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Strafe III: Vollzug zur Verteidigung der Rechtsordnung?, oder: Meistens Zwei-Drittel-Entlassung beim Ersttäter

© rcx – Fotolia.comUnd dann noch zwei Entscheidungen, die sich mit Bewährungsfragen befassen.

Zunächst das BayObLG, Urt. v. 17.03.2025 – 203 StRR 613/24, das ich bereits einmal vorgestellt habe (vgl. hier: TOA III: Wiedergutmachungserfolg als Voraussetzung?, oder: Schweigen des Opfers). Zur Bewährung dann folgender Leitsatz:

Strafaussetzung zur Bewährung kann nach § 56 Abs. 3 StGB nur versagt werden, wenn sie für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert und von der Allgemeinheit als ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität angesehen werden könnte.

Und als zweite Entscheidung dann noch der OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.05.2025 – 1 Ws 58/25 – mit folgendem Leitsatz:

1.Bei einem Verurteilten, der erstmalig eine Freiheitsstrafe verbüßt, ist nach obergerichtlicher Rechtsprechung im Allgemeinen davon auszugehen, dass er nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe durch die Strafvollstreckung so nachhaltig beeinflusst sein wird, dass er sich zukünftig straffrei verhält.

2. Strafaussetzung zur Bewährung kann nach § 56 Abs. 3 StGB nur versagt werden, wenn sie für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert und von der Allgemeinheit als ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität angesehen werden könnte.

Gegenstandswert bei Streit mit JVA um Vollzugplan, oder: 600 EUR sind ein wenig knapp

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Und als zweites kommt hier der LG Stendal, Beschl. v. 20.03.2025 – 509 StVK 147/24 und 148/24.

Gegenstand der Entscheidung ist ein Strafvollstreckungsverfahren. In dem hatten der Strafgefangene und die JVA um die zeitnahe Erstellung eines Vollzugsplans für den Strafgefangenen gestritten. Der Gefangene hatte insoweit den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Nachdem die JVA während des Verfahrens den begehrten Eingliederungs- und Vollzugsplan erstellt hat, hat der Strafgefangene die Erledigung erklärt und den Erlass einer Kosten- und Auslagenentscheidung beantragt. Das LG hat gemäß § 121 Abs. 2 S. 2 StVollzG der Landeskasse die Kosten und die notwendigen Auslagen des Strafgefangenen auferlegt. Den Streitwert hat es auf 600 EUR festgesetzt.

„2. Nachdem sich der Hauptsacheantrag mit Aushändigung des Vollzugsplans erledigt hat, war gemäß § 121 Abs. 2 Satz 2 StVollzG daher nach billigem Ermessen allein über die Kosten und notwendigen Auslagen des Verfahrens zu entscheiden. Welche Kostenentscheidung „billig“ i.S.d. Gesetzes ist, bestimmt sich maßgeblich danach, welche Aussicht auf Erfolg der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ohne erledigendes Ereignis gehabt hätte.

Dies führte zu einer Auferlegung der Kosten auf die Landeskasse, da der Antrag nach summarischer Prüfung zulässig und begründet gewesen wäre. Die regelmäßige Dauer von 8 Wochen (§14 JVollzGB I LSA) war bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht unwesentlich überschritten war. Ebenso verhält es sich bei einer hypothetischen Entscheidung am 07.07.2024, als der Antragsteller erneut zurecht auf Entscheidung in der Sache drängte, da nunmehr knapp 7 Monaten seit Aufnahme in die JVA vergangen waren. Verzögerungen im Justizablauf sind dem Antragsteller in der Regel nicht bekannt und müssen von diesem auch nicht unbegrenzt hingenommen werden.

Zwar ist es grundsätzlich richtig ist, dass der Vollzugs- und Eingliederungsplan „regelmäßig“ in 8 Wochen zu erstellen ist und der Prozess daher in begründeten Einzelfällen auch länger als genau 8 Wochen dauern kann und darf.

Vorliegend ist es jedoch aufgrund der langen Zeit der Zusammenstellung der notwendigen Unterlagen ohne Verschulden der Antragsgegnerin zusätzlich zu einer Verzögerung gekommen, so dass die 8 Wochen-Frist bereits vor Beginn des Diagnoseverfahrens deutlich überschritten war.

