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U-Haft II: Nettostrafererwartung von noch 2 Jahren, oder: Das reicht immer noch für Fluchtgefahr

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Ich hatte vorhin ja schon in Zusammenhnag mit dem OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 – 4 Ws 302/22 – auf die Bedeutung der Straferwartung für die Frage der Fluchtgefahr hingewiesen (vgl. U-Haft I: Nachlässigkeiten begründen keine Flucht, oder: (Hohe) Straferwartung reicht allein nicht). Dem OLG hatten da bis zu rund 3 Jahre und 6 Monate drohende Freiheitsstrafe nicht für die Annahme von Fluchgefahr gereicht.

Dass es – leider – auch anders geht, zeigt der BGH, Beschl. v. 04.07.2022 – StB 27/22. Mit dem Beschluss hat der BGH über die Haftbeschwerde eines Angeklagten entschieden, der sich seit dem 16.07.2020 wegen 57 Fällen von Volksverhetzung und wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in U-Haft befindet. Der Angeklagte ist vom OLG zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war. Gegen das OLG-Urteil vom 27.05.2022 – hat der Angeklagte am 01.06.2022 Revision und gegen die Haftfortdauerentscheidung Beschwerde eingelegt. Er macht – wie bereits in vorangegangenen Schriftsätzen – geltend, dass er am sog. Messie-Syndrom erkrankt sei, weshalb er in seine Wohnung zu seinen Habseligkeiten zurückkehren wolle und nicht fliehen werde. Den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft hält er wegen des nahezu erreichten Halbstrafenzeitpunkts zudem für unverhältnismäßig.

Der BGH sieht das anders:

„2. Es besteht weiterhin Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es noch immer wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte im Fall der Freilassung dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen werde. In die gebotene Würdigung aller Umstände ist einzustellen, dass er bei hypothetischer Rechtskraft seiner Verurteilung in dieser Sache mit einer weiteren Inhaftierung von gut zwei Jahren zu rechnen hätte. Insoweit ist die zu verbüßende Zeit maßgeblich, die nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB verbleibt, und eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung zu bedenken. Selbst bei dem Zwei-Drittel-Termin des § 57 Abs. 1 StGB handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze, bei deren Erreichen der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stets ausscheidet. Dem Erstgericht, das allein einen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten aus der Hauptverhandlung gewonnen hat, kommt bei der diesbezüglichen Einschätzung ein Beurteilungsspielraum zu (BGH, Beschluss vom 20. April 2022 – StB 16/22, juris Rn. 11 mwN).

Vorliegend hat das Oberlandesgericht nachvollziehbar dargelegt, dass und warum es eine Strafaussetzung für unverantwortbar hält: Der Angeklagte habe in der Hauptverhandlung bis zuletzt antisemitische Hetze betrieben und den Holocaust geleugnet. Noch in seinem letzten Wort habe er unter anderem wörtlich ausgeführt, dass Juden weltweit ausgerottet werden müssten. Vor diesem Hintergrund wird einer Aussetzung aller Voraussicht nach das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit entgegenstehen (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB).

Die wiederholten staatsfeindlichen Äußerungen des Angeklagten, die sich in den abgeurteilten Straftaten und seinen zahlreichen Schreiben an den Senat finden, belegen zudem, dass er die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland und ihre Strafverfolgungsorgane zutiefst verachtet. Infolgedessen ist nicht zu erwarten, dass er bereit sein wird, Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen freiwillig Folge zu leisten.

Was die fluchthemmenden Umstände angeht, haben sich auch mit Blick auf das Vorbringen in der Haftbeschwerde keine entscheidungserheblichen Änderungen seit der Entscheidung des Senats vom 12. Januar 2022 ergeben. Die Sammelleidenschaft des Angeklagten hat ihn in der Vergangenheit ebenso wenig von Auslandsreisen abgehalten wie der Umstand, dass er langjähriger Sozialhilfeempfänger ist. Auf den Nichtabhilfebeschluss des Oberlandesgerichts wird insoweit ergänzend Bezug genommen.

Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

3. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor insbesondere mit Blick auf die zur Fluchtgefahr dargelegten Gründe nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der verhängten Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen ist nach der letzten Haftfortdauerentscheidung des Senats weiterhin ausreichend beachtet worden.“

U-Haft I: Nachlässigkeiten begründen keine Flucht, oder: (Hohe) Straferwartung reicht allein nicht

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Ich habe seit längerem keine Beschlüsse zur U-Haft mehr vorgestellt. Jetzt hat sich einiges angesammelt, das ich heute vorstellen möchte.

An der Spitze der („schöne“) OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.07.2022 – 4 Ws 302/22, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Der Kollege verteidigt in einem Verfahren wegen eines Vergewaltigungsverdachts. Der Angeklagte hat sich zunächst aufgrund eines auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls vom 03.07.2019 bis zum 02.09.2019 in Untersuchungshaft befunden.

Im ersten Rechtsgang hat das LG den Angeklagten mit Urteil vom 09.12. 2020 der Vergewaltigung schuldig gesprochen und ihn unter Einbeziehung anderweitig verhängter Geldstrafen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil des LG mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 29.10.2021 hat die nunmehr zuständige Strafkammer des LG den Haftbefehl vom 03.07.2019 mangels dringenden Tatverdachts sowie aus Verhältnismäßigkeitserwägungen aufgehoben. In der Folge wurde zur Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung ein aussagepsychologisches Sachverständigengutachten eingeholt, welches dann am 09.05.2022 bei Gericht einging.

Am 02.06.2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, gegen den Angeklagten einen neuerlichen Haftbefehl zu erlassen. Der Angeklagte sei aufgrund des zwischenzeitlich vorliegenden Gutachtens dringend tatverdächtig. Zudem bestehe der Haftgrund der Flucht. Der Angeklagte sei seit dem 07.03.2022 nicht auffindbar. Das LG hat sodann am 09.06.2022 gegen Angeklagten einen auf den Haftgrund der Flucht gestützten Haftbefehl erlassen. Mit Beschluss vom selben Tag hat das LG zudem das Verfahren wegen unbekannten Aufenthalts des Angeklagten vorläufig eingestellt. Zugleich verfügte der stellvertretende Kammervorsitzende die formlose Übersendung des Einstellungsbeschlusses an die Verfahrensbeteiligten. Diese Verfügung wurde am 13.06.2022 ausgeführt.

Nur zwei Tage später, am 15.06.2022, hat der Kollege dann der Strafkammer telefonisch mitgeteilt, dass es eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten gebe, unter der dieser auch erreicht werden könne. Diese Anschrift hat der Verteidiger sodann noch am selben Tag schriftsätzlich übermittelt. Daraufhin hat die Strafkammer eine polizeiliche Überprüfung der vom Verteidiger mitgeteilten Anschrift in Auftrag gegeben. Die Überprüfung hat ergeben, dass der Angeklagte dort tatsächlich wohnhaft war. Am Briefkasten war sein Name angebracht und eine Hausmitbewohnerin hat gegenüber den eingesetzten Polizeibeamten seine regelmäßige Anwesenheit bestätigt. Am 23.06.2022 nehmen Polizeikräfte den Angeklagten an der zuvor von seinem Verteidiger mitgeteilten Adresse fest. Der Angeklagte wurde zunächst dem AG vorgeführt, welches den Haftbefehl aufrecht erhielt und in Vollzug setzte. Nachdem der Angeklagte dies beantragt hatte, wurde er in der Folge am 01.07.2022 dem LG vorgeführt. Die Strafkammer hat Haftfortdauer angeordnet.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat. Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg. Das OLG bejaht den dringenden Tatverdacht, hat aber das Vorliegen eines Haftgrundes verneint. Der Angeklagte sei nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO (gewesen):

„2. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund. Der Angeklagte war nicht flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.

a) Zwar war der Angeklagte nicht nur in vorliegender Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar. Auch hat er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigt die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft jedoch nicht.

