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Bewährung II: 2/3-Aussetzung ohne Einwilligung?, oder: Ohne Einwilligung des Verurteilten geht es nicht

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Und als zweite Entscheidung dann etwas aus dem Verfahren zur Reststrafenaussetzung, nämlich Aussetzung der Reststrafe ohne Einwilligung des Verurteilten. Das OLG Hamm sagt im OLG Hamm, Beschl. v. 02.05.2024 – 3 Ws 174/24: Ohne Einwilligung geht es nicht:

„Mit Beschluss vom 27. Februar 2024 hat die Strafvollstreckungskammer die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung und Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe angeordnet sowie weitere Regelungen für die Bewährung getroffen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde. Nach Mitteilung der JVA X ist der Verurteilte mit einer Bewährungsaussetzung nicht einverstanden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und eine Bewährungsaussetzung abzulehnen.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig.

Sie ist gem. §§ 454 Abs. 1, Abs. 3 StPO, 57 Abs. 1 StGB statthaft. Sie ist auch rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist gem. § 311 Abs. 2 StPO eingelegt worden. Nach Auskunft der JVA X ist die angefochtene Entscheidung dem Verurteilten am 11. März 2024 zum Zweck der Zustellung ausgehändigt worden; an selben Tag ist seine Beschwerdeschrift beim Landgericht eingegangen.

Der Verurteilte ist durch die angefochtene Entscheidung auch beschwert. Gem. § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB setzt eine Aussetzung des Strafrests die Einwilligung des Verurteilten voraus. Deshalb ist anerkannt, dass eine Aussetzung ohne Einwilligung die verurteilte Person beschwert (OLG Celle, Beschluss vom 22. August 1977, 3 Ws 234/77, JR 1977, S. 337 f. mit zust. Anmerkung Stree; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 454, Rn. 44; Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 57, Rn. 20e). So verhält es sich im hier zu entscheidenden Fall: Mit Fax vom 11. März 2024 hat die JVA X eine schriftliche Erklärung des Verurteilten vom 7. Februar 2024 vorgelegt, nach der er auf seine vorzeitige Entlassung „verzichte“.

2. Aus den genannten Gründen hat das Rechtsmittel auch in der Sache Erfolg. Nachdem der Verurteilte mit einer bedingten Entlassung nicht einverstanden ist, sind die Voraussetzungen für eine Bewährungsaussetzung nicht erfüllt. Dies ist nach Auskunft der JVA Grund für die Rechtsmitteleinlegung des Verurteilten. Hinweise darauf, dass er es sich inzwischen anders überlegt hat, bestehen nicht.“

Auch nichts Neues, sonder nur Bestätigung der bekannten Rechtsprechung.

Bewährung I: Erstverbüßer-2/3-Drittel-Aussetzung, oder: Regelfall, wenn alle ok

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Heute geht es dann auf in die 25. KW des Jahres 2024. Zum Wochenauftakt gibt es zwei Entscheidungen zu Bewährungsfragen, beide kommen aus dem Vollstreckungsbereich.

Zunächst kommt hier der OLG Naumburg, Beschl. v. 27.05.2024 – 1 Ws 214/24 B-Sonst. Der Verurteilte verbüßt seit dem 24.11.2023 eine Strafe wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung Freiheitsstrafe von acht Monaten. Zwei Drittel der Strafe waren am 03.05.2024 verbüßt. Das Strafende ist auf den 23.07.2024 notiert. Die Strafvollstreckungskammer hat die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe nach Verbüßung von zwei Dritteln abgelehnt. Dagegen die soofortige Beschwerde, die beim OLG Erfolg hatte:

„Die nach § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte, form- und fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO) eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten ist begründet. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollstreckung der Strafreste zur Bewährung und eine bedingte Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft nach § 57 Abs. 1 StGB liegen vor.

