Reststrafenaussetzung, oder: Erforderlichkeit der mündlichen Anhörung eines SV

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Heute dann quer durch den Garten :-).

Und den Spaziergangn beginne ich mit einer Entscheidung aus dem Bereich der Strafvollstreckung, den mir der Kollege Allgeier aus Mannheim vor einiger Zeit geschickt hat. Der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.04.20203 Ws 86/20 – behandelt die Frage der mündlichen Anhörung eines Sachverständigen bei der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung:

Es geht im Verfahren um die bedingte Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft wegen der Vollstrcekung eines Urteils des LG Mannheim wegen schweren sexuellen Missbrauchs zum Zwei-Drittel-Termin. Das LG hat die bedingte Entlassung abgelehnt, das OLG hat augehoben:

„Die gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache vorläufigen Erfolg. Zwar hat die Strafvollstreckungskammer aufgrund des von ihr zugrunde gelegten Sachverhalts mit ausführlicher Begründung die bedingte Entlassung abgelehnt. Jedoch gebietet in der vorliegenden Konstellation der Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung, den Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO unter Beteiligung der Behandler des Verurteilten mündlich anzuhören, bevor über die Reststrafenaussetzung entschieden wird.

Gemäß dieser Vorschrift ist der Sachverständige mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten und der Justizvollzugsanstalt Gelegenheit zu Mitwirkung zu geben ist. Die mündliche Anhörung ist obligatorisch. Sie soll den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit geben, im Anhörungstermin den Sachverständigen zu seinem Gutachten zu befragen und dem Gericht eine umfassende Sachaufklärung zu der Frage zu ermöglichen, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht. Von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen kann das Gericht gemäß § 454 Abs. 2 Satz 4 StPO zwar regelmäßig absehen, wenn der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft eindeutig einen entsprechenden Verzicht erklärt haben. Im Hinblick auf das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung kann die mündliche Anhörung des Sachverständigen aber trotz eines wirksamen Verzichts aller Verfahrensbeteiligten geboten sein (vgl. Löwe-Rosenberg/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., Rdn. 66 zu§ 454 m.w.N.; KK-Appl, StPO, 8. Aufl., Rdn. 29a zu § 454; MüKo-Nestler, StPO, 1. Aufl., Rdn. 58 zu § 454). Von einer solchen Anhörungspflicht ist insbesondere dann auszugehen, wenn der externe gerichtliche Sachverständige und die mit der Therapie des Verurteilten befassten Personen unterschiedliche diagnostische Bewertungen abgegeben haben. Zur bestmöglichen Aufklärung der richtigen Diagnose und der daraus sich ergebenden Folgerungen für die Kriminalprognose und die weitere Behandlung gebietet die Sachaufklärungspflicht in einer solchen Situation die mündliche Anhörung des Sachverständigen unter Beteiligung der Therapeuten des Verurteilten (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ7RR 2016, 355).

Unter Anlegung dieses rechtlichen Maßstabs ist vorliegend zur bestmöglichen Sachaufklärung die Anhörung des Sachverständigen unter Beteiligung der Therapeuten des Verurteilten geboten. Zwischen dem gerichtlichen Sachverständigen einerseits sowie andererseits den anstaltsinternen Behandlern der Behandlungsabteilung für Gewaltund Sexualstraftäter der JVA und dem externen Therapeuten des Verurteilten, Prof. Dr. P, besteht zwar Einigkeit, dass beim Verurteilten eine Pädophilie (ICD 10: F 65.4) vorliegt, jedoch wird unterschiedlich beurteilt, ob es sich dabei um eine sog. Kernpädophilie oder eine pädophile Nebenströmung handelt und in welchem Maße die bisherige Therapie erfolgreich war. Die Feststellung der richtigen Diagnose und die zutreffende Einschätzung der bisherigen Therapieerfolge sind aber -wovon die Strafvollstreckungskammer zutreffend ausgegangen ist – 3 Ws 86/20 – von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob und ggf. mit welchen flankierenden, insbesondere therapeutischen Maßnahmen vorliegend eine bedingte Entlassung verantwortet werden kann oder – im Falle der Ablehnung der bedingten Entlassung – welche weiteren therapeutischen Maßnahmen zur Einwirkung auf den Verurteilten geboten und im weiteren Strafvollzug möglich sind.

Hinzu kommt, dass das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. die Gutachtenfrage nicht eindeutig beantwortet, sondern – wie auch die Beschwerdebegründung zeigt – diesbezüglich zumindest Raum für Interpretationen lässt. Zwar hat der Sachverständige einerseits ausgeführt, dass aus seiner Sicht „die Gutachtenfrage nicht mit der in § 454 Abs. 2 StPO geforderten Dezidiertheit“ bejaht werden könne (Gutachten vom 30.11.2019, S. 54), andererseits scheinen seine Ausführungen darauf hinzudeuten, dass bei engmaschiger und hinreichend kritischer Überwachung des Verurteilten doch eine bedingte Entlassung möglich erscheine (vgl. Gutachten, S. 54 sowie S. 55 f.). Auch um einen etwaigen Widerspruch zwischen diesen Ausführungen aufzuklären, ist die mündliche Anhörung des Sachverständigen geboten.

Die entgegen § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO unterlassene Anhörung des Sachverständigen führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer (vgl. BGH, NStZ-RR 2012, 8; OLG Köln, NStZ-RR 2000, 317).“

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