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StGB II: Falschverdächtigung einer erfundenen Person, oder: Aufklärung der Existenz des Verdächtigten

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Als zweite Entscheidung stelle ich dann den BayObLG, Beschl. v. 07.04.25 – 203 StRR 93/25 – vor, schon etwas älter, weil der Beschluss ein wenig in meinem Blogordner „gehangen“ hat. Der Beschluss äußert sich zu einer falschen Verdächtigung einer erfundenen Person (§ 164 Abs. 2 StGB).

Nach den Feststellungen des AG hat der Angeklagte als Betroffener in einem gegen ihn gerichteten Verfahren zur Verfolgung einer Verkehrsordnungswidrigkeit gegenüber Polizeibeamten unzutreffend angegeben, sein Fahrzeug wäre zur Tatzeit von einem Bekannten namens T. geführt worden. Gegenüber der Polizei und dem Polizeiverwaltungsamt hätte er auch behauptet, diese Person hielte sich regelmäßig einmal im Monat an der Wohnanschrift des Angeklagten in K. auf, woraufhin die Behörde die Anhörung des T. anordnete. In seiner Beweiswürdigung hat das Amtsgericht der Einlassung des anwaltlich beratenen Angeklagten in der Hauptverhandlung, dass die von ihm benannte Person nicht existieren würde, keinen Glauben geschenkt und ist ohne weitere Aufklärung von einer auf anwaltliche Beratung zurückzuführenden Schutzbehauptung ausgegangen.

Zur Rechtslage hat das AG, das den Angeklagten wegen falscher Verdächtigung verurteilt hat, unter Verweis auf das von § 164 StGB geschützte Rechtsgut ausgeführt, es reiche für die Erfüllung des Tatbestands bereits aus, dass eine Behörde aufgrund der Angaben des Angeklagten weitere Maßnahmen – hier die Anordnung der Anhörung der vom Angeklagten benannten Person – getroffen hätte, auch wenn es die zu Unrecht belastete Person nicht geben würde.

Die Revision des Angeklagten hatte beim BayObLG Erfolg. Das hat das AG-Urteil aufgehoben und die Sache an das AG zurückverwiesen:

„2. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts erweist sich als lückenhaft, so dass das Urteil keinen Bestand haben kann. Auch der rechtlichen Beurteilung des Strafrichters kann nicht gefolgt werden.

a) Der Begriff der „rechtswidrigen Tat“ in § 164 Abs. 1 StGB beschränkt den Gegenstand der Verdächtigung im Sinne des Absatzes 1 auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten eines anderen (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Der Vorwurf, eine Ordnungswidrigkeit begangen zu haben, wird vom Anwendungsbereich des Absatzes 1 nicht erfasst (Zopfs in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 164 Rn. 29). Im vorliegenden Fall kommt eine Strafbarkeit nach § 164 Abs. 2 StGB in Betracht.

b) Wie die Verdächtigung im Sinne von § 164 Abs. 1 StGB muss sich auch die Behauptung nach Abs. 2 mit Blick auf den doppelten Schutzzweck der Norm (vgl. Fischer, StGB, 72. Aufl., § 164 Rn. 2; Schönke/Schröder/Bosch/Schittenhelm, 30. Aufl. 2019, StGB § 164 Rn. 1a) gegen eine bestimmte oder wenigstens bestimmbare existierende andere Person richten. Die Verdächtigung einer verstorbenen wie auch einer erfundenen Person fällt nach einhelliger Meinung in Literatur und Rechtsprechung nicht unter § 164 StGB (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 20. Februar 2018 – 4 Rv 25 Ss 982/17 –, juris; BGH, Urteil vom 1. Juli 1959 – 2 StR 220/59, BGHSt 13, 219 ff.; Zopfs a.a.O. § 164 Rn. 16; Wolters/Ruß in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 164 StGB Rn. 20; Schönke/Schröder/Bosch/Schittenhelm a.a.O. § 164 Rn. 22; Lackner/Kühl/Heger/Heger, 30. Aufl. 2023, StGB § 164 Rn. 4; BeckOK StGB/Valerius, 64. Ed. 1.2.2025, StGB § 164 Rn. 13; NK-StGB/Vormbaum, 6. Aufl. 2023, StGB § 164 Rn. 39; ausführlich Greiner, NZV 2017, 314, 315). Der vom Amtsgericht herangezogene Aspekt des unnützen Verwaltungsaufwands spielt in diesem Fall keine Rolle (Zopfs a.a.O. § 164 Rn. 16).

