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Pflichti II: Bestellung im JGG-Verfahren wegen BtM, oder: Schwierge Sachlage, wenn viele Polizeizeugen

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Im zweiten Posting dann etwas zur Schwere der Tat i.S. des § 140 Abs. 2 StPO.

Zunächst der Hinweis auf den LG Mannheim, Beschl. v. 16.02.2022 – 7 Qs 9/22. Das LG hat in einem JGG-Verfahren mit dem Vorwurf des Handeltreibens mit BtM, und zwar u.a. gewerbsmäßig, einen Pflichtverteidiger bestellt. Hier die Begründung:

„Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO vor, da zumindest die Schwere der Tat eine Beiordnung rechtfertigt.

Aufgrund der bisherigen Ermittlungen, insbesondere aber aufgrund der Angaben des Beschuldigten im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung vom 15.04.2021, in der er umfassende Angaben zu seinen bisherigen Drogengeschäften gemacht hat, werden dem Beschuldigten derzeit mehr als 80 Fälle des Erwerbs von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum (jeweils 1 -g Marihuana) sowie mehr als 15 Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (mit einer Gesamtmenge von rund 600 g Marihuana) zur Last gelegt, wobei. bzgl. des Handeltreibens von einer gewerbsmäßigen Begehungsweise im Sinne des § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG auszugehen ist (vgl. die Übersicht der Staatsanwaltschaft Mannheim vom 22.12.2021, BI. 74 u. 75). Die Taten soll er im Zeitraum von Januar 2020 bis März 2021 jeweils über einen Zeitraum von mehreren Monaten begangen haben.

Abgesehen davon, dass Dauer und Umfang der Taten durchaus Raum für die Annähme des Vorliegens schädlicher Neigungen lassen und damit ggf. auch an die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu denken wäre, sind die Taten des gewerbsmäßigen Handeltreibens als solche aufgrund des – jedenfalls im Erwachsenenstrafrecht geltenden – Regelstrafrahmens von mindestens einem Jahr als schwer anzusehen.

Der Gesetzgeber hat sich durch die Neugestaltung des § 140 Abs. 2 StPO bewusst von der reinen Ausrichtung der Schwere der Tat nach der zu. erwartenden Rechtsfolge gelöst und die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge als eigenständige Voraussetzung normiert- damit kommt der Schwere der Tat ein eigenständiger Anwendungsbereich zu, der nur in der Schwere des Tatvorwurfs liegen kann (vgl. BeckOK/Noah JGG § 68 RN 13; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68 RN.24). Dass eine Tat; die – wenn gleich als Regelbeispiel – grds. mit einer Mindeststrafe von einem Jahr, bedroht ist, als schwer anzusehen ist, liegt auf der Hand, zumal wenn wie im vorliegenden Fall die Tat wiederholt begangen worden ist.

Zudem ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu beachten, dass diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und des geistigen und körperlichen Entwicklungsprozesses, in dem sie sich befinden, weit Weniger als-Erwachsene in der Lage sind, die Abläufe und Tragweite eines Strafverfahrens, insbesondere auch für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung ab-zu schätzen und sich dementsprechend zu verteidigen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet deshalb eine diesem Umstand gerecht werdende – in Rspr. und Lit. auch als „großzügig und extensiv“ bezeichnete (vgl. OLG Schleswig-Holstein StraFo 2009, 28; OLG Hamm StV 2008, 120; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2007, 282; OLG Brandenburg NStZ 2002, 184; OLG Hamm StraFo 2002, 293; Beck9K/Noah JGG § 68 RN 12; Eisenberg/Kölbel JGG, 22. Aufl. § 68. RN 23; Ostendorf, JGG, 11. Aufl. § 68 .RN 7f), jeweils m.w.N.) – Anwendung des § 68 Abs. 1 .Nr. 1 JGG. Im vorliegenden Fall ist nicht nur zu‘ berücksichtigen, dass der Beschuldigte erst vor wenigen Tagen 18 Jahre alt geworden ist, sondern auch, dass es sich bei ihm – was der regelmäßige und relativ intensive Drogenkonsum nahelegt – durchaus um eine instabile Persönlichkeit handeln könnte.

Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Versagung der Beiordnung, auch eine dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG nicht entsprechende Privilegierung erwachsener Straftäter darstellen würde. Maßgeblich ist nach §.68 Abs. 1 Nr. 1 JGG, ob im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde; davon wäre, bei einem Erwachsenen bei vergleichbaren Tatvorwürfen ohne Weiteres auszugehen. Dass im Jugendstrafrecht im Hinblick auf die Entwicklung jugendlicher Straftäter ein breites Spektrum von. Rechtsfolgen vorgesehen ist und diese Rechtsfolgen nicht mit der Eingriffsintensität von Geld-. oder Freiheitsstrafen verlieren sind, rechtfertigt nicht, den jugendlichen Täter allein aufgrund der geringeren Rechtsfolgenerwartung schlechter als den Erwachsenen zu stellen.“

Und zur Abrundung dann noch der LG Düsseldorf, Beschl. v. 14.02.2022 – 18 Qs 9/22. Es handelt sich um einen „Polizeizeugenfall“. Das LG hat bestellt. Hier der Leitsatz:

Ein Fall der notwendigen Verteidigung unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann aufgrund der zu erwartenden umfangreicheren Beweisaufnahme durch Vernehmung einer Vielzahl von Polizeizeugen anzunehmen sein.

Pflichti III: Beiordnungsgrunde „Schwere der Tat“, oder: Gesamtstrafenfall

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Und zum Schluss dann noch ein Beschluss zu den Beiordnungsgründen des § 140 Abs. 2 StPO, und zwar „Schwere der Tat“ in Zusammenhnag mit der Gesamtstrafenfähigkeit. Dem Verfahren lag zwar auch eine „Rückwirkungsproblematik“ zugrunde. Die wird im LG Hannover, Beschl. v. v. 16.06.2021 – 63 Qs 23/21 – elegant „umschifft“. Das LG lässt die Frage offen und lehnt die Bestellung (schon) aus sachlichen Gründen ab:

„Ob eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ausnahmsweise erfolgen kann, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde, kann vorliegend indes dahinstehen, da bereits kein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 StPO gegeben war. Insoweit kam allenfalls eine Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht, da ausweislich der Ausführungen des Verteidigers gegen den Beschwerdeführer ein weiteres Strafverfahren anhängig ist und zwischenzeitlich wegen eines Verbrechensvorwurfs Anklage zum Schöffengericht erhoben wurde. Gleichwohl lagen bereits zu dem Zeitpunkt, als der Beiordnungsantrag gestellt wurde, die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge nicht vor.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens war der Verdacht des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln durch das Bestellen von Hanfblütentee mit einem THC-Gehalt von weniger als 0,2 Gramm. Der Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG sieht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Zusätzlich lag der fakultative Strafmilderungsgrund des § 23 Abs. 2 StGB vor. Zwar ist der Beschwerdeführer bislang vielfach und vor allem auch einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat bereits Jugendstrafe verbüßt. Bisher erfolgte allerdings „lediglich“ eine Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht wegen eines am 11.04.2019 erfolgten unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,00 Euro. Daher ist insgesamt davon auszugehen, dass im vorliegenden Verfahren eine relativ geringe Straferwartung gegeben war, so dass allein aus diesem Grund kein Anlass für eine Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge bestand.

Auch der Umstand, dass aus der Strafe, die im vorliegenden Verfahren in Betracht gekommen wäre, und der Strafe, die in dem anhängigen Verfahren im Falle einer Verurteilung zu erwarten ist. eine Gesamtstrafe zu bilden gewesen wäre, rechtfertigt keine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO.

Zwar ist insoweit zu berücksichtigen, dass eine Straferwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin geben sollte, wobei diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer Gesamtstrafen-bildung erreicht wird (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 140 Rdnr. 23a). Zu beachten ist insoweit aber auch, dass es sich hierbei um keine starren Grenzen handelt. Ein Delikt mit geringfügiger Straferwartung begründet nicht allein deshalb einen Anwendungsfall des § 140 Abs. 2 StPO, weil die Strafe später voraussichtlich in eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr einzubeziehen sein wird (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.). Es bedarf vielmehr der Prüfung im Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen. dass die Mitwirkung eines Verteidigers bzw. einer Verteidigerin geboten ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 — 2 Ws 37/12 —, Rdnr. 7 bei juris). Dies war zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht der Fall. Selbst wenn es in dem vorliegenden und dem nunmehr zur Anklage gebrachten Verfahren zu einer Verurteilung und Gesamtstrafenbildung gekommen wäre, hätte die in diesem Verfahren zu erwartende Strafe die in dem weiteren Verfahren zu erwartende Strafe nur geringfügig erhöht. Im Vorverfahren bestand daher noch keine Veranlassung einer Beiordnung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge.“

