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BtM III: Zurückstellung von der Strafvollstreckung, oder: Betäubungsmittelabhängigkeit/mehrere Taten

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Und dann gibt es zum Tagesschluss noch den BayObLG, Beschl. v. 21.10.2024 – 203 VAs 397/24 – zur Zurückstellung nach § 35 BtMG.

Der Verurteilte ist mit Urteil des LG Coburg vom 02.04.2024 wegen Vergewaltigung in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung, diese in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden. Nach den Feststellungen litt der Antragsteller im Tatzeitraum an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ sowie an einer Polytoxikomanie mit Abhängigkeit von Cannabinoiden, Methamphetamin, schädlichem Gebrauch von Alkohol, Opioiden, Sedativa und Hypnotika. Er nahm täglich die ihm verordneten Medikamente Quetiapin und Mirtazapin gegen den Suchtdruck ein, zudem konsumierte er annähernd täglich synthetische Cannabinoide, Crystal und Methylphenidat (Ritalin), wöchentlich Benzodiazepine und zweiwöchentlich Opioide, wahlweise nutzte er Fentanylpflaster. Nach dem Konsum von synthetischen Cannabinoiden führte er am 19.06.2023 in einem Hotel an einer Jugendlichen gegen deren Willen sexuelle Handlungen aus. Am 10.10. 2023 drang er in einem Badesee unter dem Einfluss von Ritalin und Alkohol gegen den Willen einer erwachsenen Geschädigten mit dem Finger in deren Scheide ein. Bei keiner der beiden Taten war die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten oder seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert oder aufgehoben. Das Landgericht hat sachverständig beraten das Vorliegen eines Hangs im Sinne von § 64 StGB angenommen, jedoch von der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt mangels eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem festgestellten Hang und der am 19.06.2023 begangenen Straftat abgesehen. Mit der am 10.07. 2023 begangenen Vergewaltigung hat sich das LG in diesem Zusammenhang nicht befasst.

Der Verurteilte hat dann bei der Staatsanwaltschaft unter Vorlage eines Bewilligungsbescheids der Rentenversicherung und einer im Laufe des Verfahrens aktualisierten Aufnahmezusage der Bezirksklinik Hochstadt beantragt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 35 BtMG zugunsten einer von ihm beabsichtigten Therapie zurückzustellen. Das wird abgelehnt. Dagegen der Antrag nach den §§ 23 ff. EGGVG, der dann beim BayObLG auch keinen Erfolg hatte:

„2. Rechtsfehlerfrei ist die Generalstaatsanwaltschaft zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs.1 Satz1, Abs. 3 Nr. 2 BtMG bezüglich der der Verurteilung vom 2. April 2024 zugrundeliegenden Tat vom 10. Juli 2023 und somit bezüglich der Gesamtfreiheitsstrafe nicht vorliegen.

a) Gemäß § 35 Abs.1 BtMG kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszugs die Vollstreckung einer Strafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass die Tat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde und der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Abs. 3 Nr. 2 der Vorschrift sieht eine entsprechende Geltung von Absatz 1 vor, wenn auf eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und ein zu vollstreckender Rest der Freiheitsstrafe oder der Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt und im übrigen die Voraussetzungen des Absatzes 1 für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten erfüllt sind. Danach ist hier die Zurückstellung der gegen den Antragsteller verhängten Gesamtfreiheitsstrafe nur möglich, wenn die der Verurteilung zugrundeliegende erheblichere Straftat aufgrund der Abhängigkeit begangen wurde.

