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Vollstreckung I: Zulässigkeit einer Abstinenzweisung; oder: Zulässigkeit beim Suchtkranken?

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Und heute dann einige vllstreckungsrechtliche OLG-Entscheidung.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 25.05.2023 – III 2 Ws 67/23 – zur Frage der Zulässigkeit einer sog. Abstinenzweisung bei einem Suchtkranken. Das OLG sagt – wie die h.M. – unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG:

„Nach § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB kann das Gericht einer verurteilte Person für die Dauer der Führungsaufsicht oder für eine kürzere Zeit anweisen, keine alkoholischen Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich zu nehmen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen Gründe für die Annahme bestehen, dass der Konsum solcher Mittel zur Begehung weiterer Straftaten beitragen wird, und sich Alkohol- oder Suchtmittelkontrollen zu unterziehen, die nicht mit einem körperlichen Eingriff verbunden sind. Eine solche Abstinenzweisung kommt vor allem für im Vollzug erfolgreich behandelte rauschmittelabhängige Probanden in Betracht. Problematisch ist ein Konsumverbot hingegen bei Personen, die eine langjährige, nicht (erfolgreich) therapierte Suchtmittelabhängigkeit aufweisen. Voraussetzung ist zunächst, dass bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Rauschmittelkonsum zur Gefahr weiterer Straftaten beitragen könnte. Maßgeblich ist nicht das Rückfallrisiko an sich, sondern die Wahrscheinlichkeit eines „Beitrags“ zu strafbaren Handlungen, zum Beispiel auch die Gefahr von Beschaffungskriminalität (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 68b Rn. 14). Demgemäß muss eine solche Weisung geeignet sein, den mit ihr angestrebten Zweck zu erreichen, wobei bereits die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Bei einer Abstinenzweisung muss also die Möglichkeit bestehen, dass Straftaten unterbleiben, die im Fall weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten wären. Ungeeignet wäre eine Abstinenzweisung hingegen, wenn eine Verminderung des Risikos der Begehung weiterer Straftaten aufgrund dieser Weisung ausgeschlossen werden kann (BVerfG, Beschluss vom 30.03.2016 – 2 BvR 496/12, NJW 2016, 2170, 2171).

Mit einer entsprechenden Abstinenzweisung dürfen zudem nach § 68b Abs. 3 StGB keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung des Verurteilten gestellt werden. Die Abstinenzweisung muss erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn sein. Letzteres bedeutet, dass sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten darf, sondern diesem zumutbar sein. Insoweit stellt § 68b Abs. 3 StGB eine einfachgesetzliche Ausprägung der sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen dar. Die Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt eine Abwägung zwischen den Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung es erforderlich ist, in die Grundrechte des Betroffenen einzugreifen, und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter des Betroffenen voraus. Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Abstinenzweisung strafbewehrt ist. Insoweit unterscheidet sich die Abstinenzweisung im Rahmen der Führungsaufsicht von einer Weisung im Rahmen der Bewährungsaussetzung gern. § 56c StGB, sodass an eine Abstinenzweisung gern. § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Da im Fall der Verletzung einer Abstinenzweisung gern. § 68 b I Nr. 10 StGB die Möglichkeit der Verhängung einer Strafe als der schärfsten dem Staat zur Verfügung stehenden Sanktion besteht (vgl. § 145 a StGB), kann von dem Betroffenen die Hinnahme des damit verbundenen ethischen Unwerturteils im allgemeinen nur erwartet werden, wenn er überhaupt in der Lage ist, sich normgerecht zu verhalten, und der Schutz überwiegender Interessen anderer oder der Allgemeinheit eine strafrechtliche Sanktionierung gebietet. Von der Verhältnismäßigkeit einer Abstinenzweisung gern. § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB wird regelmäßig auszugehen sein, wenn diese gegenüber einer ohne Weiteres zum Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln fähigen Person angeordnet wird und im Fall des erneuten Alkohol- oder Suchtmittelkonsums mit der Begehung erheblicher, die Sicherheitsinteressen der All-gemeinheit betreffender Straftaten zu rechnen ist. Wenn der Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln lediglich vorn Willen und der charakterlichen Festigkeit des Weisungsunterworfenen abhängt, ist es ohne Weiteres zumutbar, für die Dauer der Führungsaufsicht zur Vermeidung weiterer Straftaten einen solchen Verzicht einzufordern. Anders verhält es sich demgegenüber im Fall eines nicht oder erfolglos therapierten langjährigen Suchtkranken. Ungeachtet der Tatsache, dass § 68 b Abs. 1 Nr. 10 StGB nicht zwischen erfolgreich therapierten und nichttherapierten Suchtkranken unterscheidet, stellt sich die Frage der Zumutbarkeit des Verzichts auf den Konsum von Suchtmitteln in beiden Fällen unterschiedlich dar. Für den Suchtkranken beinhaltet die Abstinenzweisung eine deutlich schwerere Belastung. Dennoch wird auch in diesen Fällen nicht ausnahmslos davon ausgegangen werden können, dass die Weisung, auf den Konsum von Suchtmitteln zu verzichten, unzumutbar ist. Vielmehr ist auch insoweit eine Abwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls erforderlich. Dabei sind insbesondere die Fragen, in welchem Umfang überhaupt die Aussicht besteht, den mit einer Abstinenzweisung verfolgten Zweck zu erreichen, ob und inwieweit der Suchtkranke sich (wenn auch erfolglos) Therapieangeboten geöffnet hat und welche Straftaten im Fall weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten sind, in die Abwägung einzustellen. Jedenfalls in Fällen, in denen ein langjähriger, mehrfach erfolglos therapierter Suchtabhängiger aufgrund seiner Suchtkrankheit nicht zu nachhaltiger Abstinenz in der Lage ist und von ihm keine die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erheblich beeinträchtigenden Straftaten drohen, ist eine strafbewehrte Abstinenzweisung gem. § 68 b I Nr. 10′ StGB als unzumutbare Anforderung an die Lebensführung iSv § 68 b III StGB und damit zugleich als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit anzusehen (vgl. BVerfG, NJW 2016, 2170 Rn. 18-26, beck-online).

Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabes kann die unter Ziff. 1. d) erteilten Abstinenzweisung in dem Beschluss der 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 08.11.2022 (BI. 19 ff. FA-Heft) nach dem bisherigen Sach- und Verfahrensstand keinen Bestand haben.

…..

2. Indes beruht die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auf einer rechtsfehlerhaften Ermessensausübung bzgl. der Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Der angefochtene Beschluss unter Ergänzung durch die Nichtabhilfeentscheidung beruht hinsichtlich der Weisung unter Ziff. 1. d) – unter Verstoß gegen die Amtsaufklärungspflicht – auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage und entbehrt daher der vorliegend erforderlichen vertieften Begründung.

Die Strafvollstreckungskammer hat im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht die für ihre Entscheidungsfindung maßgeblichen Tatsachen festzustellen und in eine ordnungsgemäße Ermessensabwägung einzubeziehen. Das Institut der Führungsaufsicht nach § 68f StGB hat nämlich die Aufgabe, gefährliche oder (rückfall)gefährdete Täter in ihrer Lebensführung in Freiheit über gewisse kritische Zeiträume hinweg zu unterstützen und zu überwachen, um sie von weiteren Straftaten abzuhalten. Führungsaufsicht soll damit nicht nur Lebenshilfe für den Übergang von der Freiheitsentziehung in die Freiheit geben, sondern auch den Verurteilten führen und überwachen. Wenn diese umfassende Sozialisierungshilfe wirksam sein soll, setzt dies Weisungen voraus, die auf den Täter, die Tat(en), deretwegen er verurteilt wurde, und -damit zusammenhängend – auf die von ihm ausgehende Gefährlichkeit hinsichtlich der Begehung weiterer Straftaten möglichst genau abzustimmen sind. Um dieser kriminalpolitischen Zielsetzung gerecht zu werden, ist eine Schematisierung der zu erteilenden Weisungen nicht möglich (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 27.03.2008 – 2 Ws 147/08, NStZ 2008, 572)……“

Wegen der Einzelheiten des konkreten Falles dann bitte im verlinkten Volltext weiterlesen.

Absehen von der Kostenauferlegung im JGG-Verfahren, oder: Wirtschaftliche Gefahr versus Erziehungsgedanke

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Am „Gebührenfreitag“ heute dann mal keine gebührenrechtlichen Entscheidungen, sondern zwei kostenrechtliche Beiträge.

Ich beginne mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.11.2023 – Ws 982/23, den mir die Kollegin Braun aus München geschickt hat. Es geht um die Kostenauferlegung im JGG-Verfahren. Dort sieht § 74 JGG vor, dass im JGG-Verfahren von der Auferlegung von Kosten und Auslagen auf den Jugendlichen abgesehen werden kann. Dazu hat das OLG Stellung genommen.

In dem Verfahren hatte die Jugendkammer beim LG die zum Tatzeitpunkt jugendliche Verurteilte mit Urteil v. 24.4.2023 unter Anwendung von Jugendstrafrecht wegen fünf Fällen der Beihilfe zum Diebstahl mit Sachbeschädigung schuldig gesprochen, ihr eine Geldauflage in Höhe von 500 EUR erteilt und sie für die Dauer von einem Jahr der Aufsicht und Betreuung eines Betreuungshelfers unterstellt. Die Mitverurteilten wurden jeweils wegen fünf Fällen des schweren Bandendiebstahls mit Sachbeschädigung zu Gesamtfreiheitsstrafen oder einer Einheitsjugendstrafe mit Bewährung verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass die Verurteilte die Mitangeklagten bei Begehung von Diebstählen unterstützte, indem sie während der Taten im Fahrzeug wartete, um diese vor etwaiger Entdeckung zu warnen.

