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Absehen von der Kostenauferlegung im JGG-Verfahren, oder: Wirtschaftliche Gefahr versus Erziehungsgedanke

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Am „Gebührenfreitag“ heute dann mal keine gebührenrechtlichen Entscheidungen, sondern zwei kostenrechtliche Beiträge.

Ich beginne mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.11.2023 – Ws 982/23, den mir die Kollegin Braun aus München geschickt hat. Es geht um die Kostenauferlegung im JGG-Verfahren. Dort sieht § 74 JGG vor, dass im JGG-Verfahren von der Auferlegung von Kosten und Auslagen auf den Jugendlichen abgesehen werden kann. Dazu hat das OLG Stellung genommen.

In dem Verfahren hatte die Jugendkammer beim LG die zum Tatzeitpunkt jugendliche Verurteilte mit Urteil v. 24.4.2023 unter Anwendung von Jugendstrafrecht wegen fünf Fällen der Beihilfe zum Diebstahl mit Sachbeschädigung schuldig gesprochen, ihr eine Geldauflage in Höhe von 500 EUR erteilt und sie für die Dauer von einem Jahr der Aufsicht und Betreuung eines Betreuungshelfers unterstellt. Die Mitverurteilten wurden jeweils wegen fünf Fällen des schweren Bandendiebstahls mit Sachbeschädigung zu Gesamtfreiheitsstrafen oder einer Einheitsjugendstrafe mit Bewährung verurteilt. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass die Verurteilte die Mitangeklagten bei Begehung von Diebstählen unterstützte, indem sie während der Taten im Fahrzeug wartete, um diese vor etwaiger Entdeckung zu warnen.

Nachdem die Staatsanwaltschaft beantragt hatte, bei der Verurteilten von der Auferlegung von Kosten abzusehen, hat das LG angeordnet, dass die Verurteilte und zwei Mitverurteilte die Kosten des Verfahrens zu tragen haben. Von der Möglichkeit des § 74 JGG, aus erzieherischen Gründen von der Auferlegung von Kosten abzusehen. hat das LG keinen Gebrauch gemacht.

Hiergegen wendet sich dann die Verurteilte über ihre Verteidigerin mit der sofortigen Beschwerde. Sie ist der Auffassung, dass das LG sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt habe, weil die Kostenentscheidung nicht berücksichtige, dass ein Großteil der angefallenen Kosten nicht auf den Tatbeitrag der Verurteilten zurückzuführen sei. Zudem sei es aus erzieherischen Gründen geboten, dass die Verurteilte, die derzeit in einem befristeten Arbeitsverhältnis arbeite, eine Berufsausbildung beginne, was angesichts der Kostentragungslast von geschätzt 20.000 EUR erschwert werde. Hinzu komme, dass sie als jüngste der Verurteilten wegen der Inhaftierung der anderen kostentragungspflichtigen Verurteilten voraussichtlich allein die Kosten tragen müsse, was unverhältnismäßig sei. Schließlich ergebe sich aus der Urteilsbegründung des LG, dass die Auferlegung der Kosten der zusätzlichen Sanktionierung dienen solle, was mit dem Erziehungsgedanken des JGG unvereinbar sei.

Die sofortige Beschwerde der Verurteilten hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die Entscheidung, der zur Tatzeit jugendlichen Verurteilten gemäß § 74 JGG die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ist eine Ermessensentscheidung, die von dem Beschwerdegericht lediglich auf Ermessensfehler überprüfbar ist. Maßstab der Ermessensentscheidung ist es. einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat. Dabei ist im Rahmen der pflichtgemäßen Ermessens-ausübung die Möglichkeit gemäß § 74 JGG – um Folgewirkungen im Sinne einer negativen Sanktionierung durch die Auferlegung der Kosten zu vermeiden – bei Jugendlichen tendenziell ausgedehnt zu nutzen (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rn. 8c). Auch die Gesamtbelastung, die die Kostenentscheidung bewirkt, ist abwägungsrelevant (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.02 2011, III – 4 Ws 59/11, juris: OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2017, III- 4 Ws 213/17, juris).

