Schlagwort-Archive: OLG Koblenz

Pflichtverteidigerbestellung „für den heutigen Termin“, oder: Echternacher Springprozession beim OLG Koblenz

Bild von eugenialcala auf Pixabay

Ich hatte Mitte Juni über den LG Bad Kreuznach, Beschl. v. 12.05.2024 – 2 Qs 14/24 – berichtet, in dem über den Gebührenanspruch eines Pflichtverteidigers entschieden worden ist, der nur für einen Vorführtermin bestellt worden ist (vgl. Pflichtverteidigerbestellung „für den heutigen Termin“, oder: Alle Gebühren, auch die Nr. 4142 VV RVG). In dem Posting hatte ich darauf hingewiesen, dass ich, da das LG die weitere Beschwerde zum OLG zugelassen hatte, gespannt bin, was das OLG Koblenz dazu sagt. Und inzwischen hat das OLG Koblenz sich geäußert, und zwar so, dass ich angenehm überrascht bin (was bei Entscheidungen vom OLG Koblenz nicht so häufig der Fall ist 🙂 . Denn das OLG hat die weitere Beschwerde, die die Bezirksrevisorin natürlich nicht eingelegt hat – „es kann doch nicht sein, dass …..“ 🙂 – mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 04.07.2024 – 2 Ws 412/24 – als unbegründet zurückgewiesen:

„a) Im Ansatz zutreffend geht die Bezirksrevisorin davon aus, dass maßgebend für das Kosten-festsetzungsverfahren der insofern bindende Beiordnungsbeschluss ist (BGH, Beschluss vom 11. April 2018 – Az. XII ZB 487/17; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. Mai 2018 – Az. III – 1 Ws 274/17; OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Januar 2015 – Az. 13 WF 67/15 – alle zitiert nach juris). Für die Abgrenzung zwischen einem „Vollverteidiger“ und einem mit einer Einzeltätigkeit beauftragten Rechtsanwalt ist gemäß § 48 Abs. 1 RVG der Wortlaut der Verfügung des Vorsitzenden oder des Gerichtsbeschlusses maßgebend, durch den die Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Januar 2023, Az. 4 Ws 13/23 – zitiert nach juris). Dem Wortlaut des hier vorliegenden Beiordnungsbeschlusses vom 21. Dezember 2022 ist eine Bei-ordnung „für den heutigen Termin“, mithin die Vorführung vor den Haftrichter gemäß § 115 StPO, zu entnehmen. Damit enthält der Beschluss eine zeitliche Beschränkung auf den Termin der Vorführung. Ob eine solche Beschränkung im Hinblick auf § 143 StPO zulässig ist, kann auf Grund der Bindungswirkung des Beiordnungsbeschlusses für das Kostenfestsetzungsverfahren dahinstehen. Eine inhaltliche Beschränkung auf die Haftfrage ist dem Beschluss dagegen nicht zu entnehmen (vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023 – Az. 2 Ws 13/23 – zitiert nach juris; aA für den – hier nicht vorliegenden – Fall eines schon beauftragten Wahlverteidigers: OLG Stuttgart, aaO).

Demzufolge ist bei der Festsetzung der Gebühren von der für den Termin der Vorführung erforderlichen, tatsächlich angefallenen anwaltlichen Tätigkeit auszugehen, soweit sie sich im Rahmen dieses Beiordnungsbeschlusses hält. Dies ist jedenfalls dann, wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt hat, beim Vorführungstermin jedoch verhindert ist, nicht allein die Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 VV RVG. Nach Absatz 1 der Vorbemerkung 4.3 VV RVG entstehen die Gebühren für einzelne Tätigkeiten, ohne dass dem Rechtsanwalt sonst die Verteidigung oder Vertretung übertragen ist. Der Verteidiger war hier jedoch nicht nur „für den Termin“ mit einer einzelnen Tätigkeit im Sinne des Absatzes 1 der Vorbemerkung zu 4.3 beauftragt, sondern ihm wurde vielmehr eine Vollverteidigung übertragen. Die Tätigkeit im Rahmen des Vorführtermins erschöpft sich nämlich nicht alleine in der insofern in Betracht zu ziehenden Betätigung nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG (Beistandsleistung für den Beschuldigten im Rahmen einer richterlichen Vernehmung). Die richterliche Vernehmung ist zwar gemäß § 115 Abs. 2 StPO Teil einer Eröffnung eines Haftbefehls, diese geht jedoch darüber hinaus. Vorliegend war eine Erstberatung noch nicht erfolgt. Daher war – unabhängig von der später erfolgten Beiordnung eines anderen Verteidigers – eine umfassende Beratung zur Verteidigungsstrategie im Termin zur Vorführung nach § 115 StPO zwingend geboten. So war beispielsweise bereits zu diesem Zeitpunkt zu entscheiden, ob sich durch eine Einlassung ein dringender Tatverdacht ausräumen lässt oder sich eine (geständige) Einlassung auf die Frage einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls auswirken kann. Die gewählte Vorgehensweise kann sich gegebenenfalls bestimmend für das Verteidigungsverhalten im weiteren Verfahrensverlauf auswirken. Dies gilt ebenso für die Frage der Beratung zu einer drohenden Einziehung.