Nachdem die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, bei der Verurteilten von der Auferlegung von Kosten abzusehen, hat das LG angeordnet, dass die Verurteilte und zwei Mitverurteilte die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Von der Möglichkeit des § 74 JGG, aus erzieherischen Gründen von der Auferlegung von Kosten abzusehen. hat das LG keinen Gebrauch gemacht.

Hiergegen wendet sich dann die Verurteilte über ihre Verteidigerin mit der sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass das LG sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt habe, weil die Kostenentscheidung nicht berücksichtige, dass ein Großteil der angefallenen Kosten nicht auf den Tatbeitrag der Verurteilten zurückzuführen sei. Zudem sei es aus erzieherischen Gründen geboten, dass die Verurteilte, die derzeit in einem befristeten Arbeitsverhältnis arbeite, eine Berufsausbildung beginne, was angesichts der Kostentragungslast von geschätzt 20.000 EUR erschwert werde. Hinzu komme, dass sie als jüngste der Verurteilten wegen der Inhaftierung der anderen kostentragungspflichtigen Verurteilten voraussichtlich allein die Kosten tragen müsse, was unverhältnismäßig sei. Schließlich ergebe sich aus der Urteilsbegründung des LG, dass die Auferlegung der Kosten der zusätzlichen Sanktionierung dienen solle, was mit dem Erziehungsgedanken des JGG unvereinbar sei.

Die sofortige Beschwerde der Verurteilten hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die Entscheidung, der zur Tatzeit jugendlichen Verurteilten gemäß § 74 JGG die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ist eine Ermessensentscheidung, die von dem Beschwerdegericht lediglich auf Ermessensfehler überprüfbar ist. Maßstab der Ermessensentscheidung ist es. einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat. Dabei ist im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessens-ausübung die Möglichkeit gemäß § 74 JGG – um Folgewirkungen im Sinne einer negativen Sanktionierung durch die Auferlegung der Kosten zu vermeiden – bei Jugendlichen tendenziell ausgedehnt zu nutzen (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rn. 8c). Auch die Gesamtbelastung, die die Kostenentscheidung bewirkt, ist abwägungsrelevant (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.02 2011, III – 4 Ws 59/11, juris: OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2017, III- 4 Ws 213/17, juris).

2. Die vom Landgericht getroffene Entscheidung genügt diesen Anforderungen nicht.

Zum einen führt das Landgericht aus, dass die festgesetzte Geldauflage der Höhe nach nur deshalb so gering bemessen wurde, weil die Verurteilte mit der Kostentragungspflicht belastet wird. Angesichts der Höhe der Kosten des Verfahrens tritt die eigentliche Rechtsfolge in den Hintergrund, was mit dem Erziehungsgedanken nicht zu vereinbaren ist (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 74 Rn. 8d, LG Freiburg NStZ-RR 2000, 183).

Zum anderen begründet das Landgericht seine Entscheidung damit, dass die Verurteilte bei Berücksichtigung ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage bei einem Nettoverdienst von 1.500 Euro durch ihre auf sechs Monate befristete Tätigkeit in pp. imstande ist, die Kosten des Verfahrens in Raten zu begleichen. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass zum einen das Arbeitsverhältnis befristet ist und zum anderen die Jugendliche plant, eine Ausbildung zur Verkäuferin oder im Bereich Kosmetik zu machen. Für die – unter Erziehungsaspekten wünschenswerte – Beendigung der Hilfstätigkeit in pp. und Absolvierung einer Ausbildung ist die Belastung mit den gesamten Verfahrenskosten kontraproduktiv. Der Verurteilten, die derzeit noch bei ihren Eltern wohnt, wird damit die Gründung einer tragfähigen selbständigen Existenz durch eine Berufsausbildung über einen nicht absehbaren Zeitraum massiv erschwert.

Schließlich erscheint es fraglich, ob die gesamtschuldnerische Haftung mit den beiden Mitangeklagten, gegen die mehrjährige Freiheitsstrafen verhängt wurden, zu einer Entlastung der Verurteilten führt., wovon das Landgericht offenbar ausgeht.

3. Dies führt zur Aufhebung der Kostenentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung (OLG Hamm Beschluss vom 28.11.2017, 4 Ws 213/17, beck-online).

Bei der neuen Entscheidung wird zu berücksichtigen sein, dass Maßstab der Ermessensentscheidung ist, einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat (OLG Hamm, aaO), was auch mit einem teilweisen Absehen von der Auferlegung von Kosten möglich ist (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rz. 8a).“

Das LG hat übrigens dann die – zutreffenden – Vorgaben des OLG verstanden und hat im LG Regensburg, Beschl. v. v. 22.11.2023 – KLs 403 Js 23928/22 jug von der Auferlegung der Kosten des Verfahrens und der gerichtlichen Auslagen auf die verurteilte Jugendliche abgesehen.