c) Nach diesen Vorgaben hätte das Amtsgericht der Frage der Existenz der Person weiter nachgehen müssen. Bei der vom Amtsgericht angestellten Überlegung zur Schutzbehauptung handelt es sich allenfalls um eine – unbelegte – Vermutung wohl gestützt auf die Annahme, dass die „erste unmittelbare Einlassung des Angeklagten“ glaubwürdiger sei als das Bestreiten der Existenz nach anwaltlicher Beratung. Für eine Verurteilung reicht allerdings die persönliche Überzeugung des Tatrichters nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 27. April 2017 – 4 StR 434/16 –, juris; Tiemann in KK-StPO, 9. Aufl. § 261 Rn. 5). Vorgelagert ist stets die Aufklärungspflicht. Die Beweiswürdigung muss auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage unter vollständiger Ausschöpfung des verfügbaren Beweismaterials beruhen (BGH a.a.O.). Einen Erfahrungssatz, dass die – hier nicht spontan geäußerten – Angaben des Betroffenen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren der späteren Einlassung eines anwaltlich vertretenen Angeklagten vorzuziehen seien, gibt es nicht, zumal das Amtsgericht die nicht fernliegende Möglichkeit einer taktischen Einlassung zur Herbeiführung der Verfolgungsverjährung der Verkehrsordnungswidrigkeit in seine Überlegungen nicht mit eingestellt hat. Das Amtsgericht hätte von Amts wegen gemäß § 244 Abs. 2 StPO der Frage nachgehen müssen, ob die vom Angeklagten als Fahrer identifizierbar benannte Person existiert oder ob der Angeklagte eine fiktive Person belastete. Zur Generierung von belastbaren Indizien oder Beweismitteln stehen dem Tatrichter etwa die Ausschreibung als Zeuge nach § 131a StPO, eine Nachforschung im Inland oder auch ein Rechtshilfeersuchen ins Ausland zur Verfügung. Das Amtsgericht durfte nicht zum möglichen Inhalt einer anwaltlichen Beratung spekulieren und darauf gründend einer der Varianten der Angaben des Angeklagten Glauben schenken und die andere nicht weniger wahrscheinliche Variante verwerfen. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung.“

StVollZ II: Medizinische Matratze im Strafvollzug, oder: Notwendige und zweckmäßige medizinische Leistung?

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt vom OLG Naumburg. Das hat im OLG Naumburg, Beschl. v. 04.09.2025 – 1 Ws 240/25 – zu der Frage Stellung genommen, ob einem Gefangenen, der an MS erkrankt ist, eine medizinische Matratze zur Verfügung gestellt werden muss/soll. Die JVA hatte einen entsprechenden Antrag abgelehnt, die StVK hat diese Ablehnung bestätigt. Das OLG rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und eine Verletzung der Aufklärungspflicht durch die StVK:

„Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer hält der Prüfung auf die Sachrüge nicht stand. Die Vorgehensweise der Kammer verletzt das rechtliche Gehör und es mangelt an einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung wodurch die Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung entsteht.

Die Strafvollstreckungskammer hat mit Schreiben vom 24. April 2025 die Justizvollzugsanstalt aufgefordert, von dem behandelnden Arzt, Herrn Dr. pp., eine Stellungnahme einzuholen, ob dieser dem Antragsteller eine medizinische Matratze verschrieben hat und ob der Antragsteller eine dickere Matratze bzw. die Verwendung von zwei Matratzen nicht nur als Übergangslösung, sondern vielmehr als endgültige Lösung akzeptiert habe.