2. Die vom Landgericht getroffene Entscheidung genügt diesen Anforderungen nicht.

Zum einen führt das Landgericht aus, dass die festgesetzte Geldauflage der Höhe nach nur deshalb so gering bemessen wurde, weil die Verurteilte mit der Kostentragungspflicht belastet wird. Angesichts der Höhe der Kosten des Verfahrens tritt die eigentliche Rechtsfolge in den Hintergrund, was mit dem Erziehungsgedanken nicht zu vereinbaren ist (Eisenberg/Kölbel JGG/Kölbel, 24. Aufl. 2023, JGG § 74 Rn. 8d, LG Freiburg NStZ-RR 2000, 183).

Zum anderen begründet das Landgericht seine Entscheidung damit, dass die Verurteilte bei Berücksichtigung ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage bei einem Nettoverdienst von 1.500 Euro durch ihre auf sechs Monate befristete Tätigkeit in pp. imstande ist, die Kosten des Verfahrens in Raten zu begleichen. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass zum einen das Arbeitsverhältnis befristet ist und zum anderen die Jugendliche plant, eine Ausbildung zur Verkäuferin oder im Bereich Kosmetik zu machen. Für die – unter Erziehungsaspekten wünschenswerte – Beendigung der Hilfstätigkeit in pp. und Absolvierung einer Ausbildung ist die Belastung mit den gesamten Verfahrenskosten kontraproduktiv. Der Verurteilten, die derzeit noch bei ihren Eltern wohnt, wird damit die Gründung einer tragfähigen selbständigen Existenz durch eine Berufsausbildung über einen nicht absehbaren Zeitraum massiv erschwert.

Schließlich erscheint es fraglich, ob die gesamtschuldnerische Haftung mit den beiden Mitangeklagten, gegen die mehrjährige Freiheitsstrafen verhängt wurden, zu einer Entlastung der Verurteilten führt., wovon das Landgericht offenbar ausgeht.

3. Dies führt zur Aufhebung der Kostenentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung (OLG Hamm Beschluss vom 28.11.2017, 4 Ws 213/17, beck-online).

Bei der neuen Entscheidung wird zu berücksichtigen sein, dass Maßstab der Ermessensentscheidung ist, einerseits eine wirtschaftliche Gefährdung der Verurteilten zu vermeiden, andererseits, ihr durch die Auferlegung von Kosten zu zeigen, dass sie für die Folgen ihres Tuns unter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens einzustehen hat (OLG Hamm, aaO), was auch mit einem teilweisen Absehen von der Auferlegung von Kosten möglich ist (Eisenberg/Kölbel, JGG, 24. Auflage, § 74 Rz. 8a).“

Das LG hat übrigens dann die – zutreffenden – Vorgaben des OLG verstanden und hat im LG Regensburg, Beschl. v. v. 22.11.2023 – KLs 403 Js 23928/22 jug von der Auferlegung der Kosten des Verfahrens und der gerichtlichen Auslagen auf die verurteilte Jugendliche abgesehen.

Rückwirkende Aufhebung der “Pflichtibestellung”, oder: OLG Nürnberg sagt dem LG Amberg, wie es geht

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Und dann noch RVG-Entscheidungen. Heute stelle ich dann mal – auch das gibt es – positive Entscheidungen vor. Beide Entscheidungen sind Rechtsmittelentscheidungen zu Beschlüssen, die hier auch Gegenstand der Berichterstattung gewesen sind. Einmal hat das Rechtsmittelgericht eine falsche Entscheidung eines LG repariert, in der anderen Entscheidung, die heute Mittag kommt, hat das LG eine richtige Entscheidung eines AG bestätigt.

Ich beginne mit dem „Reparaturbeschluss“. Das ist der OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.07.2023 – Ws 133/23 . Der „repariert“ den falschen LG Amberg, Beschl. v. 05.12.2022 – 11 Qs 79/22 (dazu Rückwirkende Aufhebung der “Pflichtibestellung”, oder: Das LG Amberg kann es auch nicht und den falschen AG Amberg, Beschl. v. 12.10.2022 – 6 Gs 398/21).