Denn der Haftgrund der Flucht ist nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr muss in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsortes erfolgt, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOk StPO/Krauß, 43. Ed., § 112, Rn. 18). Es muss sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – 2 Ws 343/16, BeckRS 2016, 110810, Rn. 42). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründet den Haftgrund der Flucht dagegen nicht.

b) Gemessen hieran erweist sich der angefochtene Beschluss als rechtsfehlerhaft.

Gegen ein zielgerichtetes Untertauchen spricht schon, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen anbrachte. Dies ergibt sich zum einen aus den vorgelegten Lichtbildern, zum anderen aber auch aus den im Rahmen der polizeilichen Anschriftenüberprüfung gewonnenen Erkenntnissen. Dass es sich nicht um eine Scheinanschrift handelte, belegen überdies die Angaben einer von den Polizeibeamten befragten Hausbewohnerin, die die regelmäßige Anwesenheit des Angeklagten in seiner Wohnung ausdrücklich bestätigte. Weiter konnte der Angeklagte problemlos und ohne dass es besonderer Fahndungsmaßnahmen bedurft hätte zeitnah an seiner Wohnanschrift festgenommen werden.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger unmittelbar nach dem Erlass des Einstellungsbeschlusses sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift mitteilen ließ. Er hat seine Wohnanschrift gegenüber dem Landgericht also nicht länger verschwiegen oder gar zu verheimlichen versucht, sondern diese im Gegenteil sogar aktiv offenbart.

All dies spricht gegen die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte habe es zumindest billigend in Kauf genommen, dass das Verfahren gegen ihn aufgrund seines Wohnsitzwechsels nicht durchgeführt werden kann, zumal sein Aufenthaltsort vor Erlass des Haftbefehls leicht über eine Anfrage bei seinem Verteidiger hätte abgeklärt werden können.

3. Darüber hinaus sind auch keine anderen Haftgründe ersichtlich.

Verdunkelungsgefahr liegt ersichtlich nicht vor und es sind auch keine hinreichend konkreten Tatsachen ersichtlich, auf die die Annahme von Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte. Zwar hat der Angeklagte im Fall der Verurteilung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen, wenngleich dann im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen wäre, dass die Tat zwischenzeitlich mehr als drei Jahre zurückliegt. Zudem vermag die Straferwartung alleine Fluchtgefahr ohnehin nicht zu begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112, Rn. 24). Darüber hinaus hat sich der Angeklagte — wohl wissend, dass ihm eine erhebliche, nicht mehr bewährungsfähige Freiheitsstrafe droht — dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere ist er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen, ohne dass dies durch Zwangsmaßnahmen sichergestellt werden musste. Der Umstand, dass er sich an zwei Verhandlungstagen nicht unerheblich verspätete, rechtfertigt die Annahme von Fluchtgefahr nicht.

Weiter kommt hinzu, dass der Angeklagte auch dann keine Fluchtvorbereitungen traf, als der stellvertretende Vorsitzende in einem mit dem Verteidiger geführten Telefonat am 1. Ju-ni 2022 signalisierte, dass eine Strafe im bewährungsfähigen Bereich aus Sicht der Straf-kammer wohl nicht in Betracht komme. Dennoch ließ der Angeklagte, unmittelbar nachdem der Einstellungsbeschluss ergangen war, von seinem Verteidiger seine aktuelle Anschrift mitteilen. Auch blieb er in der Folge dort aufhältig. Fluchtgefahr scheidet deshalb aus.“

Der Entscheidung ist nichts hinzuzufügen, außer, dass sie zutreffend ist. Sie ist zudem ein schöner Beweis, dass die Kontrollmechanismen auch im Haftrecht (noch) funktionieren. Man ist zudem erfreut über den Hinweis des Senats an die Strafkammer, dass man die Anschrift des Angeklagten beim Verteidiger hätte abklären können. Das OLG geht also wohl von der Notwendigkeit eines solchen Anfrage aus, wobei dahin gestellt bleiben soll, ob darauf eine Antwort erfolgt. Aber: Fragen kann man ja mal.