b) Ein Kausalzusammenhang zwischen Abhängigkeit und Straftat im Sinne von § 35 Abs. 1 BtMG ist gegeben, wenn die Abhängigkeit nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Straftat entfiele (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst in MüKoStGB, 4. Aufl. 2022, BtMG § 35 Rn. 44; Fabricius in Patzak/Fabricius, BtMG, 11. Aufl. § 35 Rn. 95 ff., insb. 96 m.w.N.; Weber in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rn. 33). Die Abhängigkeit darf nicht nur begleitender Umstand, sondern muss die Bedingung der Straffälligkeit gewesen sein (Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 44; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96; Bohnen in BeckOK-BtMG, 23. Ed., § 35 Rn. 103). Eine Ursächlichkeit kann nicht bereits dann angenommen werden, wenn zum Zeitpunkt der Tat eine Betäubungsmittelabhängigkeit bestand oder wenn die Tat aus einer Betäubungsmittelabhängigkeit heraus zu erklären ist (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 44; Weber a.a.O. § 35 Rn. 35; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96). Andererseits reicht eine erhebliche Mitursächlichkeit aus, etwa bei einer Polytoxikomanie (vgl. Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 45; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96a). Die Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit muss mit Gewissheit bestehen (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 41; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 87, 96; Bohnen a.a.O. § 35 Rn. 103a; Weber a.a.O. § 35 Rn. 36). Umfangreiche Ermittlungen zur Feststellung des Kausalzusammenhangs sind im Rahmen des Verfahrens nach § 35 BtMG nicht geboten (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Weber a.a.O. § 35 Rn. 36; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 87). Liegen der Strafe mehrere Taten zugrunde, ist nach § 35 Abs. 3 BtMG entscheidend, ob der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der abgeurteilten und einbezogenen Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde. Bei der gebotenen zusammenfassenden Bewertung kommt der Art und Höhe einer Einzelstrafe maßgebliche Bedeutung zu, es sind aber auch Anzahl, Art, Begehungsweise, Umfang und Auswirkungen, mithin der Unrechts- und Schuldgehalt aller Taten, in die Würdigung einzubeziehen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Februar 2012 – 2 VAs 1/12 –, juris Rn. 9; Bohnen a.a.O. § 35 Rn. 112; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 113).

c) Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung steht der Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Frage des Kausalzusammenhangs zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der Tat grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23-, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 19; Weber a.a.O. § 35 Rn. 33, 142 m.w.N.), es sei denn, die Kausalität ergäbe sich hinreichend nachvollziehbar „aus den Urteilsgründen“ (vgl. § 35 Abs.1 BtMG, BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 16; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 2004 – 2 VAs 37/04 –, juris Rn. 4 m.w.N.; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 92 m.w.N.; Weber a.a.O. § 35 Rn. 43 m.w.N.). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Denn dem Urteil lässt sich auch unter Berücksichtigung der Ausführungen zu § 64 StGB und der Bejahung eines Hangs zwar die zur Tatzeit bestehende Betäubungsmittelabhängigkeit, nicht jedoch die von § 35 BtMG geforderte unmittelbare Kausalität zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der abgeurteilten Vergewaltigung entnehmen. Das erkennende Gericht hat als Ursache für die Vergewaltigung weder die Alkoholsucht noch die Betäubungsmittelabhängigkeit festgestellt, sondern die Ursache offen gelassen.

d) Die Annahme eines Beurteilungsspielraums der Vollstreckungsbehörde hat zur Folge, dass die gerichtliche Nachprüfung eingeschränkt ist. Kommt ein Beurteilungsspielraum zum Tragen, prüft der Senat nur, ob die Vollstreckungsbehörde von einem vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und sich innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums gehalten hat (vgl. zur Einschränkung der gerichtlichen Überprüfung eines Beurteilungsspielraums Gerson in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 28 GVGEG Rn. 25, 27; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Juli 2017 – 2 VAs 15/17 –, juris Rn. 8 m.w.N.).

