Schlagwort-Archive: OLG Nürnberg

Pflichti II: Gesamtstrafenerwartung beim Klimakleber, oder: Akteneinsicht im KiPo-Verfahren

Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

Und dann kommen hier zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar einmal OLG und einmal AG. Hier hätte dann auch der heute Morgen vorgestellte BVerfG, Beschl. v. 27.03.2025 – 2 BvR 829/24 – gepasst, aber ich habe dem BVerfG ein eigenes Posting „gegönnt“.

Hier habe ich dann:

Drohen dem Angeklagten in mehreren Verfahren Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Nicht erst und ausschließlich das (möglicherweise letzte von mehreren) Verfahren, durch das die (Gesamt-)Strafe schließlich zum Überschreiten der maßgeblichen Grenze führt, löst für den Beschuldigten die aus einer Verurteilung drohenden Nachteile aus; vielmehr hat jede Einzelstrafe, die voraussichtlich zum Bestandteil einer die Grenze überschreitenden Gesamtfreiheitsstrafe werden wird, diese potenzielle Bedeutung, gleich, ob sie in einem verbundenen oder in getrennten Verfahren ausgesprochen wird.

Kann in einem Verfahren, wie z.B. einem KiPo-Verfahren, nur einem Verteidiger nach § 147 Abs. 1 StPO umfassende Akteneinsicht gewährt werden, liegen die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidiger selbst dann – noch – vor, wenn der Wahlverteidiger bereits Akteneinsicht genommen hat.

StPO II: Rücknahme der Staatsanwalts-Berufung, oder: Zeitliche Grenze für zustimmungsfreie Rücknahme

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

In diesem Posting geht es dann um den OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.04.2025 – Ws 258/25 u. Ws 259/25.

Der Angeklagte ist durch das AG wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt worden. Gegen das Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft – beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch – Berufung eingelegt. In der Berufungshauptverhandlung beim LG erschien der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne ausreichende Entschuldigung nicht, weshalb seine Berufung nach Aufruf der Sache ohne Verhandlung zur Sache gemäß § 329 StPO verworfen wurde.

Den Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten in den vorigen Stand gegen die Versäumnis des Berufungshauptverhandlungstermins hat das LG als unzulässig zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Angeklagten hat das OLG als unbegründet verworfen. Mit Beschluss des BayObLG wurde auch die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des LG als unbegründet verworfen.

Mit Schreiben vom 03.01.2025 hat dann nahm die Staatsanwaltschaft ihre Berufung gegen das Urteil des AG zurückgenommen.

Das LG hat die Kosten der von der Staatsanwaltschaft eingelegten und wieder zurückgenommenen Berufung einschließlich der insoweit dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt und im Übrigen entschieden, dass es hinsichtlich der Berufung des Angeklagten bei der Kostenentscheidung des LG-Urteils verbleibe.

Hiergegen legte der Angeklagte sofortige Beschwerde ein und begründete diese damit, dass eine Zustimmung des Angeklagten zur Berufungsrücknahme der Staatsanwaltschaft erforderlich sei. Da eine solche nicht vorliege, sei die Berufung nicht wirksam zurückgenommen worden. Das LG stellte mit Beschluss fest, dass die Staatsanwaltschaft ihre Berufung ohne Zustimmung des Angeklagten wirksam zurückgenommen habe.

Dagegen die sofortige Beschwerde des Angeklagten,die beim OLG Erfolg hatte:

2. Beide Beschwerden haben auch in der Sache Erfolg, da die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ihre Berufung mangels hierfür erforderlicher Zustimmung des Angeklagten nicht wirksam zurückgenommen hat.

a) Durch den angefochtenen Beschluss vom 24.02.2025 hat die Berufungskammer entsprechend § 322 StPO deklaratorisch festgestellt, dass die Rücknahmeerklärung der Staatsanwaltschaft wirksam ist und sich infolgedessen deren Rechtsmittel durch Rücknahme erledigt hat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, § 302 Rz. 11a m.w.N).

b) Die Staatsanwaltschaft kann gemäß § 303 StPO ihre Berufung nach dem Beginn der Hauptverhandlung zu dem Rechtsmittel nur mit Zustimmung des Gegners, hier also des Angeklagten, zurücknehmen. Dieses Zustimmungserfordernis gilt ab dem Beginn der ersten Hauptverhandlung für das gesamte Verfahren (vgl. BGHSt 23, 277). Eine Ausnahme besteht nach § 329 Abs. 5 Satz 2, Abs. 1 Satz 1 StPO für den Fall des unentschuldigten Fernbleibens des Angeklagten bei Beginn und gemäß § 329 Abs. 5 Satz 2, Abs. 1 Satz 2 StPO bei Fortführung der Berufungshauptverhandlung.