Diesen Gegebenheiten wird bei bislang noch nicht erfolgter Erstberatung trotz zeitlicher Beschränkung der Aufgabenwahrnehmung nur durch eine volle Pflichtverteidigung Rechnung getragen (vgl. auch K. Sommerfeldt/T. Sommerfeldt in: BeckOK RVG, 64. Ed. § 48 Rdn. 121). Durch die Beiordnung eines Verteidigers für die Wahrnehmung eines Termins wird daher ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat.

b) Daraus folgt, wie die Kammer zutreffend ausgeführt hat: die Grundgebühr nebst Haftzuschlag (Vorbemerkung 4 Ziffer 4 VV RVG) gemäß Nummer 4101 VV RVG deckt die erforderliche Einarbeitung in den Fall ab, daneben fällt die Verfahrensgebühr gemäß Nummer 4105 VV RVG an. Der Vorführungstermin zur Verkündung des Haftbefehls gemäß § 115 StPO erfüllt ohne weiteres die Voraussetzungen von Nummern 4102 Ziffer 3, 4103 VV RVG, wonach die Terminsgebühr mit Zuschlag für die Teilnahme an Terminen außerhalb der Hauptverhandlung anfällt, in denen über die Anordnung oder Fortdauer der Untersuchungshaft verhandelt wird. Gleiches gilt – im Hinblick auf die drohende Einziehung – gemäß Nummer 4142 VV RVG.

Etwas anderes lässt sich auch nicht aus dem Gebührentatbestand der Nummer 4301 Ziff. 4 VV RVG herleiten. Dieser regelt die Vergütung für die Beistandsleistung für den Beschuldigten bei einer richterlichen Vernehmung im Rahmen einer Einzeltätigkeit. Die Einzeltätigkeit setzt voraus, dass dem Rechtsanwalt nicht die Verteidigung übertragen worden ist. Dies ist hier aber gerade nicht der Fall (vgl. oben 2. a)).

Hiergegen kann auch nicht angeführt werden, dass der Gebührentatbestand Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG ins Leere laufe, da als Anwendungsfall zumindest die Tätigkeit im Rahmen des § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO verbleibt.“

Anzumerken ist: Eine weitere (obergerichtliche) Entscheidung in der Frage, welche Gebühren für den nur für einen Vorführtermin bestellten Pflichtverteidiger anfallen. Allmählich kann man die Auffassung, die in diesen Fällen nicht nur von einer Einzeltätigkeit ausgeht, sondern den Pflichtverteidiger als „vollen Verteidiger“ ansieht, der nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG alle (Verteidiger)Gebühren abrechnen kann, als herrschende Meinung ansehen.

Mit der Begründung des OLG Koblenz kann ich mich allerdings nicht so richtig anfreunden, da das OLG das gefundene Ergebnis offenbar sogleich wieder einschränken will. Denn das OLG will – so ist es m.E. zu verstehen – von Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG und damit vom Anfall aller Gebühren wohl nur dann ausgehen, „wenn wie vorliegend noch kein anderer Verteidiger bestellt ist, sondern ein solcher bloß die Bereitschaft zur Übernahme der Verteidigung erklärt hat.“ Diese Sicht der Dinge ist m.E. falsch. Denn auch, wenn bereits ein Verteidiger bestellt ist oder sich bestellt hat, muss der Verteidiger im/für den Vorführtermin die vom OLG beschriebenen Verteidigertätigkeiten erbringen. Das ist/wäre aber originäre volle Verteidigertätigkeit und geht weit über das hinaus, was über eine Einzeltätigkeit nach Nr. 4301 Ziff. 4 VV RVG abzurechnen wäre. Von daher ist die Entscheidung „unschön“ und mutet ein wenig wie die Echternacher Springprozession: Zwei Schritte vor, einer zurück.