e) Danach ist es hier mit Blick auf die Umstände der Tatbegehung nicht zu beanstanden, dass sich die Vollstreckungsbehörde von einer Kausalität der Betäubungsmittelabhängigkeit bezogen auf die Vergewaltigung als dem gewichtigeren Delikt nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu überzeugen vermochte und infolgedessen gehalten war, die Zurückstellung abzulehnen (zu der in diesem Fall gebundenen Entscheidung Weber a.a.O. § 35 Rn. 144 m.w.N.; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 332). Begeht ein suchtkranker Angeklagter eine Vergewaltigung nach dem Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln, so versteht es sich nämlich nicht von selbst, dass die Betäubungsmittelabhängigkeit kausal für die Tat war. In Betracht kommt auch ein sexuelles Verlangen (vgl. Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 111; Weber a.a.O. § 35 Rn. 37). Zudem ist bei dem Antragsteller neben der Polytoxikomanie auch eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ diagnostiziert worden. Die damit einhergehende Schwierigkeit bei der Kontrolle von Impulsen kommt ebenfalls als bestimmender Faktor für das am 10. Juli 2023 begangene Sexualdelikt in Betracht. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Dass sie verfügbare weitere Erkenntnisquellen nicht herangezogen hätte, trägt auch der Antragsteller nicht vor.

f) Aus der Benennung der Registervergünstigung des § 17 Abs.2 BZRG in der Liste der angewendeten Vorschriften ergibt sich für sich alleine keine Bindungswirkung für die Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Annahme einer unmittelbaren Kausalität zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der abgeurteilten Straftaten (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 22 ff.; KG, Beschluss vom 15. Februar 2016 – 1 VAs 1/16 -, juris Rn. 12; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 83a; Weber a.a.O. § 35 Rn. 44).

g) Die vom Antragsteller behauptete Zusicherung der Vorsitzenden des erkennenden Gerichts ist nach dem Inhalt ihrer dienstlichen Stellungnahme nicht bewiesen. Sein diesbezüglicher Vortrag ist bereits aus diesem Grund nicht geeignet, einen Vertrauensschutztatbestand bezüglich einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 35 BtMG zu schaffen.

Pflichti I: Gutachten bei der Reststrafaussetzung, oder: Bei Aussage-gegen-Aussage gibt es nicht immer Pflichti

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Heute dann „Pflichtverteidigungsentscheidung“.

Ich eröffne den Reigen mit zwei Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar einmal BGH und einmal OLG Brandenburg.

Der BGH hat im BGH, Beschl. v. 08.01.2025 – StB 71/24 – die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren betreffennd Strafrestaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StPO abgelehnt:

„2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet.

a) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Vollstreckungsverfahren, namentlich im Verfahren über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung, kommt – in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO – nur ausnahmsweise in Betracht, wenn besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 9 mwN). Insofern ist eine zurückhaltende Handhabung angezeigt, weil das Strafvollstreckungsverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers in weit geringerem Maße erfordert als das Erkenntnisverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 2002 – 2 BvR 613/02, NJW 2002, 2773, 2774).

b) Hieran gemessen hat der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO für die Entscheidung zuständige Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts zu Recht die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt.

aa) Die Sach- und Rechtslage des Vollstreckungsverfahrens weist keine besonderen Schwierigkeiten auf; es handelt sich vielmehr um einen typischen Fall der Prüfung der Voraussetzungen für eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe, der keine Besonderheiten erkennen lässt. Die zu beantwortenden Fragen werfen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten auf. Weder die Dauer der bislang vollstreckten Strafe noch der zu vollstreckende Strafrest lassen den Vollstreckungsfall als so schwerwiegend erscheinen, dass eine Pflichtverteidigerbestellung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO notwendig wäre. Zudem sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verurteilte, der hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache hat, seine Rechte im Vollstreckungsverfahren selbst nicht sachgerecht wahrnehmen kann.

