleranzgrenze von 20% den Ansatz einer Verfahrensgebühr von 375,00 Euro gerade noch rechtfertigt.“

OWi III: 4 x Entscheidungen zum Verfahrensrecht, oder: Zu späte Ablehnung, Vorhalt, Entlastungszeuge, Urteil

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Und zum Schluss dann noch ein paar Entscheidungen zu Verfahrensfragen, und zwar – zum Teil noch einmal:

    1.  Die gerichtliche Aufklärungspflicht im Hinblick auf die Ladung von Entlastungszeugen ist in den Fällen eingeschränkt, in denen der in der Hauptverhandlung anwesende Betroffene anhand eines bei der Tat gefertigten Lichtbildes nach Auffassung des Tatgerichts eindeutig identifiziert worden ist. Die Verpflichtung, in einem solchen Fall dennoch einen Zeugen zu laden, hängt dann von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.
    2. Im Fall der Identifizierung anhand eines Lichtbildes müssen die tatrichterlichen Urteilsgründe so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen.

Auch einem Urteil in Bußgeldsachen muss im Grundsatz zu entnehmen sein, ob und gegebenenfalls wie sich der Betroffene in der Hauptverhandlung geäußert hat oder ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat.

    1. Entscheidet das Gericht über die Rechtsbeschwerde außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlusswege, so kann ein Ablehnungsgesuch nur so lange statthaft vorgebracht werden, bis die Entscheidung ergangen ist.
    2. Nichts anderes gilt, wenn die Ablehnung mit einer Gehörsrüge nach § 356a StPO verbunden wird, weil der Rechtsbehelf nicht dazu dient, einem unzulässigen Ablehnungsgesuch durch die unzutreffende Behauptung der Verletzung rechtlichen Gehörs doch noch Geltung zu verschaffen.
    3. Die nicht den Akteninhalt betreffenden Informations- und Einsichtsrechte leiten sich im Bußgeldverfahren nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ab.
    4. Der Zulassungsgrund des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (Verletzung rechtlichen Gehörs) ist auf nicht vom Wortlaut der Norm erfasste Verletzungen des Verfahrensrechts nicht entsprechend anwendbar.

Erklärt ein Zeuge auf einen Vorhalt hin, sich (weiterhin) nicht an die ihm vorgehaltenen Angaben in einer Urkunde zu erinnern, ist der Inhalt der Urkunde nicht verwertbar in die Hauptverhandlung eingeführt worden. Auch die Angabe, bei Durchführung der damaligen Vernehmung richtig protokolliert zu haben, führt in einem solchen Fall nicht dazu, dass die vorgehaltenen Angaben des Zeugen durch den Vorhalt in die Hauptverhandlung eingeführt werden und bei der Entscheidung verwertbar sind.