Das Datum auf dem Briefumschlag ist unleserlich, oder: Die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung

Bild von Capri23auto auf Pixabay

Und die zweite Entscheidung kommt aus einem beim OLG Koblnez anhängigen Zivilverfahren. Dort hatte der Kläger einen Streit mit seinee Berufsunfähigkeitsversicherung in erster Instanz beim LG durch Versäumnisurteil gewonnen. Das LG hat dann zunächst versucht das Versäumnisurteil elektronisch zuzustellen. Das scheiterte aber daran, dass der Vertreter der Versicherung trotz mehrfacher Mahnung kein Empfangsbekenntnis abgab. Der nächste Zustellungsversuch erfolgte dann per Brief. Der Postzusteller vermerkte auf dem im Briefkasten eingeworfenen Umschlag ein Datum. Das hat man entweder 12.12. oder 17.12. lesen können. Die Versicherungs erhielt das Schreiben nach ihren Angaben erst am 27.12. und legte dann am 2.1. Einspruch ein.

Das LG hat den Einspruch als unzulässig verworfen. Zustelldatum sei der 12.12. gewesen. Die bestehende Unklarheit hätte die Versicherung entweder – durch Rückfrage bei Gericht – aufklären müssen oder, als sicherste Option, direkt vom früheren Zeitpunkt ausgehen müssen.

Das OLG Koblenz hat die Entscheidung mit dem OLG Koblenz, Urt. v. 13.12.2023 – 10 U 472/23 – aufgehoben. Es verweist auf das BGH, Urt. v. 15.03.2023 – VIII ZR 99/22. In dem Urteil hat der BGH eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO wegen eines fehlenden Datums für unwirksam erklärt. Das sei auf den Fall des unleserlichen Datums entesprechend anzuwenden Es besteht auch keine Pflicht zur Nachforschung.

Hier dann der Leitsatz zu der Entscheidung, Rest bitte selbst im Volltext nachlesen:

Eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ist unwirksam, wenn auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks ein nicht eindeutig lesbares Datum vermerkt ist (§ 180 Satz 3 ZPO) und der Adressat deshalb den Zeitpunkt der Einlegung in den Briefkasten nicht ersehen kann.

StPO III: Zustandekommen einer Verständigung, oder: Mitteilungs- und Belehrungspflicht

Bild von Venita Oberholster auf Pixabay

Und als letzte Entscheidung heute dann noch der OLG Koblenz, Beschl. v. 20.07.2023 – 4 ORs 4 Ss 16/23 – zur Verletzung der Mitteilungs- und Belehrungspflicht in Zusammenhang mit dem Zustandekommen einer Verständigung. So ganz viele OLG-Entscheidungen gibt es zu der Problematik ja nicht.

Hier ist in einem Verfahren wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung unmittelbar nach der Belehrung des Angeklagten über seine Aussagefreiheit ein von der Verteidigung angeregtes Verständigungsgespräch geführt worden, wozu die Verhandlung unterbrochen wurde. Eine nachfolgende Wiedergabe vom wesentlichen Ablauf, Inhalt sowie Ergebnis von Verständigungsgesprächen nach §§ 257c, 273 Abs. la Satz 1 StPO sowie einer damit einhergehende Belehrung des Angeklagten lässt sich dem Hauptverhandlungsprotokoll ebenso wenig entnehmen wie das Negativattest gemäß § 273 Abs. 1 a Satz 3 StPO.

Das Hauptverhandlungsprotokoll verhält sich hierzu wie folgt:

Der Verteidiger erklärte:

Die Verteidigung regt ein Verständigungsgespräch an.

Die Hauptverhandlung wird um 12:35 Uhr unterbrochen.

Die Hauptverhandlung wird um 13:06 Uhr fortgesetzt.

Zur Sache erklärte der Verteidiger:

Mein Mandant räumt den Verstoß ein. Die Straßenverkehrsgefährdung in Verbindung mit der Nötigung. Er hat beschleunigt und dann kam der LKW immer näher, er musste dann schnell links rüber ziehen und ist dann vom Gas gegangen. Sein Fahrzeug hat stark entschleunigt, dadurch hat sich dann die Notbremsung des Geschädigten eingeschaltet.

