Schlagwort-Archive: Straferwartung

U-Haft II: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafenaussetzung – so geht es beim BGH

© eyetronic Fotolia.com

© eyetronic Fotolia.com

Im ersten Posting des heutigen Tages: U-Haft I: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafaussetzung, oder: Olle Kamellen ging es um den KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16. Dieses Posting betrifft jetzt den BGH, Beschl. v. 02.11.2016 –   StB 35/16, der in einem Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a. ergangen ist, geht es auch um die Frage der U-Haft und des Haftgrundes der Fluchtgefahr. Die Problematik ist ähnlich wie in dem KG, beschl. v. 13.09.2016. Der BGH:

2.a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nach Verurteilung des Angeklagten zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sowie fast zehneinhalbmonatigem Untersuchungshaftvollzug fort.

Von der Straferwartung, die sich nach der Verurteilung des Angeklagten auf die verhängte Jugendstrafe konkretisiert hat (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 52), geht weiterhin ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus. Zwar nimmt der Angeklagte im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend an, dass hierfür die sog. Nettostraferwartung maßgebend ist, so dass von dem festgelegten Strafmaß neben der vollzogenen Untersuchungs-haft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) eine wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe in Abzug zu bringen sein kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 23; MüKoStPO/Böhm/Werner aaO, Rn. 53). Dem Angeklagten ist jedoch nicht darin zu folgen, dass er mit einer Reststrafenaussetzung tatsäch-lich rechnen kann. Das gilt unabhängig davon, ob § 88 JGG oder § 57 StGB zur Anwendung kommt (zur Frage des gesetzlichen Maßstabs im Fall einer Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft [§ 85 Abs. 6, § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG] vgl. die Nachweise bei OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 2015 – III-2 Ws 33/15, juris Rn. 17 f.; MüKoStGB/Groß, 3. Aufl., § 57 Rn. 9 Fn. 25).

Wie bereits das Kammergericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend ausgeführt hat, spricht schon das Vollzugsverhalten des Angeklagten gegen eine Reststrafenbewährung. Er hat in mindestens fünf Fällen an ver-schiedenen Tagen in den Monaten April bis Juni 2016 gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstoßen, dabei mehrfach Bedienstete beleidigt und in einem Fall bei Widerstandshandlungen versucht, Bedienstete durch Kopfstöße und Fußtritte zu verletzen.

Auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit steht jedenfalls derzeit einer Reststrafenaussetzung entgegen; denn nach den Ausführungen des Kammergerichts war in der Hauptverhandlung nicht erkennbar, dass sich der Angeklagte von seiner jihadistischen Grundeinstellung wirklich distanziert hätte. Auf diese Beurteilung der Geisteshaltung des Angeklagten kommt es für den Senat als Beschwerdegericht in besonderer Weise an; denn der Senat selbst hat keinen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen. Hinzu kommt, dass die Annahme der Fluchtgefahr kein sicheres Wissen um die sie begründenden Tatsachen voraussetzt. Sie müssen gerade nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen; insoweit genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie bei der Annahme des dringenden Tatverdachts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 22 mwN).

Die Umstände, die gegen eine zu erwartende Reststrafenaussetzung sprechen, vergrößern zugleich die Besorgnis, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entzieht, weil sie Zweifel an seiner Zuverlässigkeit begründen. Soweit die Beschwerde auf das vom Angeklagten in der Hauptverhandlung an den Tag gelegte Wohlverhalten gegenüber dem Gericht verweist, deutet dies nur darauf hin, dass er willens und fähig ist, sein Verhalten nach Zweckmäßig-keitsgesichtspunkten zu steuern, zumal er sich Bediensteten der Justizvoll-zugsanstalt gegenüber auch über Richter abfällig äußerte.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte auch türkischer Staatsangehöriger ist, über Fremdsprachenkenntnisse und Auslandskontakte verfügt, sich von September 2009 bis Dezember 2015 im Ausland aufhielt und trotz des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2012 nicht ergriffen werden konnte. Diesbezüglich verweist der Senat auf die Ausführungen im Haftbefehl des Kammergerichts vom 20. Mai 2016 und in dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 4. Oktober 2016.

Den benannten die Fluchtgefahr begründenden Umständen stehen auch mit Blick darauf, dass sich der Angeklagte selbst stellte und mittlerweile wieder über stabile familiäre Bindungen in Deutschland verfügt, hinreichend gewichtige fluchthindernde Umstände nicht entgegen.

