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U-Haft III: Fluchtgefahr beim Erstverbüßer?, oder: Ausnahmefall?

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Und die dritte und letzte Haftentscheidung des heutigen Tages stammt ebenfalls vom KG. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 23.10.2018 – 2 Ws 205/18. Ergangen ist er in einem Verfahren wegen schweren Raubes. Der Angeklagte ist deswegen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Hiergegen hat er Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. Die Strafkammer hatte zugleich mit dem Urteil die Haftfortdauer beschlossen (§ 268b StPO). Dagegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten. Die hatte beim KG keinen Erfolg. Das führt zur Fluchtgefahr aus:

„2. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). In Fällen wie dem vorliegendem, in dem bereits ein auf eine unbedingte Freiheitsstrafe lautendes Urteil ergangen ist, ist zu berücksichtigen, dass die Untersuchungshaft nicht nur die Durchführung des Strafverfahrens gewährleisten, sondern auch die Vollstreckung der in dem Verfahren verhängten Freiheitsstrafe sicherstellen soll (vgl. KG, Beschlüsse vom 20. März 2014 – 3 Ws 131/14 –, vom 30. Juli 2012 – 3 Ws 422/12 –, vom 15. März 2012 – 3 Ws 155/12 – und vom 7. März 2014 – 4 Ws 21/14 –). Zwar hat der Angeklagte gegen das Urteil Revision eingelegt. Er muss aber damit rechnen, dass sein Rechtsmittel möglicherweise keinen Erfolg haben wird. Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn. 32 mwN) – dem Strafver­fahren entziehen.

a) Bei dieser Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand gene­reller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie sind aber jedenfalls der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Angeklagte werde diesem wahrscheinlich nachgeben (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Januar 2018 – 2 Ws 51/18 –).

Die Straferwartung beurteilt sich nach dem Erwartungshorizont des Haftrichters, in dessen Prognoseentscheidung die subjektive Erwartung des Angeklagten einzubeziehen ist (vgl. OLG Hamm StV 2001, 115). Dabei kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an, sodass die Anrechnung der Untersuchungshaft gemäß § 51 StGB und eine voraussichtliche Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes nach § 57 StGB die Straferwartung und den mit dieser verbundenen Fluchtanreiz unter Umständen verringern kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12 ­– StraFo 2013, 160; Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 – juris; Beschluss vom 4. April 2006 – 2 BvR 523/06 – juris; KG, Beschluss vom 3. November 2011 – 4 Ws 96/11 –, StV 2012, 350; Senat, Beschluss vom 27. April 2018 – 2 Ws 73/18 –).

Obgleich der Angeklagte Erstverbüßer ist, liegt eine vorzeitige Entlassung nach § 57 StGB nach gegenwärtigem Verfahrensstand eher fern. Zwar besteht grundsätzlich die Vermutung, dass der Strafvollzug einen Erstverbüßer im Allgemeinen beeindruckt und ihn von weiteren Straftaten abhalten kann (vgl. KG, NStZ-RR 1997, 27; Fischer, StGB 65. Aufl., § 57 Rn. 14). Diese Vermutung gilt jedoch nicht ausnahmslos und besagt insbesondere nicht, dass in den Fällen der Erstverbüßung gleichsam automatisch die für die Reststrafenaussetzung erforderliche günstige Legalprognose bejaht werden kann. In welchem Maß es wahrscheinlich sein muss, dass ein Täter nicht wieder straffällig wird, hängt wegen der vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellten Sicherheits­interessen der Allgemeinheit von dem Gewicht der bedrohten Rechtsgüter und den Eigenheiten der Persönlichkeit eines Verurteilten ab (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. Februar 2009 – 2 Ws 45/09 – und 29. Mai 2008 – 2 Ws 211-213/08 –; KG, Beschlüsse vom 24. Januar 2002 – 5 Ws 39/02 – und 11. Juli 2000 – 5 Ws 464/00 –).