1. Die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe ist – nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe und bei Einwilligung der verurteilten Person, so wie hier – zur Bewährung auszusetzen, wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Bei dieser Entscheidung sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes, das Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind (§ 57 Abs. 1 S. 2 StGB). Entscheidend für die Prognose nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB ist eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben der Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits. Isolierte Aussagen über die Wahrscheinlichkeit künftiger Straflosigkeit der Verurteilten sind wenig hilfreich. Vielmehr muss stets der Bezug zu den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Auge behalten werden. Dies bedeutet, dass je nach der Schwere der Straftaten, die von dem Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines Bewährungsbruchs zu erwarten sind, unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben der Verurteilten zu stellen sind. Das Gewicht der bei einem Rückfall drohenden Rechtsgutsverletzung wird im Regelfall wiederum nach Art und Schwere der Straftaten zu beurteilen sein, die der Verurteilte bereits begangen hat (BGH, Beschluss vom 25. April 2003, StB 4/03, Rn 5 m. w. N.; OLG Hamm, Beschluss vom 10. März 2020, 3 Ws 67/20, Rn 8 m. w. N.; jeweils zitiert nach juris).

Verbüßt der Verurteilte – wie vorliegend – erstmals eine Freiheitsstrafe und gibt seine Führung während des Vollzugs keinen Anlass zu gewichtigen Beanstandungen, so kann allerdings im Regelfall davon ausgegangen werden, dass die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet hat und es verantwortbar ist, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2003, StB 4/03, Rn 4, zitiert nach juris; Fischer, StGB, 71. Auflage, § 57 Rn. 14). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern erfährt wegen der vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit eine Einschränkung, wenn besondere Umstände – in Form von gewichtigen negativen Prognoseindizien – vorliegen (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18. Februar 2022 – 1 Ws 19/22 –, Rn. 5, KG Berlin, Beschluss vom 26. Mai 2021 – 5 Ws 88/21 –, Rn. 15, 16 m. w.N., zitiert nach juris). So kann eine Strafrestaussetzung trotz Erstverbüßung im Einzelfall ausscheiden, wenn die Umstände der Tatbegehung sowie das Umfeld des Verurteilten auf dessen nachhaltige Verstrickung in ein kriminogenes Milieu schließen lassen (beispielsweise beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln oder bei Taten der organisierten Kriminalität), in seiner Persönlichkeitsstruktur und seinen Lebensverhältnissen nach wie vor ernstzunehmende Rückfallrisiken angelegt sind (beispielsweise bei der wiederholten Begehung einschlägiger Straftaten, bei einer gravierenden, für wiederholte, erhebliche Straftaten ursächlichen Suchtproblematik oder mehrfachem Bewährungsversagen in Verbindung mit weiteren Umständen) oder wenn bei einem Rückfall Rechtsgüter von besonderem Gewicht bedroht sind, etwa bei schweren Gewalttaten oder bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (KG a. a. O.).