Ich erinnere an den Sachverhalt: Der Kollege Jendricke, der „Betroffener“ war, war Verteidiger des Beschuldigten in einem Verfahren mit dem Vorwurf des Verbreitens jugendpornographischer Schriften. Er erhielt Akteneinsicht und wurde danach als Pflichtverteidiger beigeordnet. Die StA hat das Verfahren dann eingestellt. Der Kollege hat die Festsetzung seiner Vergütung beantragt. AG und LG haben die nicht gewährt. Der Kollege hat gegen den LG-Beschluss dann weitere Beschwerde eingelegt und hatte damit jetzt beim OLG Nürnberg Erfolg:

„1. Der Beschwerdeführer wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Amberg vom 08.03.2021 wirksam als Pflichtverteidiger gemäß § 142 Abs. 2 StPO bestellt.

a) Für die Wirksamkeit der Bestellung kommt es nicht darauf an, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen. Wird die Bestellung angeordnet, ist diese, jedenfalls zunächst, wirksam.

b) Mit der Bestellung wird eine öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers zur sachgerechten Mitwirkung am Strafverfahren begründet (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 18), und zwar unabhängig davon, ob die Bestellungsentscheidung rechtskräftig wird. § 307 Abs. 1 StPO ordnet an, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt wird. Es liegt auch kein Fall vor, in dem gesetzlich ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung angeordnet wird.

Dies entspricht im Übrigen auch den Praxisanforderungen bei der Pflichtverteidigerbestellung: Nach §§ 141, 141a StPO ist in den Fällen der notwendigen Verteidigung bei verschiedenen Maßnahmen die oftmals kurzfristige Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, deren Rechtskraft nicht abgewartet werden kann. Entsprechend darf der Pflichtverteidiger darauf vertrauen, für solche Tätigkeiten auch vergütet zu werden.

2. Die spätere Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt nicht dazu, dass die Bestellung von Anfang an entfällt. Vielmehr tritt diese Wirkung erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung ein.

Grundsätzlich hat die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht zur Folge, dass diese seit dem Zeitpunkt ihres Erlasses, also rückwirkend, keine Wirkung entfaltet. Zwar hat der Gesetzgeber in § 142 Abs. 7 StPO keine davon abweichende Regelung für den Fall getroffen, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft aufgehoben wird. Nach dem Sinn und Zweck der in § 141 Abs. 1 und 2 StPO angeordneten unverzüglichen oder kurzfristigen Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Regelung in § 307 Abs. 1 StPO, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt wird, ist § 142 Abs. 7 StPO aber ergänzend dahingehend auszulegen, dass der wirksam, aber nicht rechtskräftig bestellte Pflichtverteidiger erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung durch das Beschwerdegericht entpflichtet wird. So besteht zum einen kein Zweifel an der Wirksamkeit der bis dahin vorgenommenen Handlungen des Pflichtverteidigers und zum anderen wird so das Vertrauen des Pflichtverteidigers in seine Bestellung und damit die Begründung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse geschützt (vgl. Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Auflage, Teil A Vergütungs-ABC Rn 2400).

b) Diese Auslegung ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der Pflichtverteidiger im Vertrauen auf die Bestellung tatsächlich tätig wird. Auch wenn der Pflichtverteidiger zwischen Bestellung und Entpflichtung durch das Beschwerdegericht nicht tätig wird, liegt für diesen Zeitraum eine wirksame Bestellung vor.

3. Damit hat der Beschwerdeführer gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 RVG Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit aus der Landeskasse mit der Konsequenz, dass gemäß § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch die Tätigkeiten vor seiner Bestellung zu vergüten sind. Dies ist Folge der wirksamen Pflichtverteidigerbestellung durch das Amtsgericht, ohne dass es darauf ankommt, ob diese geboten war.

4. Zur Höhe der festzusetzenden Gebühren….“

Dazu muss man m.E. nicht viel sagen, außer: Die Entscheidung ist richtig. Die richtige Lösung der Frage lag auf der Hand. Man fragt sich allerdings, warum man für das Problem – das keins ist/war – bis zum OLG muss und warum AG/LG das nicht gleich richtig machen konnten. Ein Gutes hat der Marathon aber: Jetzt gibt es zumindest mal eine OLG-Entscheidung zu der „Problematik“. Das erleichtert den Bezirksrevisoren die Arbeit 🙂 .