Pflicht I: Bestellung wegen „Schwere der Tat“, oder: Grenze bei einem Jahr Straferwartung

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Heute dann drei Pflichtverteidigerentscheidungen. Zunächst stelle ich den KG, Beschl. v. 13.12.2018 –  3 Ws 290/18 vor. Nichts Dreamatisches, sondern einfach noch einmal die Erinnerung an die Bestellsvoraussetzungen wegen „Schwere der Tat“. Und es gilt: Die Grenze liegt bei einem Jahr Straferwartung, und zwar auch wenn die Grenze erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt:

„Nach gefestigter Rechtsprechung ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers in der Regel geboten, wenn dem Angeklagten die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt (vgl. KG StV NStZ-RR 2013, 116; 1982, 412; OLG Naumburg StV 2013. 433; Laufhütte in KK-StPO, 7. Auflage, § 140 Rn. 21; Lüderssen/Jahn in LR-StPO 26. Aufl., § 140 Rn. 57; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt. StPO 61. Aufl. § 140 Rdn. 23; alle mwN). Neben der dem Angeklagten hier drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung aber auch sonstige schwerwiegenden Nachteile zu berück-sichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat (vgl. OLG Hamm StV 2004, 586). Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Oktober 2016 – (3) 161 Ss 162/16 (88/16) – juris m.w.N.; KG, Beschluss vom 6. Januar 2017 – 4 Ws 212/16 – juris).

Neben der hier verfahrensgegenständlichen Tat wird dem Angeklagten mit – dem Kammervorsitzenden bei Beschlussfassung unbekannter – Anklage der Staatsanwaltschaft Berlin vom 9. Oktober 2018 – 283 Js 2 5/18 – vorgeworfen, am 30. Dezember 2017 eine gefährliche Körperverletzung und am 9. Juni 2018 eine Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung begangen zu haben. In der gebotenen Gesamtschau ist zu erwarten, dass gegen den Angeklagten im Falle eines den An-klagevorwürfen entsprechenden Schuldspruchs – gegebenenfalls im Verfahren nach § 460 StPO – eine Gesamtfreiheitstrafe von mindestens einem Jahr verhängt werden wird.“

Da muss man also schon mal ein wenig rechnen 🙂 .

Und: Zu der Problematik dann auch: LG Halle, Beschl. v. 23.11.2018 – 10a Qs 132/18.

22 Monaten Strafe reichen nicht, oder: Die Straferwartung und die Fluchtgefahr

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Und zum Abschluss dann noch eine Haftentscheidung. Die kommt vom OLG Dresden. Das hat im OLG Dresden, Beschl. v. 11.12.2017 – 1 Ws 326/17 – die Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) verneint. Begründung: Auch die drohende Vollstreckung einer (weiteren) Freiheitsstrafe von 14 Monaten reicht bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von rund acht Monaten nicht für die Annahme von Fluchgefahr. Aus der interessanten Begründung:

„2. Allerdings liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr nicht vor.

Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht dann, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich aus bestimmten Tatsachen ergeben müssen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Angeklagte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich ihm zur Verfügung halten (OLG Hamm StV 2003, 170; OLG Köln StV 1996, 390). Die Frage, ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, erfordert die sorgfältige Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falls (OLG Hamm, a.a.O.) Gemessen an diesen Umständen ist der Haftgrund der Fluchtgefahr beim Angeklagten nicht zu bejahen.