Die Vermutung, dass der erstmalige Strafvollzug bei dem Verurteilten einen deutlichen Eindruck hinterlassen hat und seine Entlassung verantwortet werden kann, ist in der Gesamtschau aller zu berücksichtigenden Umstände nicht entkräftet. Ihre gegenteilige Einschätzung, trotz des Status des Verurteilten als Erstverbüßer, seiner Mitarbeitsbereitschaft und seines beanstandungslosen Verhaltens im Vollzug sei der Strafzweck sei noch nicht erfüllt, hat die Leiterin der Jugendanstalt Raßnitz in ihrer Stellungnahme vom 14. März 2024 nicht weiter begründet. Die Vermutung ist insbesondere nicht schon allein deswegen widerlegt, weil der Verurteilte Bewährungsversager ist (siehe BGH a. a. O.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. Juni 2023 – 2 Ws 62/23 (S) –, Rn. 7; OLG Bamberg, Beschluss vom 20. Januar 2021 – 1 Ws 32/21 –, Rn. 11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. November 2007 – 2 Ws 308/07 –, Rn. 11; jeweils zitiert nach juris). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Verurteilte ausschließlich die der Ausgangsverurteilung zugrundeliegende Tat innerhalb der Bewährungszeit nach der Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe durch das Amtsgericht Wittenberg vom 10. November 2020 begangen hat. Alle weiteren Straftaten, aufgrund derer er verurteilt wurde, lagen vor dieser Verurteilung. Auch stand er zum Zeitpunkt der der Ausgangsverurteilung zugrundeliegenden Tat entgegen der Annahme der Generalstaatsanwaltschaft nicht zweifach unter Bewährung, sondern lediglich aufgrund des genannten Urteils des Amtsgericht Wittenberg vom 10. November 2020. Auch wenn der Verurteilte wegen einer schwerwiegenden Tat unter Bewährung stand, lässt sich doch aus dem – auch nicht mit einer hohen Rückfallgeschwindigkeit verbundenen – einmaligen Bewährungsbruch mit einer nicht einschlägigen Straftat keine besondere Unbelehrbarkeit des Verurteilten ableiten, die ausnahmsweise zu der Annahme berechtigt, dass die erstmalige Verbüßung von Strafhaft den Verurteilten nicht ausreichend beeindruckt hätte. Dies gilt nach Ansicht des Senats hier auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Verurteilte sich in dem Verfahren, das zu dem Urteil des Amtsgerichts Wittenberg vom 10. November 2020 geführt hat, von Oktober 2019 bis Februar 2020 für etwa drei Monate in Untersuchungshaft befunden hat. Denn diese erfolgte noch deutlich vor der Verurteilung durch das Amtsgericht Wittenberg vom 10. November 2020 und mehr als anderthalb Jahre vor Begehung der nicht einschlägigen Anlasstat und kann im Hinblick auf die nachhaltige und spezialpräventive Wirkung auf den Gefangenen auch nicht mit Strafhaft verglichen werden (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. Juni 2023 – 2 Ws 62/23 (S) –, Rn. 5, zitiert nach juris). Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Verurteilte nach einer Haftentlassung voraussichtlich keine Position als Geschäftsführer oder in ähnlicher Verantwortung innehaben wird, die zuvor zu der dem Freiheitsentzug zugrundeliegenden Tat geführt hat. Vielmehr strebt er ausweislich der bei der mündlichen Anhörung vorgelegten Bescheinigung eine Anstellung als Servicetechniker an. Berücksichtigt man ferner, dass der Verurteilte nach der Haftentlassung in ein stabiles soziales Umfeld zurückkehrt und bei einem Rückfall in Ansehung der Anlasstat kein besonders schwerwiegendes Rechtsgut bedroht ist, lässt sich die vorzeitige Entlassung des Verurteilten auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantworten.“

Nichts weltbewegend Neues, aber immerhin…. 🙂 .

Reststrafenaussetzung, oder: Erforderlichkeit der mündlichen Anhörung eines SV

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Heute dann quer durch den Garten :-).

Und den Spaziergangn beginne ich mit einer Entscheidung aus dem Bereich der Strafvollstreckung, den mir der Kollege Allgeier aus Mannheim vor einiger Zeit geschickt hat. Der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.04.20203 Ws 86/20 – behandelt die Frage der mündlichen Anhörung eines Sachverständigen bei der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung:

Es geht im Verfahren um die bedingte Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft wegen der Vollstrcekung eines Urteils des LG Mannheim wegen schweren sexuellen Missbrauchs zum Zwei-Drittel-Termin. Das LG hat die bedingte Entlassung abgelehnt, das OLG hat augehoben:

„Die gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache vorläufigen Erfolg. Zwar hat die Strafvollstreckungskammer aufgrund des von ihr zugrunde gelegten Sachverhalts mit ausführlicher Begründung die bedingte Entlassung abgelehnt. Jedoch gebietet in der vorliegenden Konstellation der Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung, den Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO unter Beteiligung der Behandler des Verurteilten mündlich anzuhören, bevor über die Reststrafenaussetzung entschieden wird.