bb) Der Umstand, dass gegebenenfalls im weiteren Verlauf des Verfahrens über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung ein kriminalprognostisches Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO einzuholen sein wird, gebietet eine Pflichtverteidigerbestellung jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt gleichfalls nicht. Zwar kann die Erörterung eines solchen Gutachtens im Einzelfall eine Pflichtverteidigerbestellung erfordern, wenn hierfür besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten erforderlich sind, über die der Verurteilte nicht verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358). Auch in den Fällen einer nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO gebotenen Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens ist aber in aller Regel keine Pflichtverteidigerbestellung veranlasst, solange das Gutachten noch nicht vorliegt oder – wie hier – noch nicht einmal eine Entscheidung darüber getroffen worden ist, ob es einer kriminalprognostischen Begutachtung des Verurteilten bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358).

cc) Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung für die anstehende Vollstreckungsentscheidung nicht schon daraus, dass hier statt einer Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO das Oberlandesgericht zu entscheiden hat (vgl. diesbezüglich näher BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 17).“

Und dann habe ich hier noch den OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2025 – 1 Ws 161/24 (S) -, ergangen in einem Verfahren wegen sexuellen Übergriffs. Das LG hatte im Berufungsverfahren den Beiordnungsantrag zurückgewiesen. Das hat beim OLG „gehalten“.

„a) Nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Vielmehr kommt eine Beiordnung insbesondere dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen den Angeklagten belastende Indizien hinzutreten mit der Folge, dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2008, 1 Ws 517/08, Rz. 4, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 09. Juli 2020, 5 Ws 202/20, Rz. 8, BeckRS 2020, 21130; Krawczyk in: BeckOK StPO, 53. Edition, Stand: 01. Oktober 2024, Rz. 29). Ist dagegen aus weiteren Indizien nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen zu schließen, sind dessen Angaben einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen mit der Folge, dass die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich ist (OLG Hamm a. a. O.).

Gemessen hieran, bestand vorliegend keine schwierige Sachlage, welche die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen ließ (§ 140 Abs. 2 StPO). Die Berufungskammer hat neben der Geschädigten deren Lebensgefährten als Zeugen vernommen, der Zeuge stützte die den Angeklagten belastenden Angaben der Geschädigten. Zudem wurden die Chatnachrichten zwischen der Geschädigten und ihrer Mutter vom Tattag in die Beweisaufnahme eingeführt, auch sie bekräftigten die Aussage der Geschädigten. Insgesamt bestand sonach eine Prozesssituation, in der zur Aussage der einzigen Belastungszeugin weitere Indizien hinzutraten, aus denen auf die Richtigkeit deren Angaben geschlossen werden konnte. Allein die zeitliche Dauer der Beweisaufnahme vermag zu keiner anderen Sichtweise zu führen.

StPO III: Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung, oder: Analoge Anwendung der Wiederaufnahme?

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Und als Letztes dann noch etwas aus dem Bereich der Strafvollstreckung, nämlich die Frage, ob die §§ 359 ff. StPO auf eine Widerrufsentscheidung nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB analog anwendbar sind. Das OLG Saarbrücken hat das im OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.12.2024 – 1 Ws 236/24 – verneint:

„2. Es ist jedoch unbegründet, da die Strafvollstreckungskammer eine Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Widerrufsverfahrens zutreffend abgelehnt hat. Für die beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage.

a) Die §§ 359 ff., 373a StPO lassen eine Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil oder Strafbefehl abgeschlossenen Strafverfahrens zu. Eine Wiederaufnahme des Widerrufsverfahrens ermöglichen die Vorschriften ihrem eindeutigen Wortlaut nach nicht.