a) Die Verurteilung des Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und einer Woche ist nicht geeignet, einen erheblichen Fluchtanreiz darzustellen, zumal derzeit durch die anzurechnende Untersuchungshaft bereits mehr als zwei Drittel der Strafe vollstreckt sind. Damit ist die Strafe, die wegen der dem Haftbefehl zugrundeliegenden Taten gegen den Angeklagten verhängt worden ist, aber nicht geeignet, die Fluchtgefahr zu begründen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Staatsanwaltschaft gegen das amtsgerichtliche Urteil zu Lasten des Angeklagten Berufung, die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist, eingelegt hat. Die Staatsanwaltschaft hat erstinstanzlich eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten und einer Woche beantragt, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass in der Berufungsinstanz eine darüber hinausgehende Strafe verhängt wird. Selbst für den Fall, dass das Berufungsgericht die von der Staatsanwaltschaft beantragte höhere Gesamtfreiheitsstrafe verhängen würde, lässt sich hieraus unter Berücksichtigung der bereits verbüßten Untersuchungshaft ein die Fluchtgefahr begründender Strafrest nicht. Im übrigen ist nicht zu besorgen, dass der Angeklagte, der vor seiner Inhaftierung im Übergangswohnheim des Vereins für soziale Rechtspflege e.V. aufhältig gewesen ist, dort zukünftig nicht erreichbar wäre. Angesichts dessen kommt dem Umstand, dass der Angeklagte nach seinen Angaben gelegentlich Marihuana konsumiert, für die Beurteilung des Vorliegens von Fluchtgefahr nur untergeordnete Bedeutung zu.

b) Etwas anderes gilt auch nicht unter Berücksichtigung der Vorstrafen des Angeklagten und des Umstandes, dass dieser wegen mehrerer Verurteilungen unter Bewährung steht. Zwar hat der Angeklagte die dem Haftbefehl zugrundeliegenden Taten nur kurze Zeit nach der letzten Haftentlassung und während laufender Bewährungszeiten begangen, so dass er mit dem Widerruf der Bewährungen und einer zusätzlichen Straferwartung von ca. einem Jahr und zwei Monaten zu rechnen hat. Diese Straferwartung stellt aber – für sich genommen – noch keinen Umstand dar, der vorliegend den Haftgrund der Fluchtgefahr begründen könnte. Zwar kann die aufgrund eines möglichen Bewährungswiderrufs zu erwartende Strafe im Rahmen der Prüfung, ob Fluchtgefahr beim Angeklagten vorliegt, grundsätzlich berücksichtigt werden. Dieser Umstand ist jedoch immer nur ergänzend heranzuziehen und setzt voraus, dass – was hier nicht der Fall ist- die wegen der haftbefehlsgegenständlichen Taten zu erwartende Strafe zumindest einen gewissen Fluchtanreiz und damit einen Fluchtgefahr begründenden Umstand darstellt. Ansonsten, wenn der Haftgrund ausschließlich auf – wegen möglicher Bewährungswiderrufe im Raum stehende – Freiheitsstrafen gestützt wird, würde dies eine Umgehung der Vorschrift des S 453c Abs. 1 StPO bedeuten. Die Vollstreckung der Untersuchungshaft würde dann nicht mehr der Sicherung des vorliegenden Strafverfahrens und der Vollstreckung der daraus resultierenden Strafe dienen.

Im übrigen weist der Senat daraufhin, dass der Angeklagte die ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Taten vor dem Amtsgericht geständig eingeräumt und seine Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat, so dass es – auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 MRK; vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl., § 56f Rdnrn. 4ff. m.w.N.) – spätestens ab diesem Zeitpunkt möglich gewesen wäre, eine Entscheidung über den Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Strafreste oder zumindest den Erlass eines Sicherungshaftbefehls herbeizuführen.“

Das ist auch mal wieder so ein Beschluss, bei dem ich mich frage. Warum braucht man dafür ein OLG?

U-Haft II: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafenaussetzung – so geht es beim BGH

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Im ersten Posting des heutigen Tages: U-Haft I: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafaussetzung, oder: Olle Kamellen ging es um den KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16. Dieses Posting betrifft jetzt den BGH, Beschl. v. 02.11.2016 –   StB 35/16, der in einem Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a. ergangen ist, geht es auch um die Frage der U-Haft und des Haftgrundes der Fluchtgefahr. Die Problematik ist ähnlich wie in dem KG, beschl. v. 13.09.2016. Der BGH:

2.a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nach Verurteilung des Angeklagten zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sowie fast zehneinhalbmonatigem Untersuchungshaftvollzug fort.