So erfährt die für den Erstverbüßer sprechende Vermutung Einschränkungen bei besonders sicherheitsrelevanten Delikten, wie Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität (vgl. KG, Beschlüsse vom 11. Juli 2000 – 5 Ws 464/00 – juris Rn. 6; Beschlüsse vom 7. Oktober 2016 – 5 HEs 15-16/16 – und vom 31. Mai 2016 – 5 HEs 6-7/16 – juris) oder bei Betäubungsmitteldelikten – wegen der außerordentlichen Gefährdung, die derartige Taten für das Leben und die Gesundheit Dritter bedeuten (vgl. KG, Beschlüsse vom 6. Juli 2006 – 5 Ws 273/06 –, juris Rn. 4; und vom 9. März 2017 – 5 HEs 3-5/17 –). Gleichermaßen sind bei wegen Gewalttaten Verurteilten erhöhte Anforderungen an eine günstige Sozialprognose zu stellen, denn je höher die Wertigkeit des verletzten Rechtsgutes ist, desto größer muss die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit sein (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2011 – StB 14/11 –, juris Rn. 5; KG, Beschlüsse vom 17. August 2017 – 5 Ws 167/17 –, vom 5. April 2016 – 5 Ws 38 + 39/16 –, mwN). Darüber hinaus ist ein strengerer Maßstab auch dann geboten, wenn der Verurteilte durch sein strafrechtlich relevantes Vorleben hat erkennen lassen, dass bei ihm erhebliche tatursächliche Charakterschwächen vorhanden sind und er zudem durch einen Bewährungsbruch bewiesen hat, dass der von ihm bereits einmal vermittelte günstige Eindruck falsch war (vgl. Senat, Beschlüsse vom 7. Dezember 2017 – 2 Ws 152-153/17 –, vom 20. August 2014 – 2 Ws 274/14 –; KG, Beschluss vom 29. August 2006 – 5 Ws 436/06 – mwN).

b) Der Beschwerdeführer ist wiederholt wegen Delikten aufgefallen, bei denen er mit Gewalt gegen andere vorgegangen ist oder die sich gegen deren körperliche Integrität richteten. Im Einzelnen: Vorliegend ist der Angeklagte wegen eines – von ihm eingeräumten – schweren Raubes verurteilt worden. Hinzu kommt, dass er nur wenige Monate vor der hiesigen Tat vom Amtsgericht Ravensburg – Jugendschöffengericht – bereits wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Nötigung und Beleidigung und im anderen Fall in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und tatsächlicher Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen verurteilt worden war. Dass angesichts dieser Delikte ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen ist, zeigt sich auch darin, dass vor einer etwaigen vorzeitigen Entlassung ein Gutachten eines Sachverständigen zur Gefährlichkeit des Beschwerdeführers eingeholt werden müsste (vgl. § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. §§ 66 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 Nr.1b, 250 StGB). Besondere Umstände, die nach alledem für eine frühzeitige Haftentlassung streiten, sind auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens derzeit nicht ersichtlich. Danach hat der Beschwerdeführer – nach Anrechnung der bisher vollzogenen Unter­suchungshaft – noch mit einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe von knapp drei Jahren zu rechnen.

c) Aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses der Strafkammer vom 18. September 2018 sowie aus dem weiteren Akteninhalt ist davon auszugehen, dass der Angeklagte sich der Vollstreckung einer möglichen Freiheitsstrafe entziehen wird. Die von der Strafkammer umfassend gewürdigten persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers lassen befürchten, dass er dem aus der hohen Straferwartung resultierenden Fluchtanreiz nachgeben wird. Der Beschwerdeführer hat im letzten Jahr wiederholt den Aufenthaltsort gewechselt und von Gelegenheitsarbeiten gelebt. Er verfügt über keine Meldeadresse; auch sind weitere stabilisierend wirkende Umstände in seinem privaten Umfeld nicht ersichtlich. Die von seiner Familie insbesondere seiner Mutter nunmehr angebotene Hilfe und Unterstützung hat der Beschwerdeführer auch in der Vergangenheit nicht angenommen.