Gemäß dieser Vorschrift ist der Sachverständige mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten und der Justizvollzugsanstalt Gelegenheit zu Mitwirkung zu geben ist. Die mündliche Anhörung ist obligatorisch. Sie soll den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit geben, im Anhörungstermin den Sachverständigen zu seinem Gutachten zu befragen und dem Gericht eine umfassende Sachaufklärung zu der Frage zu ermöglichen, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen kann das Gericht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO zwar regelmäßig absehen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft eindeutig einen entsprechenden Verzicht erklärt haben. Im Hinblick auf das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung kann die mündliche Anhörung des Sachverständigen aber trotz eines wirksamen Verzichts aller Verfahrensbeteiligten geboten sein (vgl. Löwe-Rosenberg/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., Rdn. 66 zu§ 454 m.w.N.; KK-Appl, StPO, 8. Aufl., Rdn. 29a zu § 454; MüKo-Nestler, StPO, 1. Aufl., Rdn. 58 zu § 454). Von einer solchen Anhörungspflicht ist insbesondere dann auszugehen, wenn der externe gerichtliche Sachverständige und die mit der Therapie des Verurteilten befassten Personen unterschiedliche diagnostische Bewertungen abgegeben haben. Zur bestmöglichen Aufklärung der richtigen Diagnose und der daraus sich ergebenden Folgerungen für die Kriminalprognose und die weitere Behandlung gebietet die Sachaufklärungspflicht in einer solchen Situation die mündliche Anhörung des Sachverständigen unter Beteiligung der Therapeuten des Verurteilten (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ7RR 2016, 355).

Unter Anlegung dieses rechtlichen Maßstabs ist vorliegend zur bestmöglichen Sachaufklärung die Anhörung des Sachverständigen unter Beteiligung der Therapeuten des Verurteilten geboten. Zwischen dem gerichtlichen Sachverständigen einerseits sowie andererseits den anstaltsinternen Behandlern der Behandlungsabteilung für Gewaltund Sexualstraftäter der JVA und dem externen Therapeuten des Verurteilten, Prof. Dr. P, besteht zwar Einigkeit, dass beim Verurteilten eine Pädophilie (ICD 10: F 65.4) vorliegt, jedoch wird unterschiedlich beurteilt, ob es sich dabei um eine sog. Kernpädophilie oder eine pädophile Nebenströmung handelt und in welchem Maße die bisherige Therapie erfolgreich war. Die Feststellung der richtigen Diagnose und die zutreffende Einschätzung der bisherigen Therapieerfolge sind aber -wovon die Strafvollstreckungskammer zutreffend ausgegangen ist – 3 Ws 86/20 – von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob und ggf. mit welchen flankierenden, insbesondere therapeutischen Maßnahmen vorliegend eine bedingte Entlassung verantwortet werden kann oder – im Falle der Ablehnung der bedingten Entlassung – welche weiteren therapeutischen Maßnahmen zur Einwirkung auf den Verurteilten geboten und im weiteren Strafvollzug möglich sind.

Hinzu kommt, dass das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. die Gutachtenfrage nicht eindeutig beantwortet, sondern – wie auch die Beschwerdebegründung zeigt – diesbezüglich zumindest Raum für Interpretationen lässt. Zwar hat der Sachverständige einerseits ausgeführt, dass aus seiner Sicht „die Gutachtenfrage nicht mit der in § 454 Abs. 2 StPO geforderten Dezidiertheit“ bejaht werden könne (Gutachten vom 30.11.2019, S. 54), andererseits scheinen seine Ausführungen darauf hinzudeuten, dass bei engmaschiger und hinreichend kritischer Überwachung des Verurteilten doch eine bedingte Entlassung möglich erscheine (vgl. Gutachten, S. 54 sowie S. 55 f.). Auch um einen etwaigen Widerspruch zwischen diesen Ausführungen aufzuklären, ist die mündliche Anhörung des Sachverständigen geboten.