Nach alledem kann dahinstehen, inwieweit, wie das Kammergericht meint, weitere gegen den Angeklagten geführte, noch offene Ermittlungsverfah-ren die Fluchtgefahr erhöhen, namentlich dasjenige wegen des Verdachts der Mitgliedschaft im Islamischen Staat (IS). Insbesondere kommt es hier nicht darauf an, ob die Berücksichtigung eines anderen Strafverfahrens einen bestimm-ten Verdachtsgrad für eine Tatbegehung oder -beteiligung voraussetzt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 1992 – 3 Ws 636/92, MDR 1993, 371; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 19).“

U-Haft I: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafaussetzung, oder: Olle Kamellen

© Alex White - Fotolia.com

© Alex White – Fotolia.com

Der KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16 – behandelt zwei Fragen, die in der Verteidigungsparaxis in U-Haft-Fällen eine große Rolle spielen. Es handelt sich einmal um die Frage, ob bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets ein beachtlicher Fluchtanreiz besteht – leider immer wieder problematisch, obwohl die Meinung der OLG da ziemlich eindeutig ist. Und das zweite Problem ist die Frage nach der Berücksichtigung einer möglichen Strafrestaussetzung bei der Bestimmung der Straferwartung. Zu beiden Fragen nimmt der KG, Beschluss umfangreich wie folgt Stellung:

„bb) Bei der Bestimmung der – für die Entscheidung maßgeblichen – sog. Nettostraferwartung ist unter Anrechnung der Untersuchungshaft derzeit ein Rest von zwei Jahren und einem Monat offen. Aus diesem folgt für den Beschwerdeführer, der zudem ein offensichtlich hohes Interesse daran hat, sich in der Hauptverhandlung gegen die Tatvorwürfe aktiv zu verteidigen, kein besonderer Fluchtanreiz.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts gibt es keine „Grenze“ von etwa zwei Jahren, bei der allein aus einer solchen Straferwartung „Fluchtgefahr herzuleiten“ und nur noch zu prüfen sei, ob diese durch besondere Tatsachen wieder ausgeräumt werden könne. Der Senat hat in seiner jüngeren Rechtsprechung (vgl. Beschluss vom 3. November 2011 – 4 Ws 96/11 –; veröffentlicht in StV 2012, 350 mwN) dargelegt, dass bei der Beurteilung der Fluchtgefahr jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe ausscheidet, insbesondere die Annahme unzulässig ist, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz – nur darum kann es gehen, keinesfalls um den Haftgrund selbst – bestehe. Denn andernfalls käme es zu einer unzulässigen Haftgrundvermutung allein wegen einer bestimmten Strafhöhe. Mit der in StV 2012, 350 veröffentlichten Entscheidung hat sich der Senat gegen frühere Rechtsprechung, zu der auch die von der Kammer zitierte Entscheidung des Kammergerichts vom 2. März 2006 – 5 Ws 68/06 – gehörte, gewandt, und er hat die maßgeblichen Rechtsgrundsätze in der Folgezeit präzisiert. Den in der Senatsentscheidung vom 3. November 2011 enthaltenen Rechtsgrundsätzen sind die anderen Senate des Kammergerichts in der Folgezeit beigetreten (vgl. etwa KG, Beschlüsse vom 27. Dezember 2011 – 2 Ws 586/11 –; vom 10. Januar 2014 – 2 Ws 1/14 –, vom 23. Juli 2014 – 3 Ws 341/14 –, vom 21. August 2014 – 1 Ws 61/14 – [juris] und vom 26. Oktober 2015 – 5 Ws 132/15 –). An den in früheren Entscheidungen enthaltenen Rechtsgrundsätzen, die dem vom Landgericht zitierten Grundsatz entsprachen, ist demgemäß nicht festzuhalten (vgl. auch Senat, Beschluss vom 29. August 2016 – 4 Ws 124/16 –). Der Senat braucht hier nicht zu entscheiden, ob es in Fällen besonders hoher Straferwartung gerechtfertigt ist, an die Tatsachen, die einen deshalb anzunehmenden besonders hohen Fluchtanreiz entkräften können, erhöhte Anforderungen zu stellen. Auch braucht er sich nicht mit der Frage zu befassen, bei welcher Höhe eine solche besonders hohe (Rest-) Straferwartung vorliegt; allerdings kämen angesichts der dargelegten Erwägungen insoweit nur langjährige Strafen bzw. Strafreste, um die es vorliegend indessen nicht geht, in Frage.