In dem Wissen, dass die 8-Wochen-Frist des § 14 JVollzGB I LSA bereits mit der Aufnahme beginnt und bereits Verzug besteht, war die Antragsgegnerin zu einer besonders zügigen Durchführung des Diagnose- und Planfestsetzungsverfahrens gehalten. Zwar wurde dem Antragsteller das Ergebnis der Konferenz noch innerhalb der 8 Wochen, gerechnet ab Beginn des Diagnoseverfahrens durch die Antragsgegnerin mündlich erörtert. § 14 II, VIII JVollzGB I LSA sieht jedoch die Aushändigung des schriftlichen Planes in der Regel innerhalb von 8 Wochen nach Aufnahme vor.

3. Der Streitwert ist gemäß §§ 52, 60 GKG nach der sich aus dem Antrag des Antragstellers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Dabei sind die Tragweite der Entscheidung und die Auswirkungen eines Erfolges des Antrags für den Antragsteller zu berücksichtigen. Der in § 52 Abs. 2 GKG genannte Betrag von 5.000 Euro hat außer Betracht zu bleiben; denn er ist kein Ausgangswert, an den sich die Festsetzung nach Abs. 1 anzulehnen hätte, sondern als subsidiärer Ausnahmewert nur dann einschlägig, wenn der Sach- und Streitstand – anders als hier – keine genügenden Anhaltspunkte bietet, um den Streitwert nach der Grundregel des § 52 Abs. 1 GKG zu bestimmen (vgl. KG, Beschluss vom 25.06.2001, Az 5 Ws 296/01 zitiert nach juris).

Dabei sind folgende Erwägungen zu beachten:

Angesichts der geringen finanziellen Leistungsfähigkeit der meisten Gefangenen ist der Streitwert in Strafvollzugssachen grundsätzlich eher niedrig festzusetzen, da die Bemessung des Streitwerts aus rechtsstaatlichen Gründen nicht dazu führen darf, dass die Anrufung des Gerichts für den Betroffenen mit einem unzumutbar hohen Kostenrisiko verbunden ist. Andererseits ist darauf zu achten, dass die gesetzlichen Gebühren hoch genug sein müssen, um die Tätigkeit des Verteidigers wirtschaftlich vertretbar erscheinen zu lassen und dem rechtsunkundigen Gefangenen so die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistandes zu ermöglichen. Daher ist nach ständiger Rechtsprechung der Kammer der Streitwert in der Regel nicht unter 300 Euro festzusetzten (bei 0,1 Gebühr ca. 25 Euro).

Die Entscheidung ist gemäß §§ 121 Abs. 4 StVollzG, 464 Abs. 3 S. 1, 304 Abs. 3, 311 StPO unanfechtbar (vgl. Entscheidungen OLG Naumburg vom 07.09.2010, Az.: 1 Ws 461/10; OLG Düsseldorf vom 11.02.2009, 1 Ws 13/99, zitiert nach juris; OLG Celle vom 27.09.2005, 1 Ws 351/05, zitiert nach juris).“

Die Höhe des Streitwertes ist für mich nicht nachvollziehbar, da in der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen des Streits um den Vollzugsplan durchaus höhere Beträge festgesetzt worden sind. zudem erscheint der Streitwert im Hinblick auf das vom LG bemühte Argument, „dass die gesetzlichen Gebühren hoch genug sein müssen, um die Tätigkeit des Verteidigers wirtschaftlich vertretbar erscheinen zu lassen und dem rechtsunkundigen Gefangenen so die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistandes zu ermöglichen“, dann doch recht, wenn nicht zu, niedrig.

BtM III: Zurückstellung von der Strafvollstreckung, oder: Betäubungsmittelabhängigkeit/mehrere Taten

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Und dann gibt es zum Tagesschluss noch den BayObLG, Beschl. v. 21.10.2024 – 203 VAs 397/24 – zur Zurückstellung nach § 35 BtMG.