b) Eine analoge Anwendung der eng auszulegenden Ausnahmevorschriften scheidet bereits deshalb aus, weil es an einer für eine Analogie erforderlichen planwidrigen Regelungslücke fehlt (so auch OLG Stuttgart, Beschlüsse vom 18. Dezember 1995 – 2 Ws 248/95 –, juris und vom 26. Januar 2001 – 2 Ws 16/2001 –, juris; OLG Zweibrücken NStZ 1997, 55; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 6. Mai 1999 – 2 Ws 1/99 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Dezember 2003 – III-3 Ws 454/03 –, juris; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., Vor § 359 Rn. 5; vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 29. August 2012 – 2 Ws 130/12 –, juris; OLG Koblenz BeckRS 2016, 138014; a.A. OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; OLG Düsseldorf MDR 1993, 67; Frister in: SK-StPO, 5. Aufl., Vor § 359 Rn. 22; offengelassen von BGH, Beschluss vom 14. Februar 2024 – 2 ARs 176/23 –, juris). Dass es im Interesse der materiellen Gerechtigkeit geboten sein kann, die Rechtskraft von Entscheidungen zu durchbrechen (vgl. hierzu Schmitt in: Meyer-Goßner, StPO, a.a.O., Rn. 1), hat der Gesetzgeber – wie sich aus den genannten Vorschriften ergibt – bedacht und die Regelungen der §§ 359 ff. 373 StPO ausdrücklich auf rechtskräftige Urteile und Strafbefehle beschränkt. Auch das mögliche Erfordernis der Durchbrechung der Rechtskraft von Beschlüssen ist ihm – wie sich aus den Vorschriften der §§ 174 Abs. 2, 211, 454a Abs. 2 StPO ergibt – nicht aus dem Blick geraten (so auch OLG Zweibrücken, a.a.O.). Dennoch hat er eine gesetzliche Regelung zur Ermöglichung einer Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Widerrufsverfahrens für den Fall der Wiederaufnahme des dem Widerruf zugrundeliegenden Strafverfahrens trotz der naheliegenden Problematik nicht getroffen, und zwar auch nicht nachträglich, nachdem in der Rechtsprechung eine analoge Anwendung der §§ 359 ff. StPO abgelehnt worden war (vgl. hierzu auch OLG Stuttgart, a.a.O.; Hanseatisches OLG, a.a.O.). Diese Entscheidung des Gesetzgebers, dem allein es innerhalb der Grenzen des Willkürverbotes obliegt, das Spannungsverhältnis zwischen der mit der Rechtskraft einhergehenden Rechtssicherheit und dem Gebot materieller Gerechtigkeit in einen angemessenen Ausgleich zu bringen (vgl. BverfGE 35, 41; Hanseatisches OLG, a.a.O.), ist hinzunehmen.

c) Eine analoge Anwendung der §§ 359 ff. StPO scheidet im Übrigen auch deshalb aus, weil der Fall einer rechtskräftigen, mit der tatsächlichen Sachlage nicht übereinstimmenden strafrechtlichen Verurteilung und der eines rechtskräftigen Widerrufs nicht gleich schwer wiegen und daher keine vergleichbare Sachlage vorliegt. Während es für eine Strafvollstreckung in erstgenanntem Fall aus nachträglich bekanntgewordenen Gründen bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung an einer tragfähigen Grundlage beruhte, ist Grundlage der Strafvollstreckung gegen den von der Widerrufsentscheidung betroffenen Verurteilten weiterhin seine nicht in Frage stehende rechtskräftige Ausgangsverurteilung (vgl. hierzu auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Januar 2001 – 2 Ws 16/2001 –, juris).