cc) Der Hinweis des Landgerichts, dass die Frage einer Reststrafaussetzung „derzeit ungewiss“ sei, weil diese vor allem vom Verhalten des Angeklagten im Vollzug abhängig sei, trifft für sich genommen zwar zu. Diese selbstverständliche Feststellung entbindet das Gericht aber nicht von seiner Verpflichtung, die für die Haftentscheidung notwendige Prognose im Sinne eines Wahrscheinlichkeitsurteils aufgrund der zur Zeit der Haftentscheidung gegebenen Sachlage anzustellen. Die vom Landgericht gewählte Argumentation führte demgegenüber dazu, dass zur Frage der Nettostraferwartung die erforderliche – auch zu den übrigen Haftvoraussetzungen zu treffende und von den Haftgerichten regelmäßig getroffene – Prognoseentscheidung unterbleibt und somit gleichsam die Vollverbüßung ohne Prüfung zur Grundlage der Haftentscheidung wird.

Soweit die Staatsanwaltschaft Berlin in ihren – vom Landgericht wegen des Haftgrundes in Bezug genommenen – Stellungnahmen vom 12. April und 24. August 2016 ausgeführt hat, dass eine Reststrafaussetzung „nicht selbstverständlich“ bzw. „nicht sicher“ sei, ist dies zwar ebenfalls richtig, verfehlt aber den zutreffenden Prüfungsansatz. Es ist allgemein anerkannt, dass – weil bei der strafprozessualen Zwangsmaßnahme der Untersuchungshaft zu fragen ist, ob ihre Verhängung (als ultima ratio) wegen überwiegender Belange des Gemeinwohls zwingend geboten ist (vgl. Senat StV 2014, 26 = StraFo 2013, 375 mwN) – die für die Untersuchungshaft erforderlichen Tatsachen mit hoher Wahrscheinlichkeit (positiv) festzustellen sind. Auch die Erwartung einer hohen, Fluchtanreiz bietenden Freiheitsstrafe ist eine „bestimmte Tatsache“ im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO, für deren Vorliegen – soll die Haftanordnung darauf gestützt werden – eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss (vgl. Senat StraFo 2015, 108 = ZJJ 2015, 204 = OLGSt StPO § 112 Nr. 19). Da sich die Straferwartung nach dem tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug bestimmt, ist somit zu fragen, ob die Vollverbüßung der dem Beschwerdeführer drohenden, bis zu vierjährigen Gesamtfreiheitsstrafe hoch wahrscheinlich ist. Dies wiederum setzt im Rahmen der Haftentscheidung die Prognose voraus, dass der Angeklagte keine realistische Chance auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB besitzt, diese also im konkreten Fall eher unwahrscheinlich ist.