Die entgegen § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO unterlassene Anhörung des Sachverständigen führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer (vgl. BGH, NStZ-RR 2012, 8; OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317).“

U-Haft II: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafenaussetzung – so geht es beim BGH

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Im ersten Posting des heutigen Tages: U-Haft I: „Hohe Freiheitsstrafe“ und Reststrafaussetzung, oder: Olle Kamellen ging es um den KG, Beschl. v. 13.09.2016 – 4 Ws 130/16. Dieses Posting betrifft jetzt den BGH, Beschl. v. 02.11.2016 –   StB 35/16, der in einem Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a. ergangen ist, geht es auch um die Frage der U-Haft und des Haftgrundes der Fluchtgefahr. Die Problematik ist ähnlich wie in dem KG, beschl. v. 13.09.2016. Der BGH:

2.a) Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nach Verurteilung des Angeklagten zu einer Jugendstrafe von drei Jahren sowie fast zehneinhalbmonatigem Untersuchungshaftvollzug fort.

Von der Straferwartung, die sich nach der Verurteilung des Angeklagten auf die verhängte Jugendstrafe konkretisiert hat (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, § 112 Rn. 52), geht weiterhin ein ganz erheblicher Fluchtanreiz aus. Zwar nimmt der Angeklagte im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend an, dass hierfür die sog. Nettostraferwartung maßgebend ist, so dass von dem festgelegten Strafmaß neben der vollzogenen Untersuchungs-haft (§ 51 Abs. 1 Satz 1 StGB) eine wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzte Reststrafe in Abzug zu bringen sein kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 23; MüKoStPO/Böhm/Werner aaO, Rn. 53). Dem Angeklagten ist jedoch nicht darin zu folgen, dass er mit einer Reststrafenaussetzung tatsäch-lich rechnen kann. Das gilt unabhängig davon, ob § 88 JGG oder § 57 StGB zur Anwendung kommt (zur Frage des gesetzlichen Maßstabs im Fall einer Abgabe der Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft [§ 85 Abs. 6, § 89b Abs. 1 Satz 2 JGG] vgl. die Nachweise bei OLG Hamm, Beschluss vom 5. Februar 2015 – III-2 Ws 33/15, juris Rn. 17 f.; MüKoStGB/Groß, 3. Aufl., § 57 Rn. 9 Fn. 25).

Wie bereits das Kammergericht in seiner Nichtabhilfeentscheidung zutreffend ausgeführt hat, spricht schon das Vollzugsverhalten des Angeklagten gegen eine Reststrafenbewährung. Er hat in mindestens fünf Fällen an ver-schiedenen Tagen in den Monaten April bis Juni 2016 gegen die Hausordnung der Justizvollzugsanstalt verstoßen, dabei mehrfach Bedienstete beleidigt und in einem Fall bei Widerstandshandlungen versucht, Bedienstete durch Kopfstöße und Fußtritte zu verletzen.

Auch das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit steht jedenfalls derzeit einer Reststrafenaussetzung entgegen; denn nach den Ausführungen des Kammergerichts war in der Hauptverhandlung nicht erkennbar, dass sich der Angeklagte von seiner jihadistischen Grundeinstellung wirklich distanziert hätte. Auf diese Beurteilung der Geisteshaltung des Angeklagten kommt es für den Senat als Beschwerdegericht in besonderer Weise an; denn der Senat selbst hat keinen unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten in der Hauptverhandlung gewonnen. Hinzu kommt, dass die Annahme der Fluchtgefahr kein sicheres Wissen um die sie begründenden Tatsachen voraussetzt. Sie müssen gerade nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen; insoweit genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie bei der Annahme des dringenden Tatverdachts (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 22 mwN).