Von dieser Ausnahmemöglichkeit hat die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung am 28.06.2024 keinen Gebrauch gemacht.

c) Mit dem Ende der Hauptverhandlung endete auch die mit § 329 Abs. 5 Satz 2 StPO gewährte ausnahmsweise Möglichkeit für die Staatsanwaltschaft, ihre Berufung ohne Zustimmung des Angeklagten zurückzunehmen. § 329 Abs. 1 StPO begrenzt den Zeitraum, in dem dies unter den jeweiligen Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 möglich ist, auf die Dauer der Hauptverhandlung.

Der Senat folgt auf Grundlage des Gesetzeswortlauts der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München (Beschluss vom 24.09.2007, 2 Ws 890/07 K, juris, bestätigt durch den Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 29.09.2020, 206 StRR 277/20, Rz. 29, juris), dass die Ausnahmeregelung des § 329 Abs. 5 Satz 2 StPO nicht über die Berufungshauptverhandlung hinaus anzuwenden ist. Dem steht der Ausnahmecharakter dieser Regelung gegenüber der Grundregel des § 303 StPO entgegen, wonach das Zustimmungsbedürfnis ab dem Beginn der ersten Berufungshauptverhandlung dauerhafter Natur bis zum Abschluss des gesamten Verfahrens ist. Ausnahmeregelungen sind eng auszulegen, so dass sich eine Anwendung des § 329 Abs. 5 Satz 2 StPO auf Fälle der Berufungsrücknahme außerhalb der Hauptverhandlung nach geltendem Recht verbietet.

Die davon abweichende Auffassung des Kammergerichts Berlin (Beschluss vom 04.09.2020, 5 Ws 217/19, juris) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Landgerichts Dresden (Beschluss 16.11.1998, 8 Ns 103 Js 12674/96), dass die gesetzliche Regelung der Verfahrensbeschleunigung diene und zudem das Nichterscheinen des Angeklagten mit einem Verzicht auf sein Zustimmungsrecht bei Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft einhergehe, der auch über die Aussetzung der Hauptverhandlung fortdauere, überzeugt angesichts der klaren gesetzlichen Regelung nicht. Auch wäre das nach Auffassung des Kammergerichts spätere Wiederaufleben des Zustimmungserfordernisses des Angeklagten zu einer Berufungsrücknahme der Staatsanwaltschaft, sobald – etwa im Fall einer erfolgreichen Revision – eine erneute Hauptverhandlung in seiner Anwesenheit beginnt, mit der Rechtswirkung eines wirksamen Verzichts des Angeklagten auf das Zustimmungserfordernis nicht vereinbar.

Auch der Normzweck der Beschleunigung des Verfahrensabschlusses erfordert keine andere Auslegung der Ausnahmevorschrift des § 329 Abs. 5 Satz 2 StPO. Auch wenn das Verfahren mit der Anfrage zur Zustimmung zur Berufungsrücknahme der Staatsanwaltschaft nach der Hauptverhandlung bei dem Angeklagten und, falls er diese nicht erteilt, mit der nochmaligen Anberaumung einer Hauptverhandlung nicht so zügig abgeschlossen wird, wie es ohne das Zustimmungserfordernis wäre, wird ein zeitnaher Abschluss des Verfahrens hierdurch nicht verhindert.

3. Da das Verfahren über die Berufung der Staatsanwaltschaft noch nicht abgeschlossen ist, ist auch der Beschluss des Landgerichts vom 13.01.2025 über die Kosten dieses Verfahrens aufzuheben. Hinsichtlich des Beschwerdeverfahrens ist eine Kostenentscheidung derzeit nicht veranlasst und bleibt der abschließenden Kostenentscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.“

StGB II: Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht, oder: Bloße Mutmaßungen reichen nicht

© Birgit Reitz-Hofmann – Fotolia.com

Im zweiten Beitrag des Tages geht es um den OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.02.2024 – Ws 1142/23, der allerdings erst vor kurzem veröffentlicht worden ist. Gegenstand der Entscheidung ist die Frage der Wirksamkeit/Zulässigkeit von Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht.