Die Tatsache, dass die Beurteilungsgrundlage für diese Prüfung bei Entscheidungen über die Untersuchungshaft in der Regel schwach ist, rechtfertigt es nicht, die Prüfung zu unterlassen. Bei dem Beschwerdeführer wäre im Rahmen einer Entscheidung nach § 57 Abs. 1 StGB zu bedenken, dass der Umstand, dass er wegen zweier in den Jahren 2007/2006 bzw. 2010 begangener Fahrlässigkeitsdelikte – fahrlässiger Verletzung der Verlustanzeigepflicht und fahrlässiger Insolvenzverschleppung – zu einer (erledigten) Gesamtgeldstrafe verurteilt worden ist, nicht maßgeblich ins Gewicht fallen dürfte. Für ihn wird demgegenüber die Tatsache streiten, dass er beim Antritt einer zu verbüßenden (Rest-) Strafe voraussichtlich mindestens 69 Jahre alt sein und erstmals Strafhaft verbüßen wird und seine letzte Straftat dann mehr als fünf Jahre zurückliegen wird. Ausweislich der vom Senat bei der Justizvollzugsanstalt Moabit angeforderten Stellungnahme des Sozialdienstes vom 7. September 2016 hat sich der Beschwerdeführer im Vollzug der Untersuchungshaft bislang völlig beanstandungsfrei geführt; er musste insbesondere nicht disziplinarisch belangt werden und gilt bei den Mitgefangenen als vermittelnd und ausgeglichen. Auch angesichts dieses Vollzugsverhaltens erscheint, selbst bei Berücksichtigung des Organisationsgrades der Taten und des langen Zeitraumes ihrer Begehung, die Annahme einer hohen Wahrscheinlichkeit, der Angeklagte werde die im Raum stehende Gesamtfreiheitsstrafe voll verbüßen müssen, nicht gerechtfertigt. Bei einer Reststrafaussetzung zum 2/3-Zeitpunkt hätte er einen Strafrest von nur noch neun Monaten zu befürchten, der ihm keinen nennenswerten Fluchtanreiz mehr bietet. Auch bei einer Reststrafaussetzung erst zu einem späteren Zeitpunkt ließe sich unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten, auch bei Beachtung möglicher Rückforderungsansprüche, nicht annehmen, er  werde wegen des ihm noch drohenden tatsächlichen Freiheitsentzuges seinen bisherigen Lebensmittelpunkt dauerhaft aufgeben und sich unter endgültiger Änderung aller wesentlichen Lebensumstände in eine ungewisse Zukunft – etwa in einem fremden Land oder im Untergrund, ggf. ohne die in Deutschland gesicherte medizinische Behandlung seiner gesundheitlichen Probleme – begeben. Bei der hier gegebenen Sachlage braucht sich der Senat nicht mit der weiteren Frage zu befassen, ob für den Angeklagten eine realistische, den Fluchtanreiz vermindernde Aussicht bestünde, den Rest einer rechtskräftig erkannten Strafe im offenen Vollzug verbringen zu können.“

Ich frage mich immer, warum eigentlich das KG oder auch andere OLG die Fragen immer wieder entscheiden müssen? Sind doch ausgekaut.

„Kann ich mich auf dich verlassen?“ – Haftverschonung auch bei hoher Strafe…

© chris52 - Fotolia.com

Das KG, Beschl. v. 02.02.2012 – 4 Ws 10/12 entscheidet noch einmal das, was in der Praxis häufig Schwierigkeiten macht: Haftverschonung (§ 116 StPO) auch bei hoher Straferwartung – ohne allerdings expressis verbis zu sagen, was denn nun eine hohe Strafe ist.

3. Der Senat ist aber der Auffassung, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch ohne deren weiteren Vollzug erreicht werden kann. Die aus dem Entscheidungssatz ersichtlichen milderen Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO sind geeignet, diesen Zweck zu erreichen. Der Angeklagte war vor seiner Festnahme in den Verbund seiner Familie eingebunden. Dass sich die Einstellung seiner Angehörigen während der seit knapp zwei Monaten vollzogenen Untersuchungshaft entscheidend geändert hätte, ist nicht ersichtlich. Bei der Frage, ob der Senat sich auf den Angeklagten verlassen kann, ist dessen Verhalten im Verfahren von Bedeutung. Der Angeklagte hat sich dem Verfahren auch weiterhin gestellt, als dieses für ihn ungünstig verlief. Dass ihm eine Gesamtfreiheitsstrafe drohte, die vier Jahre übersteigen würde, war dem anwaltlich beratenen Beschwerdeführer jedenfalls nach der Eröffnung des Hauptverfahrens vor der Jugendkammer, der die Sache von dem Jugendschöffengericht unter Hinweis auf den Gesichtspunkt der Strafgewalt vorgelegt worden war, bereits bewusst. Er hat sich der Hauptverhandlung beanstandungsfrei gestellt, obgleich sich die Beweisaufnahme nicht seiner Hoffnung gemäß entwickelte. Am letzten Sitzungstag ist es nach den Plädoyers zu einer dreistündigen Unterbrechung der Hauptverhandlung gekommen, nach deren Ablauf sich der Angeklagte in Kenntnis der Anträge der Staatsanwaltschaft, eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten auszusprechen und einen Haftbefehl zu erlassen, abermals vor das Gericht begeben hat. Seine Wohnmöglichkeit steht ihm weiterhin zur Verfügung. Die getroffenen Maßnahmen sind hiernach geeignet zu verhindern, dass der Angeklagte dem gegebenen Fluchtanreiz nachgibt. Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft Berlin führt der Umstand, dass es einer (dem Angeklagten bisher unbekannten) Mitteilung einer sozialpädagogischen Prozessbegleiterin zufolge in den vergangenen Jahren zu Kontakten des Angeklagten mit den Geschädigten gekommen ist, hinsichtlich der Beurteilung der Fluchtgefahr zu keiner anderen Beurteilung. Ein anderer Haftgrund, für den dies von Belang sein könnte, ist bisher von keiner Seite in den Raum gestellt worden. Im Übrigen überrascht die Tatsache solcher Kontakte angesichts dessen, dass der Angeklagte sich – nicht nur mit Billigung der Kindesmutter, sondern seinem unter Beweis gestellten Vorbringen zufolge auch mit Kenntnis des Jugendamtes – oftmals in der Familienwohnung aufhielt, nicht. Allein die Höhe der hier im Raum stehenden Strafe steht einer Haftverschonung nicht entgegen (vgl. auch KG NJW 1994, 601 sowie KG, Beschlüsse vom 20. Oktober 2006 – 3 Ws 507/06 – und 20. Januar 2011 – 3 Ws 26/11 -; Senat, Beschlüsse vom 16. März 2006 – 4 Ws 40-41/06 – und 5. Dezember 2007 – 4 Ws 158/07 -).“