Die Umstände, die gegen eine zu erwartende Reststrafenaussetzung sprechen, vergrößern zugleich die Besorgnis, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entzieht, weil sie Zweifel an seiner Zuverlässigkeit begründen. Soweit die Beschwerde auf das vom Angeklagten in der Hauptverhandlung an den Tag gelegte Wohlverhalten gegenüber dem Gericht verweist, deutet dies nur darauf hin, dass er willens und fähig ist, sein Verhalten nach Zweckmäßig-keitsgesichtspunkten zu steuern, zumal er sich Bediensteten der Justizvoll-zugsanstalt gegenüber auch über Richter abfällig äußerte.

Hinzu kommt, dass der Angeklagte auch türkischer Staatsangehöriger ist, über Fremdsprachenkenntnisse und Auslandskontakte verfügt, sich von September 2009 bis Dezember 2015 im Ausland aufhielt und trotz des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2012 nicht ergriffen werden konnte. Diesbezüglich verweist der Senat auf die Ausführungen im Haftbefehl des Kammergerichts vom 20. Mai 2016 und in dessen Nichtabhilfeentscheidung vom 4. Oktober 2016.

Den benannten die Fluchtgefahr begründenden Umständen stehen auch mit Blick darauf, dass sich der Angeklagte selbst stellte und mittlerweile wieder über stabile familiäre Bindungen in Deutschland verfügt, hinreichend gewichtige fluchthindernde Umstände nicht entgegen.

Nach alledem kann dahinstehen, inwieweit, wie das Kammergericht meint, weitere gegen den Angeklagten geführte, noch offene Ermittlungsverfah-ren die Fluchtgefahr erhöhen, namentlich dasjenige wegen des Verdachts der Mitgliedschaft im Islamischen Staat (IS). Insbesondere kommt es hier nicht darauf an, ob die Berücksichtigung eines anderen Strafverfahrens einen bestimm-ten Verdachtsgrad für eine Tatbegehung oder -beteiligung voraussetzt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. November 1992 – 3 Ws 636/92, MDR 1993, 371; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 112 Rn. 19).“

Auch eine StVK sollte mal rechnen, oder: Verwertungsverbot für getilgte Vorstrafen

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Für die Strafvollstreckungsrechtler unter uns weise ich hin auf den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 03.06.2015 – 2 Ws 194/15. Es geht um die Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB. Die war vom LG nach Einholung eines kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens abgelehnt worden. Das OLG sagt, so nicht. Denn:

„Als ungünstigen Risikofaktor wertete der Sachverständige hierbei maßgeblich die Vordelinquenz des Verurteilten. Die sich den Ausführungen des Sachverständigen anschließende Strafvollstreckungskammer hat insoweit verkannt, dass die im Gutachten ausführlich erörterten – einschlägigen – Vorstrafen des Verurteilten aus den Jahren 1998 und 2001 nicht zum Nachteil des Beschwerdeführers hätten verwertet werden dürfen, da diese Verurteilungen aus dem Bundeszentralregister getilgt sind und somit ein gesetzliches Verwertungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 BZRG, das auch bei Entscheidungen über die Aussetzung des Strafrestes einer Freiheitsstrafe nach § 57 StGB zu beachten ist, besteht (vgl. BeckOK-Bücherl, Stand: 15.1.2015, § 51 BZRG, Rn. 28; KG Berlin, Beschluss vom 6.3.1998, 1 AR 216/985 Ws 141/98, BeckRS 1998, 15153; OLG Celle, Beschluss vom 5.8.2011, 1 Ws 282/11, BeckRS 2011, 21234).

Auch § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG kann eine solche Verwertung nicht rechtfertigen, da mit Geisteszustand i.S. des § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG der psychische Zustand des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tatbegehung gemeint ist und nicht die – hier im Rahmen der Strafaussetzung – zu treffende Prognoseentscheidung zur Gefährlichkeit des Verurteilten (BGH, Beschluss vom 28.08.2012, 3 StR 309/12).“

Also: Verwertungsverbot für getilgte Vorstrafen auch bei der Legalprognose nach § 57 StGB. Gelegentlich sollte man als StVK auch mal rechnen.