Der Verurteilte ist mit Urteil des LG Coburg vom 02.04.2024 wegen Vergewaltigung in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung, diese in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden. Nach den Feststellungen litt der Antragsteller im Tatzeitraum an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ sowie an einer Polytoxikomanie mit Abhängigkeit von Cannabinoiden, Methamphetamin, schädlichem Gebrauch von Alkohol, Opioiden, Sedativa und Hypnotika. Er nahm täglich die ihm verordneten Medikamente Quetiapin und Mirtazapin gegen den Suchtdruck ein, zudem konsumierte er annähernd täglich synthetische Cannabinoide, Crystal und Methylphenidat (Ritalin), wöchentlich Benzodiazepine und zweiwöchentlich Opioide, wahlweise nutzte er Fentanylpflaster. Nach dem Konsum von synthetischen Cannabinoiden führte er am 19.06.2023 in einem Hotel an einer Jugendlichen gegen deren Willen sexuelle Handlungen aus. Am 10.10. 2023 drang er in einem Badesee unter dem Einfluss von Ritalin und Alkohol gegen den Willen einer erwachsenen Geschädigten mit dem Finger in deren Scheide ein. Bei keiner der beiden Taten war die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten oder seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert oder aufgehoben. Das Landgericht hat sachverständig beraten das Vorliegen eines Hangs im Sinne von § 64 StGB angenommen, jedoch von der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt mangels eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem festgestellten Hang und der am 19.06.2023 begangenen Straftat abgesehen. Mit der am 10.07. 2023 begangenen Vergewaltigung hat sich das LG in diesem Zusammenhang nicht befasst.

Der Verurteilte hat dann bei der Staatsanwaltschaft unter Vorlage eines Bewilligungsbescheids der Rentenversicherung und einer im Laufe des Verfahrens aktualisierten Aufnahmezusage der Bezirksklinik Hochstadt beantragt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 35 BtMG zugunsten einer von ihm beabsichtigten Therapie zurückzustellen. Das wird abgelehnt. Dagegen der Antrag nach den §§ 23 ff. EGGVG, der dann beim BayObLG auch keinen Erfolg hatte:

„2. Rechtsfehlerfrei ist die Generalstaatsanwaltschaft zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs.1 Satz1, Abs. 3 Nr. 2 BtMG bezüglich der der Verurteilung vom 2. April 2024 zugrundeliegenden Tat vom 10. Juli 2023 und somit bezüglich der Gesamtfreiheitsstrafe nicht vorliegen.

a) Gemäß § 35 Abs.1 BtMG kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszugs die Vollstreckung einer Strafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass die Tat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde und der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Abs. 3 Nr. 2 der Vorschrift sieht eine entsprechende Geltung von Absatz 1 vor, wenn auf eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und ein zu vollstreckender Rest der Freiheitsstrafe oder der Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt und im übrigen die Voraussetzungen des Absatzes 1 für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten erfüllt sind. Danach ist hier die Zurückstellung der gegen den Antragsteller verhängten Gesamtfreiheitsstrafe nur möglich, wenn die der Verurteilung zugrundeliegende erheblichere Straftat aufgrund der Abhängigkeit begangen wurde.