Von der Straferwartung, die sich nach der Verurteilung des Angeklagten auf die verhängte Jugendstrafe konkretisiert hat (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 52), geht weiterhin ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus. Zwar nimmt der Angeklagte im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend an, dass hierfür die sog. Nettostraferwartung maßgebend ist, so dass von dem festgelegten Strafmaß neben der vollzogenen Untersuchungs-haft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) eine wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe in Abzug zu bringen sein kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 23; MüKoStPO/Böhm/Werner aaO, Rn. 53). Dem Angeklagten ist jedoch nicht darin zu folgen, dass er mit einer Reststrafenaussetzung tatsäch-lich rechnen kann. Das gilt unabhängig davon, ob § 88 JGG oder § 57 StGB zur Anwendung kommt (zur Frage des gesetzlichen Maßstabs im Fall einer Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft [§ 85 Abs. 6, § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG] vgl. die Nachweise bei OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 2015 – III-2 Ws 33/15, juris Rn. 17 f.; MüKoStGB/Groß, 3. Aufl., § 57 Rn. 9 Fn. 25).

Wie bereits das Kammergericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend ausgeführt hat, spricht schon das Vollzugsverhalten des Angeklagten gegen eine Reststrafenbewährung. Er hat in mindestens fünf Fällen an ver-schiedenen Tagen in den Monaten April bis Juni 2016 gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstoßen, dabei mehrfach Bedienstete beleidigt und in einem Fall bei Widerstandshandlungen versucht, Bedienstete durch Kopfstöße und Fußtritte zu verletzen.

Auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit steht jedenfalls derzeit einer Reststrafenaussetzung entgegen; denn nach den Ausführungen des Kammergerichts war in der Hauptverhandlung nicht erkennbar, dass sich der Angeklagte von seiner jihadistischen Grundeinstellung wirklich distanziert hätte. Auf diese Beurteilung der Geisteshaltung des Angeklagten kommt es für den Senat als Beschwerdegericht in besonderer Weise an; denn der Senat selbst hat keinen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen. Hinzu kommt, dass die Annahme der Fluchtgefahr kein sicheres Wissen um die sie begründenden Tatsachen voraussetzt. Sie müssen gerade nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen; insoweit genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie bei der Annahme des dringenden Tatverdachts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 22 mwN).

Die Umstände, die gegen eine zu erwartende Reststrafenaussetzung sprechen, vergrößern zugleich die Besorgnis, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entzieht, weil sie Zweifel an seiner Zuverlässigkeit begründen. Soweit die Beschwerde auf das vom Angeklagten in der Hauptverhandlung an den Tag gelegte Wohlverhalten gegenüber dem Gericht verweist, deutet dies nur darauf hin, dass er willens und fähig ist, sein Verhalten nach Zweckmäßig-keitsgesichtspunkten zu steuern, zumal er sich Bediensteten der Justizvoll-zugsanstalt gegenüber auch über Richter abfällig äußerte.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte auch türkischer Staatsangehöriger ist, über Fremdsprachenkenntnisse und Auslandskontakte verfügt, sich von September 2009 bis Dezember 2015 im Ausland aufhielt und trotz des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2012 nicht ergriffen werden konnte. Diesbezüglich verweist der Senat auf die Ausführungen im Haftbefehl des Kammergerichts vom 20. Mai 2016 und in dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 4. Oktober 2016.

Den benannten die Fluchtgefahr begründenden Umständen stehen auch mit Blick darauf, dass sich der Angeklagte selbst stellte und mittlerweile wieder über stabile familiäre Bindungen in Deutschland verfügt, hinreichend gewichtige fluchthindernde Umstände nicht entgegen.

Nach alledem kann dahinstehen, inwieweit, wie das Kammergericht meint, weitere gegen den Angeklagten geführte, noch offene Ermittlungsverfah-ren die Fluchtgefahr erhöhen, namentlich dasjenige wegen des Verdachts der Mitgliedschaft im Islamischen Staat (IS). Insbesondere kommt es hier nicht darauf an, ob die Berücksichtigung eines anderen Strafverfahrens einen bestimm-ten Verdachtsgrad für eine Tatbegehung oder -beteiligung voraussetzt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 1992 – 3 Ws 636/92, MDR 1993, 371; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 19).“