 

 

Einziehung III: (Ganz) kleine Rechtsprechungsübersicht, oder: Weiterverkauf von BtM, Spesen, Entreicherung

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Und dann noch der Rest an Einziehungsentscheidungen aus meinem Blogordner, und zwar:

„Im Fall 2 der Urteilsgründe begegnet die Einziehungsanordnung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Nach den Feststellungen des Landgerichts wurden dem Angeklagten im Fall 2 der Urteilsgründe 106 Gramm Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 15 Prozent im Wert von 4.000 Euro geliefert, die er gewinnbringend weiterverkaufen wollte. Durch diese Tat des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erlangte der Angeklagte Kokain. Das Landgericht hat einen dessen Wert entsprechenden Geldbetrag (4.000 Euro) nach §§ 73, 73c StGB eingezogen.

Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf hingewiesen, dass zum gewinnbringenden Weiterverkauf erlangte Betäubungsmittel nicht Taterträge im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB sind, sondern Tatobjekte, die nach § 33 Satz 1 BtMG iVm § 74 Abs. 2 StGB eingezogen werden können. Die Einziehung des Wertersatzes richtet sich dementsprechend nach § 74c StGB. Voraussetzung hierfür ist, dass das Tatobjekt dem Täter zur Tatzeit gehörte oder zustand. Werden Betäubungsmittel wie hier aber im Inland erworben, kann der Käufer wegen § 134 BGB kein Eigentum an den Drogen erlangen (BGH, Beschluss vom 9. November 2021 – 5 StR 244/21).

Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler (§ 337 Satz 1 StPO). Anders als in den übrigen Fällen ist im Fall 2 gerade nicht festgestellt, dass dem Angeklagten der Erlös aus einem etwaigen Weiterverkauf zugeflossen ist. Die Voraussetzungen einer Wertersatzeinziehung nach §§ 73, 73c StGB von 4.000 Euro als Mindestverkaufserlös liegen somit nicht vor. Wie vom Generalbundeanwalt beantragt, hat der Senat den Ausspruch über die Anordnung der Einziehung des Wertes daher in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO um 4.000 Euro reduziert.“

„Die Einziehungsentscheidung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Nach den Feststellungen erhielt die Angeklagte den Betrag von 1.500 Euro von einem der Hintermänner, um damit das für die Tatausführung erforderliche Fahrzeug anmieten und Übernachtungskosten bezahlen zu können.

Bei dieser Sachlage hat die Angeklagte den Geldbetrag – anders als es bei der erstrebten Teilhabe an der Tatbeute läge – nicht für die Taten, sondern für deren Durchführung erlangt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2010 – 4 StR 277/10; NStZ-RR 2011, 283, 284 mwN).

Derartige „Spesen“ unterliegen als Tatmittel der Einziehung nach § 74 Abs. 1 und § 74c Abs. 1 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juli 2002 – 3 StR 240/02; Urteil vom 25. Februar 1993 – 1 StR 808/92; BGHR StGB § 74 Abs. 1 Tatmittel 4). Die Einziehung des Tatmittels beziehungsweise dessen Wertes nach § 74c Abs. 1 StGB steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2020 – 6 StR 34/20). Eine solche Ermessensentscheidung hat das Landgericht – von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent – nicht getroffen.

Die zugehörigen Feststellungen können bestehen bleiben, weil sie von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO).“

1. § 459 Abs. 5 S. 1 StPO in der ab 01.07.2021 geltenden Fassung findet ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens auf Einziehungsentscheidungen Anwendung, auch wenn die der Einziehung zugrundeliegende Tat vor dem 01.07.2021 begangen wurde. Der Meistbegünstigungsgrundsatz aus § 2 Abs. 3 StGB ist auf § 459g Abs. 5 S. 1 StPO nicht anzuwenden (Anschluss OLG Stuttgart, Beschluss vom 20.12.2022, 4 Ws 514/22, und OLG Schleswig, Beschluss vom 07.07.2022, 2 Ws 63/22, sowie OLG Hamm, Beschluss vom 18.08.2022, 5 Ws 211/22, juris Rn. 19; entgegen OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25.05.2022, 1 Ws 122/22, und Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 22.09.2022, 1 Ws 118/21).