d) Zu einer unbilligen Härte führt das gewonnene Ergebnis im konkreten Fall nicht. Abgesehen davon, dass es dem Verurteilten unbenommen gewesen wäre, den am 24. Mai 2024 erlassenen Widerrufsbeschluss fristgerecht anzufechten und die bereits am 28. August 2024 erfolgte Wiederaufnahme des Verfahrens im erst durch die Senatsentscheidung vom 7. Oktober 2024 abgeschlossenen Beschwerdeverfahren geltend zu machen, ist derzeit offen, ob die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung trotz der erfolgten Wiederaufnahme des dem Widerrufsbeschluss zugrundeliegenden Strafverfahrens vor Abschluss des Wiederaufnahmeverfahrens, in dem Hauptverhandlungstermin bereits für den 9. Januar 2025 bestimmt ist, weiterbetreiben wird. Sollte dies der Fall sein, bliebe dem Verurteilen die Möglichkeit, gegenüber der Vollstreckungsbehörde (vgl. hierzu Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 458 Rn. 7 m.w.N.) Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung zu erheben (vgl. hierzu auch Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 458 Rn. 6; Appl in: Engländer/Zimmermann in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 359 Rn. 32; KK-StPO, 9. Aufl., § 359 Rn. 14a). Letztlich steht dem Verurteilten auch der Gnadenweg weiter offen, da ein bereits gestellter Gnadenantrag des Verurteilten lediglich unter Hinweis auf die zum Zeitpunkt der (vorläufigen) Gnadenentscheidung noch nicht ausgeschöpften weiteren Rechtsmittelmöglichkeiten zurückgewiesen wurde.

SV II: Reststrafaussetzung zur Bewährung durch StVK , oder: Mündliche Anhörung des SV erforderlich?

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Im zweiten Posting etwas zum Sachverständigen im Verfahren betreffend die Strafaussetzung zur Bewährung, und zwar den OLG Celle, Beschl. v. 29.04.2024 – 1 Ws 126/24.

Der Verurteilte wurde am 13.06.2022 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zwei Drittel der Strafe waren am 06.042024 vollstreckt, die Endstrafe ist auf den 07.042025 notiert. Die StVK hat zur Prüfung einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 1 StGB ein Sachverständigengutachten eines Diplom-Psychologen eingeholt. Dieser hat – im Gegensatz zur Stellungnahme der JVA – eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten im Ergebnis befürwortet. Zur mündlichen Anhörung des Verurteilten am 03.04.2024 wurde der Sachverständige zunächst geladen, nach Verzicht der Verteidigerin auf seine mündliche Anhörung aber wieder abgeladen. Im Anhörungstermin hat auch der Verurteilte selbst darauf verzichtet, den Sachverständigen mündlich zu hören.

Die StVK hat dann die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

„Die gemäß §§ 454 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde hat – jedenfalls vorläufig – Erfolg.

1. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer war bereits deswegen aufzuheben, weil sie an einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet. Denn die Strafvollstreckungskammer hat zu Unrecht von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen abgesehen.

a) Gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO ist im Falle der Einholung eines Prognosegutachtens vor einer Entscheidung über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung der Sachverständige mündlich anhören. Von der Anhörung darf gemäß § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO nur abgesehen werden, wenn sowohl der Verurteilte und sein Verteidiger als auch die Staatsanwaltschaft darauf verzichten.

b) Die Voraussetzungen des § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO lagen nicht vor, weil die Staatsanwaltschaft nicht auf die Sachverständigenanhörung verzichtet hat.

Die Strafvollstreckungskammer hat in ihrer Verfügung vom 6. Februar 2024, mit der die Akten der Staatsanwaltschaft zur Kenntnisnahme vom Gutachten übersandt wurden, auch nach einem Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen gefragt. Zu dieser Frage hat sich die Staatsanwaltschaft aber weder in ihrer Rücksendeverfügung vom 13. Februar 2024, mit der sie auf ihre frühere Stellungnahme Bezug nahm, noch später geäußert.

Ein konkludenter Verzicht der Staatsanwaltschaft liegt ebenfalls nicht vor. Das bloße Schweigen auf eine Zuschrift des Gerichts genügt für die Annahme eines Verzichts nicht, denn der Verzicht auf die mündliche Anhörung muss eindeutig erklärt werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 5. Oktober 2023 – 1 Ws 206/23 –, Rn. 9, juris, m. w. N.). Auch dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nicht am Anhörungstermin teilgenommen hat, kann jedenfalls unter den vorliegenden Umständen eine solche eindeutige Erklärung nicht entnommen werden, weil der Staatsanwaltschaft aufgrund der Ladungsverfügung vom 27. Februar 2024 keine Terminsnachricht übersandt und sie auch über die spätere Abladung des Sachverständigen nicht informiert wurde.

c) Darüber hinaus begegnet das Absehen von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen im vorliegenden Fall auch unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Aufklärungspflicht durchgreifenden Bedenken.