Schön die Formulierung: „Bei der Frage, ob der Senat sich auf den Angeklagten verlassen kann, ...“. Wollen wir es hoffen, für den Angeklagten und den Senat :-).

Welche Auswirkungen haben die Tätigkeiten des BND?

Bei der Recherche des Materials zur 6. Auflage des „Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren“ bin ich auf eine Haftentscheidung des BGH gestoßen. So häufig gibt es die ja nicht, von daher ganz interessant. Es ist der BGH, Beschl. v. 22.12.2010 – AZ: AK 19/10. Der BGH hat in dem Beschluss einen Haftbefehl des OLG Düsseldorf aufgehoben, und das wie folgt begründet:

….Auch kann dahinstehen, ob gegen den Angeklagten weiterhin ein Haftgrund vorliegt. Denn der weitere Vollzug der nunmehr bereits fast zehn Monate andauernden Untersuchungshaft verstößt jedenfalls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Der Senat hat schon in seinem Beschluss vom 16. September 2010 darauf hingewiesen, dass der Einfluss des Bundesnachrichtendienstes auf die Mitwirkung des Angeklagten in der DHKP-C sich gegebenenfalls – abhängig von der Art und Intensität – bei der Strafzumessung zu dessen Gunsten auswirken muss. Die in der Zwischenzeit durchgeführten weiteren Ermittlungen – insbesondere die Angaben des Bundesnachrichtendienstes in dem Schreiben vom 13. Dezember 2010 – belegen, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Angeklagten und dem Bundesnachrichtendienst besonders intensiv war und die vom Angeklagten gelieferten Informationen einen hohen Wert hatten. Danach fand etwa die erste Begegnung bereits im Dezember 2002 und damit nur kurz nach Beginn des Tatzeitraums im Oktober 2002 statt. Insgesamt kam es zu 134 Treffen, die im 14tägigen Rhythmus durchgeführt wurden. Im Zusammenhang mit den nachrichtendienstlichen Tätigkeiten wurde im August 2008 ein Betrag in Höhe von 10.000 € auf einem Konto des Angeklagten gutgeschrieben. Dessen Einlassung, er habe darüber hinaus ein monatliches Entgelt in erheblicher Höhe erhalten, ist nach den bisherigen Angaben des Bundesnachrichtendienstes nicht zu widerlegen. Über die einzelnen aktuellen Tätigkeiten des Angeklagten für die DHKP-C einschließlich der Schleusungsfahrten war der Bundesnachrichtendienst teilweise sogar im Voraus, zumindest jedoch nach deren Durchführung unterrichtet. Aus den vom Angeklagten übermittelten Informationen wurde eine Vielzahl von Meldungen erstellt; seine Arbeit wurde vom Bundesnachrichtendienst als besonders wichtig und hochwertig eingestuft, um die Strukturen der DHKP-C aufdecken zu können.
Bei sachgerechter Berücksichtigung all dieser Umstände ergibt sich, dass die Straferwartung des Angeklagten deutlich reduziert ist. Deshalb muss trotz des kurz bevorstehenden Beginns der Hauptverhandlung das staatliche Interesse an der weiteren Sicherung des Verfahrens hinter dem überwiegenden Freiheitsinteresse des Angeklagten zurücktreten.“