Auf Nachfrage des Gerichts erklärte der Angeklagte:

Ich stimme dem zu.“

Der Angeklagte ist dann wegen Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt, worden, zudem wurde ihm  unter Verhängung einer Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von sechs Monaten diese entzogen. Dagegen dann die Revision, die mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte:

2. Die Revision hat bereits mit der Verfahrensrüge Erfolg, sodass die ebenfalls erhobene Sachrüge keiner weiteren Prüfung bedarf.

Es liegt eine Verletzung formellen Rechts vor, da eine erforderliche Verfahrenshandlung unterblieben ist. Der Revisionsführer rügt zu Recht die – auch bewiesene – Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 2 iVm. § 273 Abs. 1 a Satz 2 StPO dadurch, dass die Tatrichterin nicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO über außerhalb der Hauptverhandlung tatsächlich geführte Verständigungsgespräche berichtet und den Angeklagten nicht nach § 257c Abs. 5 StPO belehrt hat.

a) Die Rüge des Verstoßes gegen Mitteilungspflichten nach § 243 Abs. 4 StPO im Zusammenhang mit einem vorgetragenen Verständigungsgespräch in unterbrochener Hauptverhandlung ist zulässig, denn das Vorbringen genügt den gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen.

Grundsätzlich sind die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau darzulegen, dass das Revisionsgericht allein auf Grund dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden (vgl. BGH, Beschl. 1 StR 602/12 v. 08.01.2013 – NStZ 2013, 672 ; MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. § 344 Rn. 57). Eine Verfahrensrüge ist daher im Allgemeinen unzulässig, wenn sich dem Revisionsvorbringen nicht die bestimmte Behauptung entnehmen lässt, dass ein Verfahrensfehler vorliegt, sondern nur, dass er sich aus dem Protokoll ergebe (vgl. BGH, Beschl. 4 StR 181/11 v. 13.07.2011 – juris).

Soweit der Revisionsführer – wie hier – die fehlende Dokumentation aller mit dem Ziel einer Verständigung geführten Erörterungen rügt, genügt sein Vorbringen den strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO indes bereits dann, wenn Gespräche außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden und eine Mitteilung des Vorsitzenden über deren wesentlichen Inhalt tatsächlich nicht erfolgt ist oder jedenfalls nicht im Protokoll dokumentiert wurde und der Revisionsführer nur auf das Fehlen dieser Dokumentation hinweist (BGH, Urt. 2 StR 195/12 v. 10.07.2013 – juris).

Diesen Anforderungen wird die Begründungsschrift gerecht, denn der Revisionsführer führt detailliert aus, dass auf Anregung seines damaligen Verteidigers, Rechtsanwalt pp., während unterbrochener Hauptverhandlung ein ohne den Angeklagten geführtes Verständigungsgespräch zwischen diesem, der Vorsitzenden und der Vertreterin der Staatsanwaltschaft stattgefunden habe. Er stellt weiter den wesentlichen Inhalt der Gespräche dahingehend dar, dass es zu einer Absprache gekommen sei, der sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht zugestimmt hätten. Gegenstand derselben sei es gewesen, den angeklagten Fall 2, eine falsche Verdächtigung nach § 164 StGB, gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen und für den angeklagten Fall 1, der letztlich auch zur Verurteilung gelangte, eine Geldstrafe von höchstens 90 Tagessätzen zu verhängen. Zudem wird unter Darstellung der entsprechenden Protokollstellen dargestellt, dass sich darin keine Ausführungen zu diesen Vorgängen finden.

Die Revision stellt damit insbesondere nicht auf eine nur fehlende Protokollierung ab, ohne zugleich darzustellen, ob der nicht protokollierte Vorgang tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Die Grundsätze zur Unzulässigkeit einer bloßen Protokollrüge gelten nicht, wenn – wie hier – ein Verfahrensfehler behauptet wird, der in seinem Kern darin besteht, dass das Hauptverhandlungsprotokoll den Inhalt außerhalb der Verhandlung geführter Verständigungsgespräche nicht wiedergibt (BGH, Urt. 2 StR 195/12 v. 10.07.2013 – juris).

b) Der Rügeinhalt ist auch als bewiesen anzusehen.