Kostenerstattung im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG, oder: Ermessen des entscheidenden OLG

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Am „Gebührenfreitag“ heute zwei Entscheidungen zur Kostenfrage. Zunächst kommt hier der BayObLG, Beschl. v. 19.07.2023 -203 VAs 196/23 – zuz Kostenerstattung im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG. In den Verfahren sieht § 30 EGGVG eine besondere Kostenregelung vor, die die Erstattung außergerichtlicher Kosten in das Ermessen des entscheidenden OLG stellt. Dazu hat das BayObLG Stellung genommen.

Der Antragsteller hatte mit Schriftsatz seines Rechtsanwalts vom 04.05.2023 beantragt, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, dem Antragsteller die von diesem mit einer dem Antrag als Ausdruck beigefügten E-Mail vom 12.01.2023 beantragte Auskunft zur Speicherung seiner personenbezogenen Daten nach § 491 Abs. 2 StPO i.V.m. § 57 BDSG zu erteilen. Mit Schreiben vom 22.5.2023 hat der Antragsteller dem Senat mitgeteilt, dass die Antragsgegnerin am 16.5.2023 die beantragte Auskunft erteilt habe, die Erledigung der Hauptsache erklärt und die Erstattung der außergerichtlichen Kosten beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft ist der Erledigterklärung nicht entgegengetreten. Sie hat beantragt, den Antrag auf Auferlegung der Kosten an die Staatskasse zu verwerfen, dem Antragsteller die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen und die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen. Der Antrag nach § 23 EGGVG erweise sich mangels Durchführung eines Vorschaltverfahrens als unzulässig. Die Auskunft eines Beschuldigten über den Akteninhalt sei vorrangig in § 147 Abs. 4 StPO geregelt. Der Antragsteller hätte vor einer Anrufung des Gerichts den Beschwerdeweg nach §§ 304 ff. StPO wählen müssen

Zur Sache hier nur die Leitsätze des BayObLG:

    1. Für den gegen eine Staatsanwaltschaft gerichteten Anspruch auf Auskunft über in Dateisystemen im Sinne von §§ 483, 486 StPO gespeicherte Daten nach § 491 Abs. 2 StPO ist der Rechtsweg nach § 23 EGGVG eröffnet. Die Verweigerung einer Auskunft nach § 491 Abs. 2 StPO i.V.m. § 57 BDSG ist einer gerichtlichen Überprüfung nicht entzogen.
    1. Teilt der Antragsteller im Laufe des Verfahrens mit, dass die begehrte Auskunft vollständig erteilt sei und der Antrag für erledigt erklärt werde, ist nur noch über die Frage der Kostenerstattung zu befinden.

Das BayObLG hat festgestellt, dass das Verfahren in der Hauptsache erledigt ist. Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers aus der Staatskasse hat es aber nicht angeordnet:

„5. Aufgrund der Erledigterklärung war nur noch über die Frage zu befinden, ob eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten anzuordnen war.

a) Eine Entscheidung über die Tragung von Gerichtskosten ist entbehrlich, weil Gerichtskosten für das vorliegende Verfahren nicht anfallen (BayObLG a.a.O.). Die Beendigung des Verfahrens durch Erledigungserklärung löst keine Gerichtsgebühr aus (Nr. 15300 und 15301 KV GNotKG zu § 3 Abs. 2 GNotKG).

b) Eine Erstattung der dem Antragsteller im Verfahren entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten war hier nicht anzuordnen.

aa) Nach § 30 Satz 1 EGGVG kann der Senat nach billigem Ermessen bestimmen, dass die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG notwendig waren, ganz oder teilweise aus der Staatskasse zu erstatten sind. Die gesetzliche Regelung findet auch dann Anwendung, wenn in der Hauptsache keine Entscheidung ergeht, weil sie sich nach der Antragstellung erledigt hat (vgl. BayObLG a.a.O. Rn. 27 m.w.N.; KG Berlin, Beschluss vom 10. Juli 2001 – 1 VA 4/01 –, juris). Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung entspricht eine Kostenerstattung im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG billigem Ermessen, wenn sie durch besondere Umstände gerechtfertigt ist (vgl. Kissel/ Mayer, GVG, 10. Aufl., § 30 EGGVG Rn. 5). Mangels Verweisung auf diejenigen Vorschriften der Zivilprozessordnung, die für die Kostentragungspflicht maßgeblich auf das Maß des Obsiegens und Unterliegens der Partei im Rechtsstreit oder die Erfolgsaussichten des Klagebegehrens abstellen (§§ 91 Abs. 1 S. 1, 91a, 92 ZPO), genügen begründete Erfolgsaussichten allein nicht (st. Rspr., vgl. etwa BayObLG a.a.O. Rn. 28; KG Berlin, Beschluss vom 3. Juli 2018 – 5 VAs 6/18 –, juris Rn. 6; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. November 2017 – 2 VAs 52/17 –, juris Rn. 3 m.w.N.). Die Anordnung der Kostenerstattung bedarf demnach einer besonderen Rechtfertigung im Einzelfall, etwa wenn der Justizbehörde ein offensichtlich oder grob fehlerhaftes oder gar willkürliches Verhalten zur Last zu legen ist (KG a.a.O.; BayObLG a.a.O.; Gerson a.a.O. § 30 EGGVG Rn. 4; KK-Mayer, StPO, a.a.O., § 30 EGGVG Rn. 5; Kissel/Mayer a.a.O.).