Der Verurteilte ist wegen Verstöße gegen das BtMG zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren zehn Monaten verurteilt. Zudem wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Verurteilte einen gewinnbringenden Handel mit Betäubungsmitteln (Haschisch und Methamphetamin) betrieb, um Drogen bzw. Geldmittel für den Erwerb von Drogen für den Eigenkonsum zu erlangen. Es wurde eine seit vielen Jahren bestehende schwere Abhängigkeit des Verurteilten von multiplen Substanzen mit den Präferenzen für Opiate, Cannabinoide und Stimulanzien, jedoch kein regelmäßiger Alkoholkonsum festgestellt.

Der Verurteilte befand sich seit 28.12.2020 zum Vollzug der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer wurden ab 15.12.2023 der weitere Vollzug der angeordneten Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt sowie die weitere Vollstreckung der gegen ihn erkannten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Zudem stellte die Kammer fest, dass mit der Aussetzung der Unterbringung zur Bewährungsaufsicht Führungsaufsicht eintritt, kürzte deren Höchstdauer von fünf Jahren nicht ab, setzte die Bewährungszeit auf fünf Jahre fest und stellte den Verurteilten unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers. Unter Ziffer V. des Beschlusses erteilte die Kammer dem Verurteilten diverse strafbewehrte Weisungen.

Unter anderem ordnete sie in Ziffer V. 2. des Beschlusses strafbewehrt an:

„2. sich jeglichen Alkoholkonsums, des Konsums illegaler Drogen nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG), des Konsums von Substanzen nach dem Neue-psychoaktive-Stoffe-Gesetz (NpSG), sowie des Konsums anderer berauschender Mittel, die nicht ärztlich verordnet sind, insbesondere auch von Cannabis nach einer etwaigen Legalisierung, zu enthalten, § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 10 StGB“.

Der Verurteilte hat Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte. Ich verweise wegen der Einzelheiten der Begründung des OLG auf den verlinkten Volltext. Hier gibt es nur die Leitsätze zu der Entscheidung. Die lauten:

1. Voraussetzung für die Erteilung einer Alkoholabstinenzweisung ist, dass bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Konsum von Alkohol zur Gefahr weiterer Straftaten beitragen wird. Bloße Mutmaßungen hierzu reichen nicht aus.

2. Dienten die Anlasstaten der Finanzierung des Betäubungsmittelkonsums, besteht bei dem Verurteilten keine Alkoholproblematik und war Alkoholkonsum für die Tat-begehung nicht ursächlich, genügt es zur Begründung einer Alkoholabstinenz-weisung nicht, dass die theoretische Möglichkeit für eine Suchtverlagerung oder eine herabgesetzte Hemmschwelle für den weiteren Konsum illegaler Drogen durch vorangegangenen Alkoholkonsum besteht.

StGB I: Schlagwort „Alte weiße Männer stinken“, oder: Störung des öffentlichen Friedens

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Und am zweiten Tag der ersten „normalen“ Woche 2025 geht es dann gleich mit schweree (?) Kost weiter, nämlich dreimal etwas zur Volksverhetzung.

Ich beginne mit dem OLG Nürnberg, Beschl. v. 28.11.2024 – Ws 1076/24. Über den Beschluss ist ja auch schon anderweitig berichtet worden. Das ist die Entscheidung, in der das OLG zu dem Schlagwort „Alte weiße Männer stinken“ und zur der Frage Stellung genommen hat, ob sich mit dessen Verwendung der Anfangsverdacht einer Volksverhetzung begünden lässt.

Zugrunde liegt dem Verfahren die Strafanzeige eines Rechtsanwaltes – laut Briefkopf „Bundesrichter a.D.“. Der hat einer unbekannten Frau zur Last gelegt, bei einer Veranstaltung des „Feministischen Funparks“ der Verdi-Frauen am 08.03.2024 auf dem Kornmarkt in Nürnberg auf eine Pappwand, die mit zahlreichen Sprüchen und Parolen versehen war und dem Zweck diente, dass Frauen ihre Unzufriedenheit schriftlich äußern konnten, den Spruch „Alte, weiße Männer stinken“ geschrieben zu haben, worüber der Bayerische Rundfunk in der Frankenschau am 08.03.2024 berichtete. Der Anzeigeerstatter sieht hierin eine Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu seinem Nachteil, da es sich bei ihm um einen 67 Jahre alten, weißen Mann handele. Er fordert die Ermittlung der Identität der unbekannten Frau und deren strafrechtliche Verfolgung durch Vernehmung einer bei der Veranstaltung anwesenden, namentlich bekannten Zeugin.