Zu begrüßen ist auch die Auffassung des OLG, dass alleine die – eine „hohe“ – Straferwartung nicht ausreicht, um die Fluchtgefahr zu begründen. Dabei geht es hier – die Vorstellungen der Strafkammer als richtig unterstellt – um ein Strafe von mehr als zwei Jahre bis zu der im ersten Rechtsgang verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen. Das ist eine Strafhöhe, bei der andere Gerichte ohne Probleme Fluchtgefahr angenommen hätten. Dazu nachher mehr.

U-Haft I: Mehr als 2 Jahren U-Haft noch verhältnismäßig, oder: Straferwartung nur noch mehrere Monaten

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Am heutigen Donnerstag mache ich dann mal einen Hafttag. Den hatten wir schon länger nicht mehr.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 20.04.2022 – StB 16/22. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten in einem Haftbefehl des OLG Stuttgart Unterstützung einer Vereinigung i.S. des § 129 Abs. 2 StGB), deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB), sowie tatmehrheitlich (§ 53 StGB) hierzu unerlaubt Munition und eine verbotene Hieb- und Stoßwaffe besessen (§ 52 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB) zur Last gelegt wird.

Der Angeklagte wurde am 14.02.2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15.02.2020 ununterbrochen in U-Haft. Der BGH hat im September und Dezember 2020 und dann noch einmal im März 2021 im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Anklage ich am 04.11.2020 erhoben worden. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13.04.2021 an.

Der Angeklagte hat jetzt durch seine Verteidiger beantragt, den Haftbefehl des OLG aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag hat das OLG abgelehnt. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Er wendet sich u.a. auch gegen die Annahme der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft. Das OLG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der BGH hat die Beschwerde verworfen. Er führt zur Verhältnismäßigkeit aus:

„4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung ist nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss – unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt unter anderem, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 Rn. 57 f.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).

b) An diesen Maßstäben gemessen, ist die weitere Inhaftierung des Angeklagten derzeit noch gerechtfertigt.

aa) Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind, wie vom Oberlandesgericht im Haftbefehl und im Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt, bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche (zu diesem Erfordernis s. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet.

bb) Die verbleibende Straferwartung beträgt immerhin noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. KG, Beschluss vom 31. August 2007 – 1 AR 1207/071 Ws 146/07, NStZ-RR 2008, 157; KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 mwN; MüKoStPO/Böhm, § 120 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 4).

Zudem hat der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421, 426).

Nach allem ist die Untersuchungshaft des Angeklagten trotz ihrer erheblichen Dauer von inzwischen über zwei Jahren derzeit noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht wird als das mit der Sache befasste Tatgericht jedoch im Blick behalten müssen, ab wann die Inhaftierung des Angeklagten die voraussichtlich von ihm zu verbüßende Haftzeit überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt stünde die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aller Voraussicht nach außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe. Das gilt besonders dann, wenn bis dahin der Abschluss des Verfahrens nicht absehbar sein sollte.“

Pflichti II: Bestellung im JGG-Verfahren wegen BtM, oder: Schwierge Sachlage, wenn viele Polizeizeugen

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Im zweiten Posting dann etwas zur Schwere der Tat i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Zunächst der Hinweis auf den LG Mannheim, Beschl. v. 16.02.2022 – 7 Qs 9/22. Das LG hat in einem JGG-Verfahren mit dem Vorwurf des Handeltreibens mit BtM, und zwar u.a. gewerbsmäßig, einen Pflichtverteidiger bestellt. Hier die Begründung:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO vor, da zumindest die Schwere der Tat eine Beiordnung rechtfertigt.