bb) Im vorliegenden Fall ist die vom Antragsteller begehrte Kostenerstattung nicht veranlasst. Anhaltspunkte darauf, dass die Behörde hier willkürlich gehandelt hätte, liegen nicht vor.

aaa) Beantragt der Antragsteller eine Auskunft aus einem staatsanwaltschaftlichen Register, kann nach der Vorschrift des § 57 Abs. 4 BDSG von einer Auskunftserteilung ganz abgesehen werden, falls durch die Auskunftserteilung Ermittlungen gefährdet würden, etwa im Falle von nicht offen geführten Ermittlungsverfahren (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 10. März 2008 – 1 BvR 2388/03 –, BVerfGE 120, 351-377, BStBl II 2009, 23, juris Rn. 100 ff. zu § 19 Abs. 4 BDSG a.F.). Würde bereits die Mitteilung vom Absehen der Auskunftserteilung die Ermittlungen potentiell gefährden, braucht der Antrag nach § 57 Abs. 6 S. 2 BDSG überhaupt nicht beschieden werden.

bbb) Mit Blick auf ihre Prüfungspflicht nach § 57 Abs. 4 BDSG i.V.m. § 56 Abs. 2 BDSG, gegebenenfalls i.V.m. § 45 BDSG, die Klärung möglicher Zustimmungserfordernisse nach § 57 Abs. 5 BDSG und des Versagungsgrunds nach § 57 Abs. 6 S. 2 BDSG wäre der Staatsanwaltschaft eine gewisse Bearbeitungszeit zuzubilligen, wenn wie hier aufgrund einer Vielzahl von relevanten Verfahren eine umfangreiche Auskunft zu erstellen ist und das Auskunftsbegehren zudem die Speicherungsfristen umfasst. Dass der Vorgang bei der Staatsanwaltschaft bereits in Bearbeitung war, hatte diese dem Antragsteller nach eigenem Vortrag noch vor der Antragstellung bei Gericht mitgeteilt. Eine besondere Eilbedürftigkeit ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Zudem ist zu berücksichtigen, dass dem Antragsteller nach herrschender Meinung zur Durchsetzung seiner Rechte im Falle einer Verweigerung der Auskunft jederzeit die Möglichkeit offen stand, nach § 57 Abs. 7 BDSG und nach § 60 BDSG den Bundesbeauftragten einzuschalten (Malek in Müller/Schlothauer/Knauer, Münchener Anwaltshandbuch, Strafverteidigung, 3. Aufl., D § 30 I Rn. 6; Wittig BeckOK a.a.O. § 491 Rn. 8, im Ergebnis wohl auch Köhler a.a.O. Rn. 4a).

c) Der Festsetzung eines Geschäftswerts nach § 1 Abs. 2 Nr. 19, § 79 Abs. 1 Satz 1 GNotKG bedarf es nicht, da keine Gerichtsgebühr zu erheben ist.“

 

Einstellung des OWi-Verfahrens aus „Beweisnot“, oder: Staatskasse trägt im Zweifel die notwendigen Auslagen

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Und als zweite Entscheidung dann einen „kleinen“, aber feinen Beschluss des AG Montabaur zur Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren nach Einstellung des Verfahrens. Das AG hat im AG Montabaur, Beschl. v. 18.11.2022 – 12 OWi 2085 Js 54041/22 – auch die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse auferlegt:

„Mit Bußgeldbescheid vom 13.06.2022 setzte die Zentrale Bußgeldstelle gegen die Betroffene wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit vom 28.02.2022 eine Geldbuße von 60,00 EUR fest. Der Bußgeldbescheid wurde der Betroffenen am 18.06.2022 zugestellt. Mit Schreiben vom 21.06.2022, bei der Zentralen Bußgeldstelle am selben Tag eingegangen, legte die Verteidigerin der Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid vom 13.06.2022 Einspruch ein.

Nach Akteneinsicht teilte die Verteidigerin am 12.07.2022 mit, die Betroffene sei das Fahrzeug zur Tatzeit nicht gefahren. Bei der Fahrerin handele es sich um eine Mandantin des Zeugen, der selber Rechtsanwalt sei – mit welcher dieser am Tattag einen Gerichtstermin in wahrgenommen habe. Der Zeuge Herr pp. sei aus rechtlichen Gründen daran gehindert, die Personalien seiner Mandantin mitzuteilen.