Das OLG sagt mit der Generalstaatsanwaltschaft im Klageerzwingungsverfahren:

„b) Es besteht kein Anfangsverdacht dafür, dass sich die angezeigte Frau der Volksverhetzung nach § 130 StGB schuldig gemacht hat. Die angezeigte Handlung ist schon nicht geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören, so dass es auf das Vorliegen der weiteren Tatbestandsmerkmale des § 130 Abs. 1 StGB nicht ankommt.

aa) Der öffentliche Friede umfasst den Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger sowie das Bewusstsein der Bevölkerung, in Ruhe und Frieden zu leben.

Bei § 130 StGB ist darüber hinaus zu beachten, dass zu dem öffentlichen Frieden auch ein Mindestmaß an Toleranz und ein öffentliches Klima gehört, das nicht durch Unruhe, Unfrieden oder Unsicherheit gekennzeichnet ist. Daher fällt die Gewährleistung von Friedlichkeit unter den öffentlichen Frieden, nicht aber der Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien. Der öffentliche Friede in diesem umfassenden Sinne kann zum einen durch eine infolge des Hervorrufens offener oder latenter Gewaltpotentiale entstandene Erschütterung des Vertrauens in die allgemeine Rechtssicherheit, vor allem auch durch die Verminderung des Sicherheitsgefühls des angegriffenen Teils der Bevölkerung, und zum anderen durch ein Aufhetzen des Publikums und der dadurch begründeten Gefahr weiterer Übergriffe beeinträchtigt werden. Eine Störung des öffentlichen Friedens kann insbesondere bereits durch die Vergiftung des öffentlichen Klimas eintreten, wenn etwa bestimmte Bevölkerungsteile ausgegrenzt und entsprechend behandelt werden, indem ihren Angehörigen pauschal der sittliche, personale oder soziale Geltungswert abgesprochen wird und sie unter Umständen durch den Angriff auf ihre Menschenwürde als „Unperson“ diffamiert werden.

Der öffentliche Friede muss durch die Tat einerseits nicht wirklich gestört oder auch nur konkret gefährdet werden. Erforderlich ist aber eine konkrete Eignung zur Friedensstörung; diese darf nicht nur abstrakt bestehen. Die Tat ist geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören, wenn sie nach Art und Inhalt der tatbestandserheblichen Äußerung sowie den sonstigen relevanten konkreten Umständen des Falles derart beschaffen ist, dass bei einer Gesamtwürdigung die Besorgnis gerechtfertigt ist, es werde zu einer Friedensstörung kommen. Aus der Sicht eines objektiven Beobachters muss auf Grund konkreter Umstände eine begründete Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern, sei es auch nur bei der Bevölkerungsgruppe, gegen die er sich richtet (MüKoStGB/Schäfer/Anstötz, 4. Auflage 2021, StGB § 130 Rn. 22f, beck-online).

bb) Die Prüfung, ob eine Handlung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, ist anhand verschiedener Kriterien vorzunehmen, wobei in erster Linie auf den Inhalt sowie die Intensität des Angriffs abzustellen ist (MüKoStGB/Schäfer/Anstötz, 4. Aufl. 2021, StGB § 130 Rn. 24, beck-online). Dabei ist die Staatsanwaltschaft zu dem zutreffenden Ergebnis gekommen, dass dies nicht der Fall ist. Das Schlagwort „Alte weiße Männer stinken“, das im Rahmen einer feministischen Veranstaltung gebraucht wurde, ist nicht im direkten Wortsinn, sondern im übertragenen Sinn als Beitrag zu einer breit geführten gesellschaftlichen Diskussion zu verstehen, ohne dass damit der öffentliche Frieden gestört werden könnte.