Zwar findet sich weder in der Urteilsurkunde noch im Hauptverhandlungsprotokoll gemäß den §§ 267 Abs. 3 Satz 5, 273 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1 a Satz 1 und 2 StPO die Feststellung, dass eine Verständigung im Laufe des Verfahrens stattgefunden habe. Andererseits fehlt im Hauptverhandlungsprotokoll auch das sogenannte Negativattest des § 273 Abs. la Satz 3 StPO, dass eine Verständigung nicht stattgefunden habe. Mithin enthält das Protokoll auf Grund seiner jeweils negativen Beweiskraft sich widersprechende Feststellungen zur Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung stattgefunden hat, womit seine Beweiskraft insoweit entfällt (vgl. BGH, Urt. 2 StR 395/61 v. 20.11.1961 – juris; Mey-er-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 274 Rn 16). Aufgrund dessen hatte der Senat die Frage, ob in der Hauptverhandlung eine Verständigung erfolgt ist, im Freibeweisverfahren aufzuklären (vgl. BGH, Urt. 1 StR 125/62 v. 10.04.1962 – juris; Meyer-Goßner aaO. Rn 18 mwN.).

Der Senat hat hierzu (dienstliche) Stellungnahmen der Beteiligten eingeholt, die in würdigender Gesamtschau belegen, dass es in unterbrochener Hauptverhandlung zu Verständigungsgesprächen gekommen ist, die nachfolgend nicht ordnungsgemäß protokolliert wurden.

Sowohl der in der fraglichen Hauptverhandlung anwesende Verteidiger des Angeklagten als auch die entscheidende Richterin haben durch Schriftsatz vom 5. April 2023 sowie dienstliche Stellungnahme vom 23. Mai 2023 klar bestätigt, dass (Anm. d. Senats: entsprechend dem Gesetzeswortlaut des § 257c Abs. 1 Satz 1 StPO) „Gespräche zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung stattgefunden haben, in denen über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens gesprochen wurde.“

Dies fügt sich darüber hinaus plausibel in das – wenn auch lückenhaft – dokumentierte prozessuale Geschehen, insbesondere die protokollierte Anregung des Verteidigers, die folgende Verhandlungspause, die anschließende geständige Verteidigererklärung zu Fall 1 der Anklage sowie – vor dem Hintergrund der nach § 257c Abs. 4 StPO erforderlichen Zustimmungen – der nach der Verteidigererklärung protokollierten Erklärung des Angeklagten „Ich stimme dem zu“ ein.

Diesem insoweit stimmigen Gesamtbild steht auch nicht die dienstliche Stellungnahme der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft entgegen, nach deren Ansicht „das Rechtsgespräch nicht das Gepräge einer Verständigung im Strafverfahren“ gehabt habe und die „an eine Zusage über die Höhe der zu erwartenden Geldstrafe“ keine Erinnerung hat. Zum Einen weist sie darauf hin, sich aufgrund des Zeitablaufes an die Hauptverhandlung nur noch vage erinnern zu können. Zudem spricht der Gesamtinhalt ihrer dienstlichen Stellungnahme auch nicht gegen das Vorliegen einer Verständigung, sondern der Umstand, dass sie in der staatsanwaltlichen Handakte unter anderem vermerkte „Aufgrund kurzer Verständigung bzw. Besprechung wurde das Geständnis abgegeben hinsichtlich Fall 1″ neben den – bereits dargestellten – weiteren Stellungnahmen und dem zu einer Verständigung „passenden“ äußeren Geschehensablauf auch eher für als gegen deren Vorliegen.

c) Die Rüge ist auch begründet. Es fehlt an einer Information durch das Gericht sowie einer ordnungsgemäßen Protokollierung über den wesentlichen Inhalt des geführten Verständigungsgesprächs, in dem für den Fall eines Geständnisses von Fall 1 der Anklageschrift eine bestimmte Rechtsfolge in Aussicht gestellt wurde. Bei diesem Gespräch handelt es sich um eine Erörterung, die auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung gerichtet war; es unterfällt mithin der Regelung des § 257c StPO. Dies stellt einen Verfahrensfehler dar, auf dem das Urteil auch beruht.

Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende nach Verlesung des Anklagesatzes mit, ob Erörterungen im Sinne der §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung gewesen ist, und gegebenenfalls deren wesentlichen Inhalt (vgl. dazu auch OLG Koblenz, Urt. 2 StR 47/13 v. 10.07.2013). Diese Mitteilungspflicht ist gemäß § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO weiter zu beachten, wenn – wie hier Erörterungen erst nach Beginn der Hauptverhandlung stattgefunden haben (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 243 Rn. 18c). Zur Gewährleistung der Möglichkeit einer effektiven Kontrolle ist die Mitteilung des Vorsitzenden hierüber gemäß § 273 Abs. 1 a StPO in das Protokoll der Hauptverhandlung aufzunehmen. Das Fehlen der Protokollierung ist ein Rechtsfehler des Verständigungsverfahrens (vgl. BVerfG Urt. 2 BvR 2628/10 v. 19.03.2013 – NJW 2013, 1058 <1067>). Ein Mangel des Verfahrens an Transparenz und Dokumentation der Gespräche, die mit dem Ziel der Verständigung außerhalb der Hauptverhandlung geführt wurden, führt – ebenso wie die mangelhafte Dokumentation einer Verständigung – regelmäßig dazu, dass ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler des Verstoßes gegen § 257c StPO nicht auszuschließen ist (vgl. BVerfG, aaO.; BGH, Beschl. 1 StR 315/15 v. 18.07.2016 – juris).