Die Pflicht zur bestmöglichen Aufklärung des Sachverhalts kann auch in Fällen, in denen der Sachverständige nicht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO mündlich zu hören ist, seine mündliche Anhörung erfordern (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 04.08.2015 – 1 Ws 319/15, beck-online). Denn die Anhörung dient nicht nur der Verwirklichung rechtlichen Gehörs, sondern soll vor allem die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vorbereiten und ihre materielle Richtigkeit gewährleisten (vgl. OLG Braunschweig, a. a. O.). Die mündliche Erörterung eines solchen Gutachtens in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten gibt diesen Gelegenheit, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren, das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen und zu dem Gutachten Stellung zu nehmen (OLG Braunschweig a. a. O.).

Angesichts der grundlegenden unterschiedlichen Prognosebeurteilungen der Justizvollzugsanstalt einerseits und des Sachverständigen andererseits wäre eine solche eingehende Erörterung des Gutachtens – unter Mitwirkung der Vollzugsanstalt (§ 454 Abs. 3 Satz 3 StPO) – im vorliegenden Fall geboten gewesen, nachdem die Justizvollzugsanstalt nach Vorlage seines Gutachtens noch eine ausführliche Stellungnahme abgegeben und darin ihre bisherige Beurteilung bekräftigt und vertiefend begründet hat.“

Vollzug I: Verlobtenlangzeitbesuch am Wochenende, oder: Ablehnung nur wegen Hausordnung reicht nicht

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In die neue Woche starte ich mit zwei Entscheidungen zum Vollzug. Beide kommen vom OLG Naumburg. In der einen hat das OLG das LG Stendal „zur Ordnung gerufen“, in der anderen die JVA Burg.

Ich beginne mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 26.08.2024 – 1 Ws 366/24 RB-Vollzug. Es geht um das Besuchsrecht bzw. einen Langzeitbesuch der Verlobten eines Strafgefangenen.

Der Strafgefangene verbüßt seit dem 30.05.2023 eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sieben Monaten wegen Verstoßes gegen die Abgabenordnung u. a.. Das Strafende ist auf den 17. September 2026 notiert. Nachdem die JVA dem Antragsteller am 12.02.2024 die Eignung zur Durchführung von Langzeitbesuchen mit seiner Verlobten zugesprochen hatte, beantragte der Antragsteller schriftlich die Durchführung eines Langzeitbesuchs seiner Verlobten und bat um einen Termin am Wochenende. Die Antragstellerin lehnte die Durchführung eines Termins für einen Langzeitbesuch an einem Wochenende ab, da am Wochenende die Durchführung von Langzeitbesuchen nicht vorgesehen sei.

Dagegen wandte sich der Antragsteller an das LG. Die StVK hat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen. Das OLG hat dann das LG/die StVKkkk „zur Ordnung gerufen“:

„2. Die Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge Erfolg.