Das Gericht hat hiermit zu erkennen gegeben, dass es die Aussage des behandelnden Arztes, Dr. pp., für entscheidungserheblich hält. Dass das Gericht dann plötzlich und ohne anderweitige Ankündigung den Antrag des Beschwerdeführers auf dessen Vernehmung – ohne eine schriftliche Äußerung des betroffenen Arztes erhalten zu haben – zurückgewiesen hat, stellt eine überraschende Entscheidung dar, die den Antragsteller in seinen Recht auf rechtliches Gehör verletzt. Dem Antragsteller war es ohne Mitteilung des Gerichts unmöglich, auf die geänderte Rechtsauffassung der Kammer zu reagieren. Insoweit ersetzt die E-Mail des betreffenden Arztes keine Stellungnahme, da diese mehrdeutig und nicht hinreichend eindeutig ist. Durch die E-Mail erschließt sich nicht, ob die Verwendung einer orthopädischen Matratze als orthopädisches Hilfsmittel im Sinne des § 31 SGB VI erforderlich ist oder ob die jetzt gewählte Variante (der Verwendung von wie Matratzen) aus medizinischer Sicht ausreichend ist.

Dieses insgesamt nicht aufzuklären, verletzt auch den Grundsatz der umfassenden Amtsaufklärung.

Der Antragsteller hat gemäß § 73 Abs. 1 JVollzGB I LSA unter Beachtung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit und des allgemeinen Standards der gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf die notwendigen und zweckmäßigen medizinischen Leistungen. Der Anspruch umfasst auch die Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln, soweit diese mit Rücksicht auf die Dauer des Freiheitsentzugs nicht ungerechtfertigt sind und nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind.

Grundsätzlich ist in der Rechtsprechung geklärt, dass bei entsprechender medizinischer Indikation einem rückenkranken Strafgefangenen ein Anspruch auf eine optimierte Schlafunterlage zustehen kann (vgl. KG (2. Strafsenat), Beschluss vom 7. September 2017 – 2 Ws 122/17 Vollz – juris).

Insofern besteht – bei indizierter medizinischer Notwendigkeit – ein möglicher Anspruch des Beschwerdeführers auf die Zurverfügungstellung einer optimierten Schlafunterlage, dem hier nicht entsprochen worden ist. Daraus resultiert die Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung, was ebenfalls die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründet.

Insoweit hat es die Kammer unterlassen, aufzuklären, ob durch die Zurverfügungstellung einer zweiten Matratze eine hinreichende Behandlung des Antragstellers und seiner MS-Erkrankung gewährleistet ist. Zwar hat der Anstaltsarzt pp. in seinem Schreiben vom 20. August 2024 zum Ausdruck gebracht, dass anstelle einer dickeren Matratze mit dem Antragsteller die Verwendung einer zweiten Matratze vereinbart worden sei, was auch Dr. pp. bestätigt hat. Insoweit haben beide darauf verwiesen, dass keine spezielleren Matratzen in der JVA vorhanden seien.

Dieses enthebt die Kammer jedoch nicht von der Verpflichtung zu prüfen, ob aus medizinischer Sicht trotz der Zurverfügungstellung der zweiten Matratze weiterhin die Anschaffung einer orthopädischen Matratze als orthopädisches Hilfsmittel im Sinne des § 31 SGB VI erforderlich ist (vgl. hierzu Beschluss des Thüringer Landesozialgerichts vom 21. Juli 2015 – Az.: L 1 U  1625/13 B), beck-online).

Dieses wird die Kammer durch eine aussagekräftige – gegebenenfalls externe – ärztliche Stellungnahme, die bislang nicht vorliegt, zu klären haben. Die bisher vorliegenden Einschätzungen des Anstaltsarztes pp. und Dr. pp. sind hierzu jedenfalls nicht ausreichend.

Sollte dieses der Fall sein, wird die Kammer weiterhin zu prüfen haben, ob andere Gründe (bsp. Sicherheitsbedenken) einer Beschaffung entgegenstehen könnten und bei einer Entscheidung die Belange sowohl des Gefangenen als auch der JVA umfassend abzuwägen haben.“

Unfall I: Reparaturaufwand in der 130% Grenze, oder: Vortrag zum beiderseitigen erheblichen Verschulden

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Und dann zum Wochenschluss heute im „Kessel Buntes“, und zwar drei zivilrechtliche Entscheidungen. Alle drei haben Unfallschadenregulierungen zum Gegenstand.