b) Ein Kausalzusammenhang zwischen Abhängigkeit und Straftat im Sinne von § 35 Abs. 1 BtMG ist gegeben, wenn die Abhängigkeit nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Straftat entfiele (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst in MüKoStGB, 4. Aufl. 2022, BtMG § 35 Rn. 44; Fabricius in Patzak/Fabricius, BtMG, 11. Aufl. § 35 Rn. 95 ff., insb. 96 m.w.N.; Weber in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rn. 33). Die Abhängigkeit darf nicht nur begleitender Umstand, sondern muss die Bedingung der Straffälligkeit gewesen sein (Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 44; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96; Bohnen in BeckOK-BtMG, 23. Ed., § 35 Rn. 103). Eine Ursächlichkeit kann nicht bereits dann angenommen werden, wenn zum Zeitpunkt der Tat eine Betäubungsmittelabhängigkeit bestand oder wenn die Tat aus einer Betäubungsmittelabhängigkeit heraus zu erklären ist (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 44; Weber a.a.O. § 35 Rn. 35; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96). Andererseits reicht eine erhebliche Mitursächlichkeit aus, etwa bei einer Polytoxikomanie (vgl. Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 45; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96a). Die Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit muss mit Gewissheit bestehen (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 41; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 87, 96; Bohnen a.a.O. § 35 Rn. 103a; Weber a.a.O. § 35 Rn. 36). Umfangreiche Ermittlungen zur Feststellung des Kausalzusammenhangs sind im Rahmen des Verfahrens nach § 35 BtMG nicht geboten (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Weber a.a.O. § 35 Rn. 36; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 87). Liegen der Strafe mehrere Taten zugrunde, ist nach § 35 Abs. 3 BtMG entscheidend, ob der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der abgeurteilten und einbezogenen Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde. Bei der gebotenen zusammenfassenden Bewertung kommt der Art und Höhe einer Einzelstrafe maßgebliche Bedeutung zu, es sind aber auch Anzahl, Art, Begehungsweise, Umfang und Auswirkungen, mithin der Unrechts- und Schuldgehalt aller Taten, in die Würdigung einzubeziehen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Februar 2012 – 2 VAs 1/12 –, juris Rn. 9; Bohnen a.a.O. § 35 Rn. 112; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 113).

c) Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung steht der Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Frage des Kausalzusammenhangs zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der Tat grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23-, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 19; Weber a.a.O. § 35 Rn. 33, 142 m.w.N.), es sei denn, die Kausalität ergäbe sich hinreichend nachvollziehbar „aus den Urteilsgründen“ (vgl. § 35 Abs.1 BtMG, BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 16; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 2004 – 2 VAs 37/04 –, juris Rn. 4 m.w.N.; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 92 m.w.N.; Weber a.a.O. § 35 Rn. 43 m.w.N.). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Denn dem Urteil lässt sich auch unter Berücksichtigung der Ausführungen zu § 64 StGB und der Bejahung eines Hangs zwar die zur Tatzeit bestehende Betäubungsmittelabhängigkeit, nicht jedoch die von § 35 BtMG geforderte unmittelbare Kausalität zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der abgeurteilten Vergewaltigung entnehmen. Das erkennende Gericht hat als Ursache für die Vergewaltigung weder die Alkoholsucht noch die Betäubungsmittelabhängigkeit festgestellt, sondern die Ursache offen gelassen.

d) Die Annahme eines Beurteilungsspielraums der Vollstreckungsbehörde hat zur Folge, dass die gerichtliche Nachprüfung eingeschränkt ist. Kommt ein Beurteilungsspielraum zum Tragen, prüft der Senat nur, ob die Vollstreckungsbehörde von einem vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und sich innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums gehalten hat (vgl. zur Einschränkung der gerichtlichen Überprüfung eines Beurteilungsspielraums Gerson in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 28 GVGEG Rn. 25, 27; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Juli 2017 – 2 VAs 15/17 –, juris Rn. 8 m.w.N.).

e) Danach ist es hier mit Blick auf die Umstände der Tatbegehung nicht zu beanstanden, dass sich die Vollstreckungsbehörde von einer Kausalität der Betäubungsmittelabhängigkeit bezogen auf die Vergewaltigung als dem gewichtigeren Delikt nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu überzeugen vermochte und infolgedessen gehalten war, die Zurückstellung abzulehnen (zu der in diesem Fall gebundenen Entscheidung Weber a.a.O. § 35 Rn. 144 m.w.N.; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 332). Begeht ein suchtkranker Angeklagter eine Vergewaltigung nach dem Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln, so versteht es sich nämlich nicht von selbst, dass die Betäubungsmittelabhängigkeit kausal für die Tat war. In Betracht kommt auch ein sexuelles Verlangen (vgl. Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 111; Weber a.a.O. § 35 Rn. 37). Zudem ist bei dem Antragsteller neben der Polytoxikomanie auch eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ diagnostiziert worden. Die damit einhergehende Schwierigkeit bei der Kontrolle von Impulsen kommt ebenfalls als bestimmender Faktor für das am 10. Juli 2023 begangene Sexualdelikt in Betracht. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Dass sie verfügbare weitere Erkenntnisquellen nicht herangezogen hätte, trägt auch der Antragsteller nicht vor.