In der Folge zog die Zentrale Bußgeldstelle verschiedene Vergleichsbilder zu der Akte bei und führte am 18.07.2022 ein Ermittlungsersuchen über die Polizeiwache pp. durch. Die Kreispolizeibehörde Mettmann teilte der Zentralen Bußgeldstelle am 04.08.2022 mit, die Betroffene habe nach Belehrung am 03.08.2022 angegeben, nicht die auf dem Beweisfoto abgebildeten Person zu sein. Aufgrund der Qualität des Beweisfotos habe der Unterzeichner keine eindeutigen Ähnlichkeiten feststellen können. Auch gegenüber dem die Ermittlungen durchführenden Polizeihauptkommissar teilte der Zeuge Herr pp. mit, es habe sich bei der Fahrerin um eine Mandantin gehandelt. Er berief sich auch gegenüber dem Polizeibeamten auf seine anwaltliche Schweigepflicht.

Nach Prüfung im Zwischenverfahren erhielt die Zentrale Bußgeldstelle Ihren Bußgeldbescheid aufrecht und gab den Einspruch gemäß § 69 OWiG am 25.08.2022 an die Staatsanwaltschaft Koblenz ab.

In einem Telefonat mit der Staatsanwaltschaft Koblenz am 05.09.2022 wiederholte die Verteidigerin der Betroffenen ihre Ausführungen aus der Einspruchsbegründung. Nachdem die Verteidigerin der Betroffenen zwei Profilbilder der Betroffenen an die Staatsanwaltschaft Koblenz übermittelt hatte, sendete diese die Akte an die Zentrale Bußgeldstelle mit der Bitte, erneut zu prüfen, ob es sich bei der Fahrerin tatsächlich um die Betroffene handele. Die Qualität des Beweisfotos sei nicht gut. Die Staatsanwaltschaft fragte zudem, ob die Zentrale Bußgeldstelle den Bußgeldbescheid zurücknehme. Mit Schreiben vom 04.10.2022 teilte die Zentrale Bußgeldstelle der Staatsanwaltschaft Koblenz mit, dass der Bußgeldbescheid vom 13.06.2022 zurückgenommen werde, sofern das Verfahren nicht seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt werde.

Mit Verfügung vom 19.10.2022 hat die Staatsanwaltschaft Koblenz das Verfahren gemäß § 47 Abs. 1 S. 2 OWiG eingestellt, da ausreichende Beweise nicht vorhanden waren. Es wurde dabei davon abgesehen, die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, gemäß § 108a Abs. 1 OWiG, §§ 467a Abs. 1, 467 Abs. 4 StPO. Eine Begründung der Entscheidung hinsichtlich der notwendigen Auslagen der Betroffenen enthält die Verfügung nicht.

Mit Schreiben vom 25.10.2022 hat die Verteidigerin der Betroffenen gegen die Kostenentscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz gerichtliche Entscheidung beantragt. Sie hat zudem beantragt, der Staatskasse die notwendigen Auslagen des Verfahrens aufzuerlegen. Das Schreiben vorn 25.10.2022 ging am selben Tag per beA bei der Staatsanwaltschaft Koblenz ein.

II…..

1. Der zulässige Antrag ist begründet.

Gemäß § 108a Abs. 1 OWIG trifft die Staatsanwaltschaft die Entscheidungen nach § 467a Abs. 1 StPO, wenn sie das Verfahren nach Einspruch einstellt, bevor sie die Akten dem Gericht vorlegt.

Dabei gilt nach § 467a Abs. 1 S. 2 StPO der § 467 Abs. 4 StPO sinngemäß, sodass bei einer Einstellung nach einer Vorschrift, die die Einstellung nach Ermessen zulässt, davon abgesehen werden kann, die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Die Staatsanwaltschaft hat hier das Verfahren nach § 47 Abs. 1 S. 2 OWiG eingestellt, bevor sie die Akten dem Gericht vorgelegt hat. Diese Vorschrift räumt ihr hinsichtlich der Einstellung ein Ermessen ein.

Die demnach grundsätzlich gemäß bestehende § 467 Abs. 4 StPO bestehende Möglichkeit, von der Auferlegung der notwendigen Auslagen der Betroffenen zulasten der Staatskasse abzusehen, erfordert wiederum selbst eine Ermessensausübung.

Eine solche lässt sich der Einstellungsverfügung nicht entnehmen. Zudem muss es bei der Grundregel des § 467 Abs. 1 StPO verbleiben, wenn Zweifel an der vollständigen Tatbestandsverwirklichung oder ihrer Nachweisbarkeit bleiben; für eine Freistellung der Staatskasse ist dann kein Raum mehr (KK-StP0/Gieg, 8. Aufl. 2019, StPO § 467 Rn. 11, mit Hinweis auf BVerfG [3. Kammer des 2. Senats] Beschl. v. 16.8.2013 — 2 BvR 864/12 = NJW 2013, 3569 = DAR 2014, 176 = NZV 2014, 95 und OLG Bamberg NZV 2009, 249).