(1.) Der Begriff „alte weiße Männer“ findet in Deutschland seit 2012 Verwendung und man versteht darunter weiße Männer, die in einer Zeit aufgewachsen sind, in der sie aufgrund ihres Weiß- und Männlich-Seins gesellschaftliche Privilegien genossen haben, die diese Privilegien und die Diskriminierung von z. B. Frauen und People of Color aber verleugnen und somit die Gleichberechtigung aller Menschen behindern (https://de.wikipedia.org/wiki/Alte_weiße_Männer, abgerufen am 27.11.2024). Der Begriff ist auch Gegenstand verschiedener Abhandlungen in Wissenschaft und Literatur. So äußert die Soziologin Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie /Gender-Studies an der Ludwig-Maximilian-Universität München, dass „Alter weißer Mann“ kein wissenschaftlicher Begriff sei, es sich vielmehr um ein Etikett oder Label handele, das im Moment viel genutzt werde, um in verkürzter und stereotyper Art und Weise ein bestimmtes Mindset, eine bestimmte Mentalität auf den Punkt zu bringen. Hinter der Figur des alten weißen Mannes stehe die Auseinandersetzung mit einer strukturellen und sehr tiefgehenden Geschichte von Gewalt, von Ausgrenzung, von Diskriminierung (https://www.deutschlandfunkkultur.de/alter-weisser-mann-patriarchat-woke-102.html, abgerufen am 27.11.2024). Dieses Verständnis des Begriffs hat auch in der breiten Bevölkerung Einzug gehalten. So ist unlängst der Film „Alter weißer Mann“ in den deutschen Kinos erschienen, der sich als Komödie mit dieser Thematik auseinandersetzt.

(2.) Es liegt somit auf der Hand, dass mit der Verwendung des Schlagworts „Alte weiße Männer stinken“ kurz und bündig ein Diskussionsbeitrag zur dargestellten Thematik geleistet werden sollte, ohne dass damit ernsthaft die Gruppe der „alten weißen Männer“ ausgegrenzt oder als im echten Wortsinn als „stinkend“ bezeichnet werden soll. Die Parole richtet sich nicht gegen den Bevölkerungsteil der betagten Männer weißer Hautfarbe.

Mit dem Schlagwort werden auch keine konkreten Maßnahmen gegen „alte weiße Männer“ verbunden. Wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Bescheid vom 22.10.2024 zutreffend ausführt, ist auch nicht erkennbar, dass es sich bei den „alten weißen Männern“ um eine besonders vulnerable Gruppe handelt, die in der Gesellschaft eine besonders gefährdete Position innehat oder die Opfer offener oder latenter Übergriffe ist.Im Ergebnis handelt es sich somit bei dem bei einer feministischen Veranstaltung neben weiteren Beiträgen geschriebenen Schlagwort „Alte weiße Männer stinken“ um einen zugespitzten Beitrag zu dem derzeit geführten gesellschaftlichen Diskurs aus Sicht der unbekannten Teilnehmerin, an dem sich letztlich auch der Anzeigeerstatter mit seiner Strafanzeige beteiligt hat. Eine Störung des öffentlichen Friedens ist dadurch aber nicht zu befürchten.“

Wenn ich solche Verfahren sehe, bin ich froh, dass ich damit nichts (mehr) zu tun habe. 🙂

Sichtung und Erhebung von Kipo-Datenmaterial, oder: Muss der Verurteilte die hohen SV-Kosten tragen?

Bild von Victoria auf Pixabay

Ich hatte im Sommer den LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.06.2024 – 12 Qs 19/24 – vorgestellt (vgl. hier: Grobsichtung von Datenträgern in Kipo-Verfahren, oder: Wer trägt die Kosten?). In der Entscheidung hatte sich das LG nach einem sog. KiPO-Verfahren in Zusammenhang mit den zu Lasten des Angeklagten angefallenen Kosten mit der abrechenbaren Sachverständigenleistung für die Grobsichtung von Datenträgern befasst.

In der Entscheidung, in der das LG eine Kostentragungspflicht des verurteilten Angeklagten verneint hatte, hatte es eine OLG-Entscheidung erwähnt und sich darauf bezogen. Außerdem hatte es beklagt, dass das OLG seine Entscheidung nicht veröffentlicht hatte. Das war für mich Anlass, mir den OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.08.2018 – 1 Ws 605/17 – zu besorgen. Ihn stelle ich heute vor. Das OLG führt zur Abgrenzung der abrechenbaren von der nicht abrechenbaren Sachverständigenleistung aus:

„b) Zu den Kosten des Verfahrens gehören gem. § 464a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StPO die Gebühren und Auslagen der Staatskasse, einschließlich derjenigen Kosten, die durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. § 3 Abs. 2 GKG verweist wegen der Kosten auf die in der Anlage 1 (Kostenverzeichnis) aufgeführten Gebühren und Auslagen. Gemäß Nr. 9015 KV GKG gehören zu den Auslagen der Staatskasse auch die unter Ziffer 9000 bis 9014 bezeichneten Kosten, soweit sie durch die Vorbereitung der öffentlichen Klage entstanden sind. Dies gilt demnach auch für die gemäß Nr. 9005 KV GKG nach dem Justizvergütungsgesetz (JVEG) zu zahlenden Beträge.