f) Aus der Benennung der Registervergünstigung des § 17 Abs.2 BZRG in der Liste der angewendeten Vorschriften ergibt sich für sich alleine keine Bindungswirkung für die Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Annahme einer unmittelbaren Kausalität zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der abgeurteilten Straftaten (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 22 ff.; KG, Beschluss vom 15. Februar 2016 – 1 VAs 1/16 -, juris Rn. 12; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 83a; Weber a.a.O. § 35 Rn. 44).

g) Die vom Antragsteller behauptete Zusicherung der Vorsitzenden des erkennenden Gerichts ist nach dem Inhalt ihrer dienstlichen Stellungnahme nicht bewiesen. Sein diesbezüglicher Vortrag ist bereits aus diesem Grund nicht geeignet, einen Vertrauensschutztatbestand bezüglich einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 35 BtMG zu schaffen.

Pflichti I: Gutachten bei der Reststrafaussetzung, oder: Bei Aussage-gegen-Aussage gibt es nicht immer Pflichti

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Heute dann „Pflichtverteidigungsentscheidung“.

Ich eröffne den Reigen mit zwei Entscheidungen zum Beiordnungsgrund, und zwar einmal BGH und einmal OLG Brandenburg.

Der BGH hat im BGH, Beschl. v. 08.01.2025 – StB 71/24 – die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafvollstreckungsverfahren betreffennd Strafrestaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StPO abgelehnt:

„2. Das Rechtsmittel ist jedoch unbegründet.

a) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Vollstreckungsverfahren, namentlich im Verfahren über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung, kommt – in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO – nur ausnahmsweise in Betracht, wenn besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage im Vollstreckungsverfahren oder die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 9 mwN). Insofern ist eine zurückhaltende Handhabung angezeigt, weil das Strafvollstreckungsverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers in weit geringerem Maße erfordert als das Erkenntnisverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 2002 – 2 BvR 613/02, NJW 2002, 2773, 2774).

b) Hieran gemessen hat der gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 in Verbindung mit § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO für die Entscheidung zuständige Vorsitzende des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts zu Recht die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt.

aa) Die Sach- und Rechtslage des Vollstreckungsverfahrens weist keine besonderen Schwierigkeiten auf; es handelt sich vielmehr um einen typischen Fall der Prüfung der Voraussetzungen für eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe, der keine Besonderheiten erkennen lässt. Die zu beantwortenden Fragen werfen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten auf. Weder die Dauer der bislang vollstreckten Strafe noch der zu vollstreckende Strafrest lassen den Vollstreckungsfall als so schwerwiegend erscheinen, dass eine Pflichtverteidigerbestellung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO notwendig wäre. Zudem sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verurteilte, der hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache hat, seine Rechte im Vollstreckungsverfahren selbst nicht sachgerecht wahrnehmen kann.

bb) Der Umstand, dass gegebenenfalls im weiteren Verlauf des Verfahrens über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung ein kriminalprognostisches Gutachten gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO einzuholen sein wird, gebietet eine Pflichtverteidigerbestellung jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt gleichfalls nicht. Zwar kann die Erörterung eines solchen Gutachtens im Einzelfall eine Pflichtverteidigerbestellung erfordern, wenn hierfür besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten erforderlich sind, über die der Verurteilte nicht verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358). Auch in den Fällen einer nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO gebotenen Einholung eines kriminalprognostischen Gutachtens ist aber in aller Regel keine Pflichtverteidigerbestellung veranlasst, solange das Gutachten noch nicht vorliegt oder – wie hier – noch nicht einmal eine Entscheidung darüber getroffen worden ist, ob es einer kriminalprognostischen Begutachtung des Verurteilten bedarf (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, NStZ-RR 2022, 357, 358).

cc) Schließlich ergibt sich die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung für die anstehende Vollstreckungsentscheidung nicht schon daraus, dass hier statt einer Strafvollstreckungskammer gemäß § 462a Abs. 5 Satz 1 StPO das Oberlandesgericht zu entscheiden hat (vgl. diesbezüglich näher BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 – StB 26/22, BGHR StPO § 140 Abs. 2 Vollstreckungsverfahren 1 Rn. 17).“

Und dann habe ich hier noch den OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.1.2025 – 1 Ws 161/24 (S) -, ergangen in einem Verfahren wegen sexuellen Übergriffs. Das LG hatte im Berufungsverfahren den Beiordnungsantrag zurückgewiesen. Das hat beim OLG „gehalten“.