Zwar kann (und wird in der Regel) die Bereitschaft zur Übernahme der eigenen Auslagen des Betroffenen die Anwendung der Ausnahmeregel des § 467 Abs. 4 StPO rechtfertigen (Seitz/Bauer in: Göhler, OWiG, 17. Auflage 2017, § 47 Rn. 51). Eine solche Bereitschaft wurde von der Betroffenen aber nicht signalisiert.“

Keine Verwirkung der Erinnerung nach 3 Monaten, oder: BayLSG zu § 14 RVG

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Heute stelle ich dann mal wieder zwei Entscheidungen zum RVG bzw. zu Kostenfragen vor. I

Ich beginne mit dem BayLSG, Beschl. v. 15.09.2022 – L 12 SF 159/20. Ja, sozialgerichtliches Verfahren. Aber zumindest die Ausführungen des BayLSG zur Frage der Verwirkung einer Erinnerung haben auch über das Sozialgerichtsverfahren hinaus Bedeutung.

Gestritten wird zwischen den Beteiligten um die Höhe der aus der Staatskasse zu erstattenden Vergütung nach Beiordnung im Rahmen der Bewilligung von PKH sowie daüber, ob das Erinnerungsrecht der Beschwerdeführerin verwirkt ist. Nach Abschluss des Verfahrens hat die bestellte Rechtsanwältin mit Antrag vom 11.01.2019 ihren Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse in Höhe von insgesamt 470,05 EUR geltend gemacht. Dabei wurden eine Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 Euro sowie die Postpauschale zuzüglich Umsatzsteuer angesetzt. Mit Beschluss vom 07.02.2019 setzte die zuständige Urkundsbeamtin abweichend vom Antrag die Vergütung auf insgesamt 380,80 EUR fest. Sie setzte dabei neben der wie beantragt festgesetzten Postpauschale die Verfahrensgebühr auf 300,00 Euro fest. Hiergegen wandte sich die Rechtsanwältin mit ihrer Erinnerung vom 09.01.2020. Die angesetzte Verfahrensgebühr in Höhe von 375,00 EUR entspreche billigem Ermessen. Der Erinnerungsgegner und Beschwerdegegner (Bg) hält die nach Ablauf von mehr als drei Monaten nach Erlass des Vergütungsfestsetzungsbeschlusses eingelegte Erinnerung für verwirkt.

Das SG hat die Erinnerung als zwar nicht verwirkt, aber als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen dann die Beschwerde an das LSG. Die hatte Erfolg.

Zur Erinnerung führt das LSG u.a. aus:

„Unabhängig vom zeitlichen Moment bedarf die Annahme einer Verwirkung auch im Kostenrecht noch eines Umstandsmoments (vgl. Keller, in: jurisPR-SozR 8/2019, Anm. 3, E.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10.12.2018 – L 7 AS 4/17 B, juris Rn. 17; Thüringer LSG, Beschluss vom 23.07.2018 – L 1 SF 497/16 B, juris Rn. 18 ff.; LSG NRW, Beschluss vom 30.04.2018 – L 9 AL 223/16 B, juris Rn. 35 f.). Soweit sich das BayLSG in der Vergangenheit darauf festgelegt hat, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung eine Verwirkung zumindest der Staatskasse regelmäßig schon nach Ablauf eines Jahres nach Wirksamwerden der Gebührenfestsetzungsentscheidung eintritt (grundlegend Bayerisches LSG, Beschluss vom 04.10.2012 – L 15 SF 131/11 B E, juris Rn. 18 ff.), ohne zwischen Zeit- und Umstandsmoment zu unterscheiden, hält der Senat hieran nicht mehr fest (vgl. hierzu Grundsatzbeschluss des Senats vom 29.08.2022, L 12 SF 298/18). Denn allein der Zeitablauf begründet keine Verwirkung. Zwar kann das Erinnerungsrecht sowohl der Staatskasse als auch des Rechtsanwalts nicht „bis in alle Ewigkeit“ bestehen bleiben. Dies ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzprinzip, wonach Entscheidungen von Behörden und Gerichten innerhalb angemessener Zeit bestandskräftig bzw. rechtskräftig werden können und diejenigen Entscheidungen, die bestands- bzw. rechtskräftig geworden sind, grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden; dabei hat letzt-endlich eine Abwägung gegen das Prinzip der materiellen Richtigkeit zu erfolgen (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 4. Oktober 2012 – L 15 SF 131/11 B E, nach juris). Dem wird durch das Rechtsinstitut von Treu und Glauben nach § 242 das Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in Gestalt des Rechtsinstituts der Verwirkung Rechnung getragen. Anhaltspunkte für eine absolute Obergrenze bereits nach einem Jahr sind nicht ersichtlich und können auch nicht mit entsprechenden Anfechtungsfristen bei falscher oder unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung begründet werden (Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 26. September 2018 – L 1 SF 803/16 B –, juris). Demnach scheidet erst recht die Annahme des Vorliegens eines Zeitmoments nach nur drei Monaten, wie das SG unter Verweis auf die Rechtsprechung des OLG Koblenz annimmt, aus.