Die Strafvollstreckungskammer geht allerdings zutreffend davon aus, dass sich – bei hier grundsätzlicher Gestattung von Langzeitbesuchen der Verlobten des Antragstellers durch die Antragstellerin nach § 33 Abs. 5 JVollzG I LSA – unmittelbar aus dem Gesetz kein Anspruch auf eine bestimmte Besuchszeit ergibt. Vielmehr gehört die Ausgestaltung der Besuchsregelung zu der der Anstalt übertragenen Organisationsbefugnis, wobei allgemeine Regelungen zu Besuchszeiten gemäß § 113 Abs. 2 Nr. 1 JVollzGB I LSA in der Hausordnung zu treffen sind (vgl. zur Sicherungsverwahrung OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. April 2016 – 2 Ws 68/16 –, Rn. 9, zitiert nach juris). Bereits dabei sind berechtigte organisatorische Belange der Anstalt in einen Ausgleich mit den Interessen der Gefangenen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben zu bringen. Nach diesen Vorgaben getroffene Regelungen bilden die Grundlage für die Entscheidung über im Einzelfall gestellte Anträge auf Zulassung von Besuch, denen außerhalb der durch die Hausordnung festgelegten Zeiten allenfalls ausnahmsweise zu entsprechen sein wird (OLG Karlsruhe a. a. O.). Dies enthebt den Anstaltsleiter indes nicht von der Verpflichtung, einen solchen Antrag im Einzelfall zu bescheiden und dabei das ihm im Rahmen der Organisationsbefugnis eingeräumte Ermessen unter Berücksichtigung berechtigter Interessen des Antragstellers auszuüben (OLG Karlsruhe a. a. O.; KG Berlin, Beschluss vom 30. März 2000 – 5 Ws 146/00 Vollz –, Rn. 10, zitiert nach juris).

Die gerichtliche Überprüfung der Ausgestaltung des Besuchsrechts in dem durch die gesetzlichen Bestimmungen vorgegebenen Rahmen ist – wie allgemein beim Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung – darauf beschränkt, ob von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen wurde, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und dabei eine Abwägung der organisatorischen Belange der Anstalt mit den berechtigten Interessen des Gefangenen vorgenommen wurde (OLG Karlsruhe a. a. O. Rn. 10; s. a. Arloth/Krä, StVollzG, 5. Auflage § 115 Rn. 15).

Dabei ist in der obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass bei der Ausfüllung des ihr in Bezug auf Besuche eingeräumten Ermessens die Justizvollzugsanstalt insbesondere Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 31. Mai 2021 – 5 Ws 64/21 Vollz –, Rn. 15, OLG Zweibrücken, Beschluss vom 28. September 2020 – 1 Ws 183/20 Vollz –, Rn. 13, jeweils zitiert nach juris, OLG Karlsruhe a. a. O Rn. 9). Aus der aus Art. 6 Abs. 1 GG abzuleitenden Schutzpflicht des Staates für Ehe und Familie kann sich ein Anspruch auf Besuch von Familienangehörigen auch außerhalb der allgemeinen Besuchstage ergeben (OLG Karlsruhe a. a. O.; s. a. BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 –, Rn. 19, zitiert nach juris). Die grundrechtlichen Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 GG strahlen in gewissem Ausmaß auch auf das der Ehe vorgelagerte Verlöbnis aus, auch wenn sie verfassungsrechtlich nicht zu gleichermaßen weitgehenden Schutzmaßnahmen verpflichten (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 28. September 2020 – 1 Ws 183/20 Vollz –, Rn. 13, zitiert nach juris).

Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird die Entscheidung der Antragsgegnerin zur Versagung von Langzeitbesuchen am Wochenende nicht gerecht. Es wurde bereits keine auf den Einzelfall bezogene Ermessenentscheidung unter Berücksichtigung der von dem Antragsteller vorgebrachten besonderen Umstände getroffen. Vielmehr wurde ersichtlich lediglich auf die in der Hausordnung allgemein geregelten Besuchszeiten abgestellt, ohne dass die Antragsgegnerin, wie es nach dem oben Gesagten geboten gewesen wäre, geprüft hätte, ob der Umstand, dass die Verlobte des Gefangenen zu den in nach der Hausordnung vorgesehenen Zeiten für Langzeitbesuche beruflich verhindert ist, auch bei Berücksichtigung berechtigter organisatorischer Belange der Anstalt nicht eine Ausnahme von den allgemeinen Besuchszeiten zulässt. Dies ist jedenfalls nicht von vornherein völlig auszuschließen.“