2. Für die Einstellung der weiteren Vollstreckung der Einziehung des Wertersatzes wegen Unverhältnismäßigkeit ist es nicht ausreichend, dass das Erlangte nicht mehr im Vermögen des Täters vorhanden ist.

Pflichti II: Erteilung einer Vertretungsvollmacht, oder: Kein Aufhebungsgrund

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Im zweiten Pflichti-Posting dann der OLG Nürnberg, Beschl. v. 23.05.2023 – Ws 468/23. Der äußert sich zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbeiordnung, wenn der Angeklagte seinem Pflichtverteidiger gemäß § 329 Abs. 2 S. 1 StPO eine Vertretungsvollmacht erteilt.

Im entschiedenen Fall hatte das AG dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger bestellt. Der Angeklagte wird dann verurteilt. Er legt gegen dei Verurteilung Berufung ein.

Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vor dem LG legt der Pflichtverteidiger eine Vertretungsvollmacht nach § 329 StPO vor. Das LG hebt daraufhin auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Pflichtverteidigerbestellung auf. Die Berufung des Angeklagten wurde verworfen. Der Angeklagte hat inzwischen Revision eingelegt.

Gegen die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung wird Beschwerde eingelegt. Die hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung nach § 143a Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

Nach § 143a Abs. 1 S. 1 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, führt unabhängig davon, ob bei Personenidentität des Verteidigers überhaupt von einem „anderen Verteidiger“ im Sinne der Vorschrift gesprochen werden kann (so BeckOK StPO/Krawczyk, 47. Ed. 1.4.2023, StPO § 143a Rn. 1 unter Verweis auf SK-StPO/Wohlers Rn. 2 „Die Aufhebung der Bestellung muss auch dann erfolgen, wenn der bisherige Pflichtverteidiger gewählt wird.“), die Vorlage einer Vertretungsvollmacht nach § 329 Abs. 2 S. 1 StPO nicht zur Annahme eines Wahlmandats. Davon, dass auch dem Pflichtverteidiger eine Vollmacht im Sinne des § 329 Abs. 2 S. 1 StPO erteilt sein kann (ohne dass dadurch die Pflichtverteidigerbestellung obsolet wird), gehen neben dem OLG Hamm in der von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidung (Beschluss vom 03.04.2014, 5 RVs 11/14) auch das OLG Köln (Beschluss vom 12.06.2018, 1 RVs 107/18) und der BGH aus (der anders als die beiden vorstehenden Entscheidungen sogar das Fortwirken einer vor der Pflichtverteidigerbestellung erteilten uneingeschränkten Vertretungsbefugnis annimmt, Beschluss vom 24.01.2023, 3 StR 386/21, beck-online Rn. 28). Zu Recht hat die Generalstaatsanwaltschaft ferner darauf hingewiesen, dass es nicht nur an der notwendigen Feststellung fehlt, dass der Pflichtverteidiger als Wahlverteidiger mandatiert und zur Durchführung der Verteidigung dauerhaft und nicht nur punktuell in der Lage ist (vgl. KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 143a Rn. 2), sondern vielmehr erhebliche Zweifel bestehen, dass die vom Landgericht angenommene Wahlverteidigerbestellung gesichert wäre.

2. Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung konnte auch nicht auf der Grundlage des § 143 Abs. 2 S. 1 StPO erfolgen.

Nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO kann die Bestellung aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. An den für die Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO maßgeblichen Umständen – der Verurteilte stand zur Tatzeit hinsichtlich einer Freiheitsstrafe von einem Jahr zehn Monaten unter Bewährung, deren Widerruf im Raum steht – hat sich allerdings vorliegend nichts geändert. Ein Fall notwendiger Verteidigung ist nach wie vor gegeben. Eine bloße Änderung der rechtlichen Bewertung des Vorliegens der Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung kann aus Gründen des prozessualen Vertrauensschutzes eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung nicht begründen (KG, Beschluss vom 28.02.2017, 5 Ws 50/17; OLG Nürnberg, Beschluss vom 07.03.2023, Ws 173-174/23, sowie Beschluss vom 04.04.2023, Ws 294/23).“

Haft I: Alkoholisiert in der Hauptverhandlung, oder: Haftbefehl ist das letzte Zwangsmittel

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Ich habe länger keine Haftentscheidungen vorgestellt. Heute ist es dann mal wieder so weit.

Den Opener mache ich mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 09.03.2023 – Ws 207/23 -, den mir der Kollege Jendricke aus Amberg geschickt hat. Das OLG nimmt Stellung zu einem nach § 230 Abs. 2 StPo ergangenen (Sitzungs)Haftbefehl. Ergangen ist der Haftbefehl im Berufungsverfahren. Der Angeklagte war dort in der Berufungshauptverhandlung alkoholisiert erschienen. Das LG erlässt daraufhin Haftbefehl, den das OLG auf die Haftbeschwerde des Kollegen hin aufgehoben hat:

„Die Beschwerde ist nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und hat in der Sache Erfolg, da der Haftbefehl unverhältnismäßig ist.

Dabei kann die Frage einer genügenden Entschuldigung des Beschwerdeführers dahin stehen.

Ein Haftbefehl nach § 230 Abs: 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren.

Zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln besteht ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst zwingend das mildere Mittel – nämlich die polizeiliche Vorführung – anzuordnen. Nur-dies wird dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, dass bei einer den Bürger belastenden Maßnahme Mittel und Zweck im angemessenen Verhältnis zueinander stehen müsssen. Eine Verhaftung des Angeklagten ist mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände die Erwartung ‚gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte zu dem (nächsten) Hauptverhandlungstermin erfolgreich vorgeführt werden kann.

Wenn das Gericht demgegenüber sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus seiner Entscheidung deutlich, werden, dass es eine Abwägung zwischen der polizeilichen Vorführung und dem Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet worden ist, müssen tragfähig sein und in dem Beschluss in einer Weise schlüssig und nachvollziehbar aufgeführt werden, dass sie in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Gericht im Rahmen seiner Eigenkontrolle gewährleisten. Von entsprechenden Darlegungen kann nur abgesehen werden, wenn die Nachrangigkeit des Freiheitsanspruchs offen zutage liegt und sich daher von selbst versteht.

Das Landgericht hat die in der Hauptverhandlung vorw15.02.2023 anwesende Sachverständige nicht befragt, ob durch eine frühzeitige Ingewahrsamnahme und Vorführung des Angeklagten zur nächsten Hauptverhandlung – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Facharztes – eine Verhandlungsfähigkeit hergestellt werden könne, zumal der Angeklagte sich bereit gezeigt hatte, zur Verhandlung zu erscheinen und die Sachverständige ausgeführt hat, der Angeklagte sei in Anbetracht seiner Erkrankung bei einem Alkoholgehalt von .einem Promille weniger verhandlungsfähig als bei zwei Promille.

Hinzukommt, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert, dass die Hauptverhandlung in angemessener Frist durchgeführt wird und vorliegend nicht geprüft wurde, ob zeitnah eine Herstellung der Verhandlungsfähigkeit bei zeitnaher Fortsetzung der Hauptverhandlung hergestellt kann. Ein neuer Hauptverhandlungstermin wurde bis jetzt nicht bestimmt, hierzu hätte spätestens zum Zeitpunkt der Abhilfeentscheidung Veranlassung bestanden.

Vor diesem Hintergrund ist der Haftbefehl unverhältnismäßig, er wird daher aufgehoben. Angesichts des Fehlens eines neuen Hauptverhandlungstermins und Feststellungen zur Erfolgsaus-sieht einer Vorführung wird davon abgesehen, schon jetzt über die Vorführung des Angeklagten als milderes Mittel zu entscheiden.