Zudem fehlt es hier an einem Umstandsmoment. Allein aufgrund der Tatsache, dass die Bfin nicht innerhalb eines Jahres Erinnerung eingelegt hatte, durfte sich der Bg nicht darauf einrichten, die Bfin werde ihr Recht auf Erinnerung nicht mehr geltend machen. Andere Umstände, aus denen dem Bg ein Vertrauensschutz hätte erwachsen können, liegen nicht vor, zumal die Bfin umfangreich begründet hat, warum sie ihr Erinnerungsrecht erst nach 11 Monaten ausgeübt hat.“

Und zu § 14 RVG heißt es dann:

„Bei der Bestimmung der billigen Gebühr anhand der Kriterien von § 14 Abs. 1 RVG wird dem Rechtsanwalt zu Recht und im Einklang mit der Systematik des § 315 BGB ein gewisser Spielraum bzw. Toleranzrahmen zugestanden. In Übereinstimmung mit der ober-gerichtlichen Rechtsprechung hält der Senat nach wie vor eine vom Rechtsanwalt bestimmte Gebühr für noch verbindlich, wenn sie bis zu 20% von der Gebühr abweicht, die der Kostenbeamte und ggf. das Gericht bzw. Beschwerdegericht für angemessen halten (vgl. auch Mayer, in: Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl., § 14, Rdnr. 12, m.w.N.; Toussaint, Kostengesetze, 52. Aufl., § 14, Rdnr. 24; vgl. zur Berechnung der Toleranzgrenze Be-schluss des Senats vom 24.03.2020, L 12 SF 271/16 E). Auch unter Berücksichtigung des Toleranzrahmens war die Gebührenanforderung der Bfin unbillig. Bei Betrachtung der o.g. Kriterien des § 14 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG lag der Rechtsstreit im leicht überdurchschnittlichen Bereich anderer Streitigkeiten.

Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit war im Vergleich mit den übrigen sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Beschluss vom 19.08.2011, Az.: L 6 SF 872/11 B m.w.N., nach juris) leicht überdurchschnittlich. Der Senat geht davon aus, dass eine anwaltliche Tätigkeit jedenfalls dann durchschnittlich umfangreich ist, wenn Klage erhoben, Akteneinsicht genommen, die Klage begründet und zu den (z.B. medizinischen, sonstigen tatsächlichen oder auch rechtlichen) Ermittlungen des Gerichts Stellung genommen wird, einschließlich der eben genannten Tätigkeiten. Zu berücksichtigen ist dabei der zeitliche Aufwand, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der Sache betrieb und objektiv verwenden musste (vgl. Bundessozialgericht BSG, Urteil vom 01.07 2009, Az.: B 4 AS 21/09 R, nach juris). Gleiches gilt auch für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. In diesen findet zwar nur eine summarische Prüfung durch das Gericht statt, allerdings hat der Antragsteller sowohl den Anordnungsgrund als auch den Anordnungsanspruch so darzulegen, dass das Gericht innerhalb kurzer Zeit zu einer Entscheidung in der Lage ist. Insbesondere die Darstellung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit, kompensiert die aufgrund der kurzen Verfahrensdauer häufig eingeschränkte Anzahl an gewechselten Schriftsätzen. Die Tatsache, dass es sich um ein Eilverfahren handelt, darf sich demnach grundsätzlich nicht gebührenmindernd auswirken (vgl. hierzu auch Beschluss des Senates vom 15.11.2018, L 12 SF 124/14 sowie bereits BayLSG, Beschluss vom 05.10.2016, L 15 SF 282/15).

Hier fertigte die Bfin zur Begründung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens eine Antragsschrift samt umfangreicher Antragsbegründung, die eine Sachverhaltsdarstellung sowie rechtliche Ausführungen zum Anordnungsanspruch sowie zum Anordnungsgrund enthielt. Es wurden zur Glaubhaftmachung umfangreiche Unterlagen beigefügt. Zudem musste die Bfin auf vier Schreiben des Antragsgegners replizieren und auch hierzu gezielt Unterlagen zur Untermauerung ihres Vorbringens anfügen. Akteneinsicht hat die Bfin nicht genommen, Gutachten oder medizinische Ermittlungen waren nicht erforderlich. Besprechungen sowie Schriftwechsel mit dem Mandanten wurden glaubhaft vorgetragen. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit bewertet der Senat objektiv als durchschnittlich. Die Bedeutung der Angelegenheit für den Antragsteller bewertet der Senat angesichts der Sanktionen in Höhe von 100% als überdurchschnittlich, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers als unterdurchschnittlich. Ein besonderes Haftungsrisiko der Bfin ist nicht ersichtlich.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass von einer leicht überdurchschnittlichen Angelegenheit auszugehen ist, die nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung der Toleranzgrenze von 20% den Ansatz einer Verfahrensgebühr von 375,00 Euro gerade noch rechtfertigt.“