Aufgrund der bisherigen Ermittlungen, insbesondere aber aufgrund der Angaben des Beschuldigten im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung vom 15.04.2021, in der er umfassende Angaben zu seinen bisherigen Drogengeschäften gemacht hat, werden dem Beschuldigten derzeit mehr als 80 Fälle des Erwerbs von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum (jeweils 1 -g Marihuana) sowie mehr als 15 Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (mit einer Gesamtmenge von rund 600 g Marihuana) zur Last gelegt, wobei. bzgl. des Handeltreibens von einer gewerbsmäßigen Begehungsweise im Sinne des § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG auszugehen ist (vgl. die Übersicht der Staatsanwaltschaft Mannheim vom 22.12.2021, BI. 74 u. 75). Die Taten soll er im Zeitraum von Januar 2020 bis März 2021 jeweils über einen Zeitraum von mehreren Monaten begangen haben.

Abgesehen davon, dass Dauer und Umfang der Taten durchaus Raum für die Annähme des Vorliegens schädlicher Neigungen lassen und damit ggf. auch an die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu denken wäre, sind die Taten des gewerbsmäßigen Handeltreibens als solche aufgrund des – jedenfalls im Erwachsenenstrafrecht geltenden – Regelstrafrahmens von mindestens einem Jahr als schwer anzusehen.

Der Gesetzgeber hat sich durch die Neugestaltung des § 140 Abs. 2 StPO bewusst von der reinen Ausrichtung der Schwere der Tat nach der zu. erwartenden Rechtsfolge gelöst und die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge als eigenständige Voraussetzung normiert- damit kommt der Schwere der Tat ein eigenständiger Anwendungsbereich zu, der nur in der Schwere des Tatvorwurfs liegen kann (vgl. BeckOK/Noah JGG § 68 RN 13; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68 RN.24). Dass eine Tat; die – wenn gleich als Regelbeispiel – grds. mit einer Mindeststrafe von einem Jahr, bedroht ist, als schwer anzusehen ist, liegt auf der Hand, zumal wenn wie im vorliegenden Fall die Tat wiederholt begangen worden ist.

Zudem ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu beachten, dass diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und des geistigen und körperlichen Entwicklungsprozesses, in dem sie sich befinden, weit Weniger als-Erwachsene in der Lage sind, die Abläufe und Tragweite eines Strafverfahrens, insbesondere auch für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung ab-zu schätzen und sich dementsprechend zu verteidigen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet deshalb eine diesem Umstand gerecht werdende – in Rspr. und Lit. auch als „großzügig und extensiv“ bezeichnete (vgl. OLG Schleswig-Holstein StraFo 2009, 28; OLG Hamm StV 2008, 120; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2007, 282; OLG Brandenburg NStZ 2002, 184; OLG Hamm StraFo 2002, 293; Beck9K/Noah JGG § 68 RN 12; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68. RN 23; Ostendorf, JGG, 11. Aufl. § 68 .RN 7f), jeweils m.w.N.) – Anwendung des § 68 Abs. 1 .Nr. 1 JGG. Im vorliegenden Fall ist nicht nur zu‘ berücksichtigen, dass der Beschuldigte erst vor wenigen Tagen 18 Jahre alt geworden ist, sondern auch, dass es sich bei ihm – was der regelmäßige und relativ intensive Drogenkonsum nahelegt – durchaus um eine instabile Persönlichkeit handeln könnte.

Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Versagung der Beiordnung, auch eine dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG nicht entsprechende Privilegierung erwachsener Straftäter darstellen würde. Maßgeblich ist nach §.68 Abs. 1 Nr. 1 JGG, ob im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde; davon wäre, bei einem Erwachsenen bei vergleichbaren Tatvorwürfen ohne Weiteres auszugehen. Dass im Jugendstrafrecht im Hinblick auf die Entwicklung jugendlicher Straftäter ein breites Spektrum von. Rechtsfolgen vorgesehen ist und diese Rechtsfolgen nicht mit der Eingriffsintensität von Geld-. oder Freiheitsstrafen verlieren sind, rechtfertigt nicht, den jugendlichen Täter allein aufgrund der geringeren Rechtsfolgenerwartung schlechter als den Erwachsenen zu stellen.“

Und zur Abrundung dann noch der LG Düsseldorf, Beschl. v. 14.02.2022 – 18 Qs 9/22. Es handelt sich um einen „Polizeizeugenfall“. Das LG hat bestellt. Hier der Leitsatz:

Ein Fall der notwendigen Verteidigung unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann aufgrund der zu erwartenden umfangreicheren Beweisaufnahme durch Vernehmung einer Vielzahl von Polizeizeugen anzunehmen sein.

