OWi I: Prüfpflichten bei standardisierter Messung, oder: VerfG rüffelt AG Oranienburg/OLG Brandenburg

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Heute zur Wochenmitte OWi-Entscheidungen, dazu habe ich länger nichts mehr gebracht.

Den Opener mache ich mit dem VerfG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2022 – VerfGBbg 54/21 – zur Prüfpflicht des Tatrichters beim standardisierten Messverfahren (hier: Poliscan Speed). Nichts weltbewegend Neues, aber: Das VerfG Brandenburg ruft noch einmal ins Gedächtnis. wie der Tatrichter mit der Einlassung des Betroffenen umzugehen hat, wenn ein standardisiertes Messverfahren vorliegt: Die dazu geltenden Grundsätze entheben ihn nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen:

„a) Das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 14. Dezember 2020 (13 b OWi 3423 Js-OWi 27348/20 [496/20]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts gewährt Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu den für diese erheblichen Sach- und Rechtsfragen zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und rechtzeitiges, möglicherweise erhebliches Vorbringen bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. ausführlich Beschluss vom 16. März 2018 – VfGBbg 56/16 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Gericht das ihm unterbreitete Vorbringen zur Kenntnis nimmt und in Betracht zieht. Es ist nicht verpflichtet, sich mit jeglichem Vorbringen ausdrücklich zu befassen, sondern kann sich auf die Bescheidung der ihm wesentlich erscheinenden Punkte beschränken. Insbesondere verwehrt es der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht, den Vortrag eines Verfahrensbeteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts, zum Beispiel wegen sachlicher Unerheblichkeit, ganz oder teilweise außer Betracht zu lassen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nur verletzt, wenn die Nichtberücksichtigung eines Vortrags oder von Beweisanträgen im Prozessrecht keine Stütze mehr findet. Hierzu müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Solche Umstände können insbesondere dann vorliegen, wenn das Gericht das Kernvorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lässt. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in der Begründung der Entscheidung nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist. Daraus ergibt sich eine Pflicht der Gerichte, die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. September 2012 – 2 BvR 938/12 -, Rn. 20, vom 16. September 2010 – 2 BvR 2394/08 -, Rn. 14, und vom 7. Dezember 2006 – 2 BvR 722/06 -, Rn. 23, www.bverfg.de).

bb) Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Bußgeldverfahren die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflichten der Fachgerichte begründen. Die Gerichte sind nicht dazu gehalten, der Ordnungsgemäßheit des Messverfahrens nachzugehen, solange sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 39 ff., juris). Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht hat das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, Rn. 60, juris; so wohl auch BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1997 – 4 StR 24/97 -, BGHSt 43, 277-284, Rn. 26, juris).

cc) Nach diesen Maßstäben verletzt das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

Das Urteil lässt nicht erkennen, dass das Gericht den Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers, mit dem er die Zuverlässigkeit des Messverfahrens in Zweifel gezogen hat, zur Kenntnis genommen und in Betracht gezogen hat. Kern des Beschwerdevorbringens war, dass die im Beweisfoto erkennbaren hellen Lichtflächen auf eine das Messverfahren beeinflussende Reflexion der Laserstrahlen durch im Messbereich befindliche reflektierende Flächen hindeuten. Ob das Amtsgericht das Vorbringen in Erwägung gezogen hat, lässt sich weder aus dem Beschluss, mit dem die Beweisanträge abgelehnt worden sind, noch aus den Urteilsgründen erkennen. Es hat in den Urteilsfeststellungen keinen Niederschlag gefunden. Dabei ist es Sache des Fachgerichts zu beurteilen, ob es die vorgetragenen Anhaltspunkte für hinreichend konkret erachtet. Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens entheben den Tatrichter jedoch nicht davon, Einlassungen zur Kenntnis zu nehmen oder, soweit diese nicht von vornherein als pauschale Behauptungen unzureichend sind, in Erwägung zu ziehen. Als bloße allgemeine Behauptungen „ins Blaue hinein“, die insgesamt zu vernachlässigen sind, ließ sich das Vorbringen des Beschwerdeführers im Entscheidungszeitpunkt nicht ohne Weiteres qualifizieren. Dies mag inzwischen im Hinblick auf die Erkenntnisse zu feststehenden Objekten, Reflexionen und deren Einfluss auf Messungen durch die jüngste obergerichtliche Rechtsprechung anders zu betrachten sein (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. Januar 2022 – 1 OWi 2 SsBs 58/21 -, Rn. 15 f., juris). Diesen Kenntnisstand konnte jedoch das Amtsgericht bei Bescheidung der Beweisanträge und Urteilsfällung nicht voraussetzen.

dd. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts vom 14. Dezember 2020 beruht auf dieser Verletzung des Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV, weil nicht auszuschließen ist, dass das Amtsgericht eine andere, dem Beschwerdeführer günstige Entscheidung getroffen hätte, wenn es sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hätte.“

Und das OLG Brandenburg, das die Rechtsbeschwerde verworfen hatte, wird dann auch gleich mitgerüffelt:

„3. Auch der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 3. Mai 2021 (1 OLG 53 Ss-OWi 162/21) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV. Zwar bedarf vor dem Hintergrund der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Begründungsanforderungen nach § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG der Beschluss über die Zulassung der Rechtsbeschwerde, die eine unanfechtbare Zwischenentscheidung ist, weder im Falle der Verwerfung noch der Zurückweisung einer ausführlichen Begründung (vgl. Bär, in: BeckOK OWiG, Stand: 1. Oktober 2021, OWiG § 80 Rn. 49 m. w. N.), eine Begründung enthält der Beschluss vom 3. Mai 2021 auch nicht.

Indes hat das Brandenburgische Oberlandesgericht in dem Beschluss vom 3. Mai 2021 durch die Bezugnahme von § 349 Abs. 2 StPO sowie die hierauf verweisenden Vorschriften des OWiG zu erkennen gegeben, dass es den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde für offensichtlich unbegründet erachtet. Dabei hat das Oberlandesgericht verkannt, dass § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen der hier gegebenen Versagung des rechtlichen Gehörs durch das Amtsgericht gerade gebietet. Die Vorschrift soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein korrigierendes Eingreifen des Rechtsbeschwerdegerichts in denjenigen Fällen ermöglichen, in denen sich das Vorliegen einer Gehörsverletzung geradezu aufdrängt und es nicht zweifelhaft erscheint, dass das Urteil einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht standhalten würde (BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 700/91 -, Rn. 19 m. w. N., juris). Die Anwendung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG kann mithin dazu beitragen, Verstöße gegen den Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vor Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs zu beseitigen und die ansonsten erforderliche Anrufung des Verfassungsgerichts zu vermeiden. Deshalb hat das Rechtsbeschwerdegericht bereits im Zulassungsverfahren zu prüfen, ob eine Gehörsverletzung vorliegt (vgl. BVerfG, a. a. O.).

Dies ist hier erkennbar unterblieben. Das Oberlandesgericht hat die Regelung in § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG in seiner Entscheidung unerwähnt gelassen.“

Ich verstehe es nicht. es ist doch gar nicht so schwer, die Rechtsprechung des BVerfG aus 2 BvR 1616/18 umzusetzen, die ja nicht gänzlich neu ist, sondern letztlich doch auf der Rechtsprechung des BGH zum standardisierten Messverfahren aus 1997 (!!) aufbaut. Aber, wenn man nicht will……

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