Und dann gibt es zum Tagesschluss noch den BayObLG, Beschl. v. 21.10.2024 – 203 VAs 397/24 – zur Zurückstellung nach § 35 BtMG.
Der Verurteilte ist mit Urteil des LG Coburg vom 02.04.2024 wegen Vergewaltigung in Tatmehrheit mit sexueller Nötigung, diese in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden. Nach den Feststellungen litt der Antragsteller im Tatzeitraum an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ sowie an einer Polytoxikomanie mit Abhängigkeit von Cannabinoiden, Methamphetamin, schädlichem Gebrauch von Alkohol, Opioiden, Sedativa und Hypnotika. Er nahm täglich die ihm verordneten Medikamente Quetiapin und Mirtazapin gegen den Suchtdruck ein, zudem konsumierte er annähernd täglich synthetische Cannabinoide, Crystal und Methylphenidat (Ritalin), wöchentlich Benzodiazepine und zweiwöchentlich Opioide, wahlweise nutzte er Fentanylpflaster. Nach dem Konsum von synthetischen Cannabinoiden führte er am 19.06.2023 in einem Hotel an einer Jugendlichen gegen deren Willen sexuelle Handlungen aus. Am 10.10. 2023 drang er in einem Badesee unter dem Einfluss von Ritalin und Alkohol gegen den Willen einer erwachsenen Geschädigten mit dem Finger in deren Scheide ein. Bei keiner der beiden Taten war die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten oder seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert oder aufgehoben. Das Landgericht hat sachverständig beraten das Vorliegen eines Hangs im Sinne von § 64 StGB angenommen, jedoch von der Anordnung einer Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt mangels eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen dem festgestellten Hang und der am 19.06.2023 begangenen Straftat abgesehen. Mit der am 10.07. 2023 begangenen Vergewaltigung hat sich das LG in diesem Zusammenhang nicht befasst.
Der Verurteilte hat dann bei der Staatsanwaltschaft unter Vorlage eines Bewilligungsbescheids der Rentenversicherung und einer im Laufe des Verfahrens aktualisierten Aufnahmezusage der Bezirksklinik Hochstadt beantragt, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 35 BtMG zugunsten einer von ihm beabsichtigten Therapie zurückzustellen. Das wird abgelehnt. Dagegen der Antrag nach den §§ 23 ff. EGGVG, der dann beim BayObLG auch keinen Erfolg hatte:
„2. Rechtsfehlerfrei ist die Generalstaatsanwaltschaft zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs.1 Satz1, Abs. 3 Nr. 2 BtMG bezüglich der der Verurteilung vom 2. April 2024 zugrundeliegenden Tat vom 10. Juli 2023 und somit bezüglich der Gesamtfreiheitsstrafe nicht vorliegen.
a) Gemäß § 35 Abs.1 BtMG kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszugs die Vollstreckung einer Strafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass die Tat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde und der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Abs. 3 Nr. 2 der Vorschrift sieht eine entsprechende Geltung von Absatz 1 vor, wenn auf eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und ein zu vollstreckender Rest der Freiheitsstrafe oder der Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt und im übrigen die Voraussetzungen des Absatzes 1 für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten erfüllt sind. Danach ist hier die Zurückstellung der gegen den Antragsteller verhängten Gesamtfreiheitsstrafe nur möglich, wenn die der Verurteilung zugrundeliegende erheblichere Straftat aufgrund der Abhängigkeit begangen wurde.
b) Ein Kausalzusammenhang zwischen Abhängigkeit und Straftat im Sinne von § 35 Abs. 1 BtMG ist gegeben, wenn die Abhängigkeit nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Straftat entfiele (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst in MüKoStGB, 4. Aufl. 2022, BtMG § 35 Rn. 44; Fabricius in Patzak/Fabricius, BtMG, 11. Aufl. § 35 Rn. 95 ff., insb. 96 m.w.N.; Weber in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 35 Rn. 33). Die Abhängigkeit darf nicht nur begleitender Umstand, sondern muss die Bedingung der Straffälligkeit gewesen sein (Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 44; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96; Bohnen in BeckOK-BtMG, 23. Ed., § 35 Rn. 103). Eine Ursächlichkeit kann nicht bereits dann angenommen werden, wenn zum Zeitpunkt der Tat eine Betäubungsmittelabhängigkeit bestand oder wenn die Tat aus einer Betäubungsmittelabhängigkeit heraus zu erklären ist (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 14; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49; Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 44; Weber a.a.O. § 35 Rn. 35; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96). Andererseits reicht eine erhebliche Mitursächlichkeit aus, etwa bei einer Polytoxikomanie (vgl. Kornprobst a.a.O. § 35 Rn. 45; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 96a). Die Ursächlichkeit oder Mitursächlichkeit muss mit Gewissheit bestehen (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 41; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 87, 96; Bohnen a.a.O. § 35 Rn. 103a; Weber a.a.O. § 35 Rn. 36). Umfangreiche Ermittlungen zur Feststellung des Kausalzusammenhangs sind im Rahmen des Verfahrens nach § 35 BtMG nicht geboten (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23 –, juris Rn. 14; Weber a.a.O. § 35 Rn. 36; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 87). Liegen der Strafe mehrere Taten zugrunde, ist nach § 35 Abs. 3 BtMG entscheidend, ob der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der abgeurteilten und einbezogenen Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde. Bei der gebotenen zusammenfassenden Bewertung kommt der Art und Höhe einer Einzelstrafe maßgebliche Bedeutung zu, es sind aber auch Anzahl, Art, Begehungsweise, Umfang und Auswirkungen, mithin der Unrechts- und Schuldgehalt aller Taten, in die Würdigung einzubeziehen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Februar 2012 – 2 VAs 1/12 –, juris Rn. 9; Bohnen a.a.O. § 35 Rn. 112; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 113).
c) Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung steht der Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Frage des Kausalzusammenhangs zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der Tat grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu (Senat, Beschluss vom 13. Dezember 2023 – 203 VAs 419/23-, juris Rn. 14; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2024 – 204 VAs 62/24 –, juris Rn. 19; Weber a.a.O. § 35 Rn. 33, 142 m.w.N.), es sei denn, die Kausalität ergäbe sich hinreichend nachvollziehbar „aus den Urteilsgründen“ (vgl. § 35 Abs.1 BtMG, BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 16; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 2004 – 2 VAs 37/04 –, juris Rn. 4 m.w.N.; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 92 m.w.N.; Weber a.a.O. § 35 Rn. 43 m.w.N.). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Denn dem Urteil lässt sich auch unter Berücksichtigung der Ausführungen zu § 64 StGB und der Bejahung eines Hangs zwar die zur Tatzeit bestehende Betäubungsmittelabhängigkeit, nicht jedoch die von § 35 BtMG geforderte unmittelbare Kausalität zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der abgeurteilten Vergewaltigung entnehmen. Das erkennende Gericht hat als Ursache für die Vergewaltigung weder die Alkoholsucht noch die Betäubungsmittelabhängigkeit festgestellt, sondern die Ursache offen gelassen.
d) Die Annahme eines Beurteilungsspielraums der Vollstreckungsbehörde hat zur Folge, dass die gerichtliche Nachprüfung eingeschränkt ist. Kommt ein Beurteilungsspielraum zum Tragen, prüft der Senat nur, ob die Vollstreckungsbehörde von einem vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und sich innerhalb des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums gehalten hat (vgl. zur Einschränkung der gerichtlichen Überprüfung eines Beurteilungsspielraums Gerson in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 28 GVGEG Rn. 25, 27; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Juli 2017 – 2 VAs 15/17 –, juris Rn. 8 m.w.N.).
e) Danach ist es hier mit Blick auf die Umstände der Tatbegehung nicht zu beanstanden, dass sich die Vollstreckungsbehörde von einer Kausalität der Betäubungsmittelabhängigkeit bezogen auf die Vergewaltigung als dem gewichtigeren Delikt nicht mit der erforderlichen Gewissheit zu überzeugen vermochte und infolgedessen gehalten war, die Zurückstellung abzulehnen (zu der in diesem Fall gebundenen Entscheidung Weber a.a.O. § 35 Rn. 144 m.w.N.; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 332). Begeht ein suchtkranker Angeklagter eine Vergewaltigung nach dem Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln, so versteht es sich nämlich nicht von selbst, dass die Betäubungsmittelabhängigkeit kausal für die Tat war. In Betracht kommt auch ein sexuelles Verlangen (vgl. Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 111; Weber a.a.O. § 35 Rn. 37). Zudem ist bei dem Antragsteller neben der Polytoxikomanie auch eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ diagnostiziert worden. Die damit einhergehende Schwierigkeit bei der Kontrolle von Impulsen kommt ebenfalls als bestimmender Faktor für das am 10. Juli 2023 begangene Sexualdelikt in Betracht. Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde beruht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Dass sie verfügbare weitere Erkenntnisquellen nicht herangezogen hätte, trägt auch der Antragsteller nicht vor.
f) Aus der Benennung der Registervergünstigung des § 17 Abs.2 BZRG in der Liste der angewendeten Vorschriften ergibt sich für sich alleine keine Bindungswirkung für die Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Annahme einer unmittelbaren Kausalität zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit und der abgeurteilten Straftaten (BayObLG, Beschluss vom 28. Januar 2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 22 ff.; KG, Beschluss vom 15. Februar 2016 – 1 VAs 1/16 -, juris Rn. 12; Fabricius a.a.O. § 35 Rn. 83a; Weber a.a.O. § 35 Rn. 44).
g) Die vom Antragsteller behauptete Zusicherung der Vorsitzenden des erkennenden Gerichts ist nach dem Inhalt ihrer dienstlichen Stellungnahme nicht bewiesen. Sein diesbezüglicher Vortrag ist bereits aus diesem Grund nicht geeignet, einen Vertrauensschutztatbestand bezüglich einer Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nach § 35 BtMG zu schaffen.