ZUnächst habe ich hier zwei OLG-Entscheidungen, die sich mit der Schadenshöhe befassen. Es handelt sich um folgende Entscheidungen, von denen ich aber nur die Leitsätze vorstelle. Rest dann bitte selbst lesen:

1. Der Geschädigte kann den tatsächlich entstandenen Reparaturaufwand ersetzt verlangen, wenn es ihm gelingt, die Reparatur innerhalb der 130%-Grenze fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, um es nach der Reparatur weiter zu benutzen (Anschluss BGH, Urteil vom 16. November 2021 – VI ZR 100/20, Rn. 10, juris). Dies gilt auch dann, wenn das vorgerichtliche Schadengutachten den Unfallschaden infolge der Mitberücksichtigung von Vorschäden unzutreffend abbildet und sich die für den Kostenvergleich maßgeblichen Werte erst nachträglich im gerichtlichen Verfahren ergeben.

2. Bei der Prüfung, ob der tatsächlich entstandene Reparaturaufwand den Wiederbeschaffungswert um weniger als 130 % übersteigt, sind Reparaturkosten, die unfallunabhängige Schäden betreffen, nicht zu berücksichtigen.

Das erstinstanzliche Gericht übergeht bei der Beurteilung der Haftungsquoten eines Verkehrsunfalles den wesentlichen Vortrag einer Partei zum Grad des wechselseitigen Verschuldens, wenn es sich nicht mit der Frage auseinandersetzt, ob eines der Fahrzeuge bereits – ggf. auch längere Zeit – stand, als das andere erst anfuhr. Die Feststellung, dass beide Fahrzeuglenker ein erhebliches Verschulden treffe, enthebt das Gericht nicht der Notwendigkeit zu versuchen, den streitigen Unfallablauf anhand der angebotenen Zeugen vollständig aufzuklären.

OWi III: 4 x Entscheidungen zum Verfahrensrecht, oder: Zu späte Ablehnung, Vorhalt, Entlastungszeuge, Urteil

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Und zum Schluss dann noch ein paar Entscheidungen zu Verfahrensfragen, und zwar – zum Teil noch einmal:

    1.  Die gerichtliche Aufklärungspflicht im Hinblick auf die Ladung von Entlastungszeugen ist in den Fällen eingeschränkt, in denen der in der Hauptverhandlung anwesende Betroffene anhand eines bei der Tat gefertigten Lichtbildes nach Auffassung des Tatgerichts eindeutig identifiziert worden ist. Die Verpflichtung, in einem solchen Fall dennoch einen Zeugen zu laden, hängt dann von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.
    2. Im Fall der Identifizierung anhand eines Lichtbildes müssen die tatrichterlichen Urteilsgründe so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Belegfoto geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen.

Auch einem Urteil in Bußgeldsachen muss im Grundsatz zu entnehmen sein, ob und gegebenenfalls wie sich der Betroffene in der Hauptverhandlung geäußert hat oder ob er von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat.

    1. Entscheidet das Gericht über die Rechtsbeschwerde außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlusswege, so kann ein Ablehnungsgesuch nur so lange statthaft vorgebracht werden, bis die Entscheidung ergangen ist.
    2. Nichts anderes gilt, wenn die Ablehnung mit einer Gehörsrüge nach § 356a StPO verbunden wird, weil der Rechtsbehelf nicht dazu dient, einem unzulässigen Ablehnungsgesuch durch die unzutreffende Behauptung der Verletzung rechtlichen Gehörs doch noch Geltung zu verschaffen.
    3. Die nicht den Akteninhalt betreffenden Informations- und Einsichtsrechte leiten sich im Bußgeldverfahren nicht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ab.
    4. Der Zulassungsgrund des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (Verletzung rechtlichen Gehörs) ist auf nicht vom Wortlaut der Norm erfasste Verletzungen des Verfahrensrechts nicht entsprechend anwendbar.