„a) Nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation erfordert die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Vielmehr kommt eine Beiordnung insbesondere dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen den Angeklagten belastende Indizien hinzutreten mit der Folge, dass von einer schwierigen Beweiswürdigung nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2008, 1 Ws 517/08, Rz. 4, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 09. Juli 2020, 5 Ws 202/20, Rz. 8, BeckRS 2020, 21130; Krawczyk in: BeckOK StPO, 53. Edition, Stand: 01. Oktober 2024, Rz. 29). Ist dagegen aus weiteren Indizien nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen zu schließen, sind dessen Angaben einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen mit der Folge, dass die Beiordnung eines Verteidigers erforderlich ist (OLG Hamm a. a. O.).

Gemessen hieran, bestand vorliegend keine schwierige Sachlage, welche die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen ließ (§ 140 Abs. 2 StPO). Die Berufungskammer hat neben der Geschädigten deren Lebensgefährten als Zeugen vernommen, der Zeuge stützte die den Angeklagten belastenden Angaben der Geschädigten. Zudem wurden die Chatnachrichten zwischen der Geschädigten und ihrer Mutter vom Tattag in die Beweisaufnahme eingeführt, auch sie bekräftigten die Aussage der Geschädigten. Insgesamt bestand sonach eine Prozesssituation, in der zur Aussage der einzigen Belastungszeugin weitere Indizien hinzutraten, aus denen auf die Richtigkeit deren Angaben geschlossen werden konnte. Allein die zeitliche Dauer der Beweisaufnahme vermag zu keiner anderen Sichtweise zu führen.

StPO III: Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung, oder: Analoge Anwendung der Wiederaufnahme?

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Und als Letztes dann noch etwas aus dem Bereich der Strafvollstreckung, nämlich die Frage, ob die §§ 359 ff. StPO auf eine Widerrufsentscheidung nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB analog anwendbar sind. Das OLG Saarbrücken hat das im OLG Saarbrücken, Beschl. v. 03.12.2024 – 1 Ws 236/24 – verneint:

„2. Es ist jedoch unbegründet, da die Strafvollstreckungskammer eine Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Widerrufsverfahrens zutreffend abgelehnt hat. Für die beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage.

a) Die §§ 359 ff., 373a StPO lassen eine Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil oder Strafbefehl abgeschlossenen Strafverfahrens zu. Eine Wiederaufnahme des Widerrufsverfahrens ermöglichen die Vorschriften ihrem eindeutigen Wortlaut nach nicht.