Pflichti III: Beiordnungsgrunde „Schwere der Tat“, oder: Gesamtstrafenfall

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Und zum Schluss dann noch ein Beschluss zu den Beiordnungsgründen des § 140 Abs. 2 StPO, und zwar „Schwere der Tat“ in Zusammenhnag mit der Gesamtstrafenfähigkeit. Dem Verfahren lag zwar auch eine „Rückwirkungsproblematik“ zugrunde. Die wird im LG Hannover, Beschl. v. v. 16.06.2021 – 63 Qs 23/21 – elegant „umschifft“. Das LG lässt die Frage offen und lehnt die Bestellung (schon) aus sachlichen Gründen ab:

„Ob eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ausnahmsweise erfolgen kann, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde, kann vorliegend indes dahinstehen, da bereits kein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 StPO gegeben war. Insoweit kam allenfalls eine Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht, da ausweislich der Ausführungen des Verteidigers gegen den Beschwerdeführer ein weiteres Strafverfahren anhängig ist und zwischenzeitlich wegen eines Verbrechensvorwurfs Anklage zum Schöffengericht erhoben wurde. Gleichwohl lagen bereits zu dem Zeitpunkt, als der Beiordnungsantrag gestellt wurde, die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nicht vor.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war der Verdacht des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln durch das Bestellen von Hanfblütentee mit einem THC-Gehalt von weniger als 0,2 Gramm. Der Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG sieht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Zusätzlich lag der fakultative Strafmilderungsgrund des § 23 Abs. 2 StGB vor. Zwar ist der Beschwerdeführer bislang vielfach und vor allem auch einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat bereits Jugendstrafe verbüßt. Bisher erfolgte allerdings „lediglich“ eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht wegen eines am 11.04.2019 erfolgten unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,00 Euro. Daher ist insgesamt davon auszugehen, dass im vorliegenden Verfahren eine relativ geringe Straferwartung gegeben war, so dass allein aus diesem Grund kein Anlass für eine Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge bestand.

Auch der Umstand, dass aus der Strafe, die im vorliegenden Verfahren in Betracht gekommen wäre, und der Strafe, die in dem anhängigen Verfahren im Falle einer Verurteilung zu erwarten ist. eine Gesamtstrafe zu bilden gewesen wäre, rechtfertigt keine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO.

Zwar ist insoweit zu berücksichtigen, dass eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin geben sollte, wobei diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafen-bildung erreicht wird (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 140 Rdnr. 23a). Zu beachten ist insoweit aber auch, dass es sich hierbei um keine starren Grenzen handelt. Ein Delikt mit geringfügiger Straferwartung begründet nicht allein deshalb einen Anwendungsfall des § 140 Abs. 2 StPO, weil die Strafe später voraussichtlich in eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr einzubeziehen sein wird (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.). Es bedarf vielmehr der Prüfung im Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen. dass die Mitwirkung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin geboten ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 — 2 Ws 37/12 —, Rdnr. 7 bei juris). Dies war zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht der Fall. Selbst wenn es in dem vorliegenden und dem nunmehr zur Anklage gebrachten Verfahren zu einer Verurteilung und Gesamtstrafenbildung gekommen wäre, hätte die in diesem Verfahren zu erwartende Strafe die in dem weiteren Verfahren zu erwartende Strafe nur geringfügig erhöht. Im Vorverfahren bestand daher noch keine Veranlassung einer Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge.“