Erklärt ein Zeuge auf einen Vorhalt hin, sich (weiterhin) nicht an die ihm vorgehaltenen Angaben in einer Urkunde zu erinnern, ist der Inhalt der Urkunde nicht verwertbar in die Hauptverhandlung eingeführt worden. Auch die Angabe, bei Durchführung der damaligen Vernehmung richtig protokolliert zu haben, führt in einem solchen Fall nicht dazu, dass die vorgehaltenen Angaben des Zeugen durch den Vorhalt in die Hauptverhandlung eingeführt werden und bei der Entscheidung verwertbar sind.

OWi I: Vernehmung eines „gestellten“ Zeugen, oder: Wer A sagt, muss auch mit einem Dolmetscher B sagen

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Nachdem ich Montag nur einen kleinen „OWi-Tag“ hatte, heute dann ein vollständiger. Es liegt im Moment aber auch nicht so viel an Rechtsprechung, über die man berichten könnte vor. Also: Ich kann Material gebrauchen.

Ich starte mit dem OLG Celle, Beschl. v. 21.09.2021 – 3 Ss (OWi) 220/21. Der Beschluss ist im Bußgeldverfahren ergangen, die verfahrensrechtliche Konstellation kann sich aber auch im Strafverfahren ergeben. Es geht um die unterbliebene Hinzuziehung eines Dolmetschers bei der Vernehmung eines Zeugen (§ 185 GVG, § 338 Nr. 5 StPO) Erfolg. Die Einzelheiten ergeben sich aus der Begründung des Beschlusses, mit dem das OLG aufgehoben hat:

„1. Das Rechtsbeschwerdevorbringen genügt den Begründungsanforderungen an eine solche Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG).

Der Beschwerdeführer hat vorgetragen, dass die Vorsitzende „seinen Beifahrer“ als Zeugen gefragt habe, ob er sicher sei, dass der Betroffene sein Handy nicht benutzt habe. Diese Frage habe er – der Beschwerdeführer – dem „k. Zeugen, der nur über sehr lückenhafte Deutschkenntnisse verfüge, übersetzt“. Das habe die Vorsitzende unterbunden. Sie habe sodann den Zeugen gefragt, ob er sich erinnern könne, wo die Verkehrskontrolle war, worauf der Zeuge nur „S.“ geantwortet habe. Daraufhin sei die Vernehmung beendet worden. Da der Beschwerdeführer den Zeugen „nicht als sprachunkundig angemeldet“ habe, sei ein Dolmetscher nicht anwesend gewesen.

Im Übrigen ergibt sich der maßgebliche Verfahrensgang aus den Urteilsgründen selbst (UA S. 4 unten, S. 5 oben). Danach hat der „vom Betroffenen mitgebrachte Zeuge R. J.“ mitgeteilt, dass er Beifahrer gewesen sei. Konkrete Erinnerungen an die Örtlichkeiten habe der Zeuge jedoch nicht mitteilen können. Ob es sich bei dem Zeugen tatsächlich um den Beifahrer gehandelt habe, habe auch nach Vernehmung der Polizeibeamten „nicht eindeutig verifiziert werden“ können. Aufgrund der „erheblichen Verständigungsprobleme“ sei auf eine „weitere Vernehmung verzichtet“ worden. Der Betroffene habe „keinen Beweisantrag“ gestellt.

2. Das Urteil unterliegt gemäß § 338 Nr. 5 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG der Aufhebung, weil entgegen § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, § 46 Abs. 1 OWiG an der Hauptverhandlung kein Dolmetscher für den Zeugen J. teilgenommen hat.

a) Nach § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG, der auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren gilt (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 22. Juli 2015 – 1 Ss (OWi) 118/15, NStZ 2015, 720), ist ein Dolmetscher hinzuzuziehen, wenn unter Beteiligung von Personen verhandelt wird, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Beteiligt in diesem Sinn sind alle Personen, mit denen eine Verständigung mittels der Sprache notwendig ist, dazu gehören auch Zeugen (BayObLG, Beschluss vom 24. September 2004 – 1 St RR 143/04, NStZ-RR 2005, 178 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 185 GVG Rn. 1).