b) Eine analoge Anwendung der eng auszulegenden Ausnahmevorschriften scheidet bereits deshalb aus, weil es an einer für eine Analogie erforderlichen planwidrigen Regelungslücke fehlt (so auch OLG Stuttgart, Beschlüsse vom 18. Dezember 1995 – 2 Ws 248/95 –, juris und vom 26. Januar 2001 – 2 Ws 16/2001 –, juris; OLG Zweibrücken NStZ 1997, 55; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 6. Mai 1999 – 2 Ws 1/99 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Dezember 2003 – III-3 Ws 454/03 –, juris; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., Vor § 359 Rn. 5; vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 29. August 2012 – 2 Ws 130/12 –, juris; OLG Koblenz BeckRS 2016, 138014; a.A. OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; OLG Düsseldorf MDR 1993, 67; Frister in: SK-StPO, 5. Aufl., Vor § 359 Rn. 22; offengelassen von BGH, Beschluss vom 14. Februar 2024 – 2 ARs 176/23 –, juris). Dass es im Interesse der materiellen Gerechtigkeit geboten sein kann, die Rechtskraft von Entscheidungen zu durchbrechen (vgl. hierzu Schmitt in: Meyer-Goßner, StPO, a.a.O., Rn. 1), hat der Gesetzgeber – wie sich aus den genannten Vorschriften ergibt – bedacht und die Regelungen der §§ 359 ff. 373 StPO ausdrücklich auf rechtskräftige Urteile und Strafbefehle beschränkt. Auch das mögliche Erfordernis der Durchbrechung der Rechtskraft von Beschlüssen ist ihm – wie sich aus den Vorschriften der §§ 174 Abs. 2, 211, 454a Abs. 2 StPO ergibt – nicht aus dem Blick geraten (so auch OLG Zweibrücken, a.a.O.). Dennoch hat er eine gesetzliche Regelung zur Ermöglichung einer Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Widerrufsverfahrens für den Fall der Wiederaufnahme des dem Widerruf zugrundeliegenden Strafverfahrens trotz der naheliegenden Problematik nicht getroffen, und zwar auch nicht nachträglich, nachdem in der Rechtsprechung eine analoge Anwendung der §§ 359 ff. StPO abgelehnt worden war (vgl. hierzu auch OLG Stuttgart, a.a.O.; Hanseatisches OLG, a.a.O.). Diese Entscheidung des Gesetzgebers, dem allein es innerhalb der Grenzen des Willkürverbotes obliegt, das Spannungsverhältnis zwischen der mit der Rechtskraft einhergehenden Rechtssicherheit und dem Gebot materieller Gerechtigkeit in einen angemessenen Ausgleich zu bringen (vgl. BverfGE 35, 41; Hanseatisches OLG, a.a.O.), ist hinzunehmen.

c) Eine analoge Anwendung der §§ 359 ff. StPO scheidet im Übrigen auch deshalb aus, weil der Fall einer rechtskräftigen, mit der tatsächlichen Sachlage nicht übereinstimmenden strafrechtlichen Verurteilung und der eines rechtskräftigen Widerrufs nicht gleich schwer wiegen und daher keine vergleichbare Sachlage vorliegt. Während es für eine Strafvollstreckung in erstgenanntem Fall aus nachträglich bekanntgewordenen Gründen bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung an einer tragfähigen Grundlage beruhte, ist Grundlage der Strafvollstreckung gegen den von der Widerrufsentscheidung betroffenen Verurteilten weiterhin seine nicht in Frage stehende rechtskräftige Ausgangsverurteilung (vgl. hierzu auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Januar 2001 – 2 Ws 16/2001 –, juris).

d) Zu einer unbilligen Härte führt das gewonnene Ergebnis im konkreten Fall nicht. Abgesehen davon, dass es dem Verurteilten unbenommen gewesen wäre, den am 24. Mai 2024 erlassenen Widerrufsbeschluss fristgerecht anzufechten und die bereits am 28. August 2024 erfolgte Wiederaufnahme des Verfahrens im erst durch die Senatsentscheidung vom 7. Oktober 2024 abgeschlossenen Beschwerdeverfahren geltend zu machen, ist derzeit offen, ob die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung trotz der erfolgten Wiederaufnahme des dem Widerrufsbeschluss zugrundeliegenden Strafverfahrens vor Abschluss des Wiederaufnahmeverfahrens, in dem Hauptverhandlungstermin bereits für den 9. Januar 2025 bestimmt ist, weiterbetreiben wird. Sollte dies der Fall sein, bliebe dem Verurteilen die Möglichkeit, gegenüber der Vollstreckungsbehörde (vgl. hierzu Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 458 Rn. 7 m.w.N.) Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Strafvollstreckung zu erheben (vgl. hierzu auch Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 458 Rn. 6; Appl in: Engländer/Zimmermann in: MüKo-StPO, 2. Aufl., § 359 Rn. 32; KK-StPO, 9. Aufl., § 359 Rn. 14a). Letztlich steht dem Verurteilten auch der Gnadenweg weiter offen, da ein bereits gestellter Gnadenantrag des Verurteilten lediglich unter Hinweis auf die zum Zeitpunkt der (vorläufigen) Gnadenentscheidung noch nicht ausgeschöpften weiteren Rechtsmittelmöglichkeiten zurückgewiesen wurde.