aa) Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hat gem. § 110 Abs. 3 StPO die Durchsicht und Auswertung der übersandten Datenträger auf die X. übertragen. Dies ist zulässig, da die Verantwortung für die abschließende Durchsicht durch die Staatsanwaltschaft gem. § 152 GVG sichergestellt ist (vgl. Meyer-Goßner, Schmitt, 60. Auflage, § 110, Rdnr. 2a und Rdnr. 3, und Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 10.01.2017, 2 Ws 441/16, abgedruckt in Juris).

bb) Die Firma X. trat insoweit nicht nur als reine Hilfskraft für die ermittelnden Behörden auf, sondern hatte den Auftrag, unabhängig und eigenverantwortlich ein Sachverständigengutachten zu erstellen; dessen Kosten sind in vollem Umfang durch den Verurteilten zu tragen.

Ein Sachverständiger hat die Aufgabe, dem Staatsanwalt die Kenntnis von Erfahrungssätzen zu übermitteln und gegebenenfalls aufgrund solcher Erfahrungssätze Tatsachen zu ermitteln. Bei der Sichtung und Erhebung von Datenmaterial liegt eine Sachverständigenaufgabe vor, wenn der Betreffende nicht nur eine reine Sichtung beschlagnahmter Unterlagen vornimmt, sondern unter Einsatz geeigneter – nicht jedermann zur Verfügung stehender – Rechenprogramme und des Fachwissens die ermittlungsrelevanten Tatsachen fest – und zusammenstellt (OLG Koblenz, Beschluss vom 16.07.2010, 1 Ws 189/10, NStZ-RR 2010, 359).

Ein Teilbetrag der Rechnung beruht auf der Sichtbarmachung der kinderpornographischen Schriften und Dateien, bei der auch versteckte, wiederherstellbar gelöschte, archivierte und teilweise überschriebene Dateien in die Sichtung miteinbezogen wurden. Das Landgericht hat zutreffend die Auswertung der Datenträger und die technische Umsetzung beschrieben. Die beauftrage Firma hat – mit Hilfe spezieller Software – das PC-System ausgewertet und mittels Bilderfilter und spezieller Filmsoftware eine immense Menge an Bilddateien mit kinderpornographischem Inhalt und Videodateien festgestellt. Dies erfordert – entgegen der Einschätzung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in seiner Entscheidung vom 10.01.2017, Az. 2 Ws 441/16 (abgedruckt in NStZ-RR 2017, 127 f) – mehr Fachwissen als eine reine technische Unterstützung bei der Wiederherstellung von Dateien (vgl. BGH Beschluss vom 02.03.2011, 2 StR 275/10, StV 2011, 483).

Gleichzeitig war die Firma X.im Konkreten beauftragt, aus der Gesamtmenge der Dateien die Dateien, die kinder – bzw jugendpornographischen Inhalt haben, aufzufinden. Dafür musste eine Durchsicht sämtlicher, mittels des Bilderfilters festgestellter Bilder und hinsichtlich der Videos eine Ansicht jedes Videos erfolgen; für die Frage der Einordnung musste eine Voreinschätzung getroffen werden, die nur mit inhaltlichem Fachwissen realisiert werden kann. Insoweit war die Firma X. unabhängig und eigenverantwortlich tätig. Der dort tätige Gutachter hat deshalb erklärt, eine „auf seinen Erfahrungen im Bereich der Gutachtenserstellung zur Verbreitung bzw. Besitz von kinderpornographischen Schriften beruhende persönliche Einschätzung“ getroffen habe. Durch die Sichtbarmachung der Dateien hat die Firma X. dem Staatsanwalt die Möglichkeit verschafft, Tatsachen zu ermitteln und diese dann rechtlich selbst einzuordnen. Insoweit hat auch diese Dienstleistung die Qualität eines Sachverständigengutachtens, die darauf entfallenen Kosten sind ebenfalls vom Verurteilten zu tragen.

Eine Vergleichbarkeit zu dem der Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 10.01.2017 zugrunde liegenden Sachverhaltes besteht damit nicht; die im vorliegenden Fall eingesetzte Firma X. hat mehr als eine technische Sichtbarmachung von Datenmaterial und mehr als eine technisch bedingte Vorsortierung von Datenmaterial, welches dann von Polizei und Staatsanwalt gesichtet und bewertet wird, vorgenommen, sodass die entsprechenden Kosten hier eben nicht mit der Verfahrensgebühr nach dem GKG abgegolten sind.“