Ausweislich des Protokolls war in der Hauptverhandlung ein Dolmetscher für den Zeugen J. nicht anwesend, obwohl sich nach den Urteilsfeststellungen während der Vernehmung des Zeugen „erhebliche Verständigungsprobleme“ zeigten, die das Gericht dazu veranlassten, auf eine „weitere Vernehmung“ zu verzichten. Unter derartigen Umständen ist gemäß § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG die Hinzuziehung eines Dolmetschers geboten, auch wenn sich deren Notwendigkeit erst im Verlauf der Vernehmung herausstellt (BayObLG aaO).

b) Eine andere Bewertung der Verfahrensweise ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich um einen mitgebrachten („sistierten“) Zeugen handelte und ein Beweisantrag nicht gestellt wurde.

Zwar gelten die besonderen Regeln für präsente Beweispersonen nach § 245 Abs. 2 StPO nur, wenn diese vom Betroffenen förmlich nach § 38 StPO unter Einschaltung eines Gerichtsvollziehers zur Hauptverhandlung geladen werden und zudem ein förmlicher Beweisantrag gestellt wird. Die Aufklärungspflicht des Gerichts (§ 77 Abs. 1 OWiG) wird durch § 245 Abs. 2 StPO indes nicht eingeschränkt. Wenn es der Sachaufklärung dient, muss das Gericht von Amts wegen jedes erreichbare Beweismittel ausschöpfen, auch wenn ein förmlicher Beweisantrag nicht gestellt wird oder die Anwesenheit der Beweisperson nicht in der gesetzlich geforderten Form bewirkt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juli 1981 – 1 StR 385/81, NStZ 1981, 401; Becker in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. § 245 Rn. 7).

Hier hat das Amtsgericht der Beweisanregung des Betroffenen stattgegeben und den von ihm mitgebrachten Zeugen J. vernommen. Es hat damit zu erkennen gegeben, dass es die Vernehmung des Zeugen für sachdienlich erachtet. Die Annahme, dass die Vernehmung des Zeugen der gebotenen Sachaufklärung dient, hat sich auch spätestens in dem Moment bestätigt, als der Zeuge bekundet hat, er sei Beifahrer des Betroffenen – mithin unmittelbarer Tatzeuge – gewesen. Vor diesem Hintergrund war es rechtlich geboten, die Vernehmung des Zeugen ordnungsgemäß und vollständig durchzuführen. Dass sich das Amtsgericht daran aufgrund erheblicher Verständigungsprobleme gehindert sah, rechtfertigt es nicht, die Vernehmung abzubrechen und den möglichen Entlastungsbeweis nicht weiter zu erheben. Die Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung gebietet auch die erschöpfende Nutzung der zugezogenen Beweismittel; gehörte Beweispersonen müssen so vernommen werden, dass sie ihr ganzes verfahrenserhebliches Wissen offenbaren (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 1997 – 4 StR 23/97, BGHSt 43, 63, 64; BayObLG aaO; Becker aaO § 244 Rn. 64 mwN). Das Unterbleiben einer erschöpfenden Vernehmung des Zeugen ergibt sich im vorliegenden Fall aus den Urteilsgründen selbst und ist deshalb der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ohne eine – regelmäßig unzulässige – Rekonstruktion der Beweisaufnahme zugänglich. Soweit das Gericht auf eine weitere Vernehmung verzichtet hat, nachdem der Zeuge „konkrete Erinnerungen an die Örtlichkeiten“ nicht habe mitteilen können, ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, ob und auf welche Weise das Gericht mit Blick auf die festgestellten erheblichen Verständigungsprobleme sichergestellt hat, dass der Zeuge die Frage richtig verstanden hat.

c) Da die Hauptverhandlung somit in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz (§ 185 Abs. 1 Satz 1 GVG) vorschreibt, stattgefunden hat, besteht der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (BayObLG aaO; Wickern in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. § 185 GVG Rn. 37). Dieser gilt nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG auch im Rechtsbeschwerdeverfahren (vgl. KK/OWiG-Hadamitzky § 79 Rn. 109 mwN).“

M.E. zutreffend. Denn „Wer A sagt, muss auch B“ sagen = wen sich das Gericht entschieden hat, den „gestellten“ Zeugen zu vernehmen, dann ist es an diese Entscheidung gebunden und kann dan nicht – ohne Gründe – davon abweichen, hier weil es ohne Dolmetscher zu schwierig wurde.