Die Generalstaatsanwaltschaft hat ergänzend dazu in ihrem Votum vom 6. März 2023 wie folgt ausgeführt:

„Eine Ausnahme kommt nur dann in Betracht, wenn das gesetzliche Schutzkonzept der §§ 243 Abs. 4, 273 Abs. 1 a, 257c StPO nicht unterlaufen wird (BVerfG, BGH – wie vor). In besonders gelagerten Einzelfällen ist dies insbesondere denkbar, wenn etwa feststeht, dass es tatsächlich keine Verständigungsgespräche gegeben hat oder der Prozessverlauf trotz stattgefundener Gespräche nicht beeinflusst worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.2015, 1 StR 315/14, bei juris Rn. 17 m.w.N.). Nach Maßgabe dessen liegt jedenfalls unter den vorliegenden Umständen hier kein Ausnahmefall vor, in dem das Beruhen des Urteils auf dem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 S. 1 StPO ausgeschlossen werden kann. Aufgrund nicht lediglich einer Beschränkung der Mitteilung, sondern ihres vollständigen Unterlassens, liegt ein Ausschluss des Beruhens schon aus Transparenzgründen fern (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 15.01.2015, 1 StR 315/14, juris Rn. 19). Selbst wenn der Angeklagte von seinem Verteidiger über den Inhalt des Gesprächs hinreichend informiert wurde – was dieser indes bestreitet (BI. 158 d. A.) -, ist das gesetzliche Schutzkonzept dennoch berührt, denn jedenfalls die Gewährleistung effektiver Kontrolle des mit der Verständigung verbundenen Geschehens durch die Öffentlichkeit konnte hierdurch nicht ersetzt werden.“

Dem schließt sich der Senat nach eigener Wertung vollumfänglich an. 3.

Im Zusammenhang mit der vorstehenden Verfahrensrüge hat der Angeklagte darüber hinaus auch eine Verletzung der sich aus § 257c Abs. 5 StPO ergebenden Belehrungspflicht gerügt, der ebenfalls ein Erfolg nicht zu versagen ist.

Soweit der Angeklagte hinsichtlich der auszuführenden Verfahrenstatsachen auf die vorherige Rüge Bezug nimmt, steht dies der Einhaltung der strengen Erfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausnahmsweise nicht entgegen, da die mitzuteilenden Tatsachen sich insoweit als identisch darstellen, da sie auf ein und demselben Verfahrensvorgang beruhen. Der Rügevortrag ist damit weiterhin – trotz Bezugnahme – aus sich heraus so verständlich, dass das Revisionsgericht ohne Weiteres daran anknüpfen kann (vgl. BGH Beschl. 3 StR 486/09 v. 18. Februar 2010; 1 StR 75/14 v. 04.09.2014 – jew. n. juris).

Wie sich bereits aus den Darlegungen unter II. 2. ergibt, hat in einer Unterbrechung der Hauptverhandlung am 8. August 2022 vor dem Amtsgericht ein Erörterungsgespräch nach § 257c StPO stattgefunden, dem sodann in der Hauptverhandlung ein Geständnis – das hier in Form einer Verteidigererklärung mit anschließender Zustimmung des Angeklagten erfolgte – nachging. Dieses Verfahrensgeschehen löste die Belehrungspflicht des § 257c Abs. 5 StPO aus, sodass der Angeklagte vor Abgabe seines Geständnisses über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis hätte belehrt werden müssen. Die Belehrung gemäß § 257 c Abs. 5 StPO ist eine wesentliche Förmlichkeit, die in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen gewesen wäre (§ 273 Abs. 1 a S. 2 StPO). Da es hieran fehlt, ergibt sich im Hinblick auf die negative Beweiskraft des Protokolls (§ 274 S. 1 StPO), dass der Angeklagte nicht wie erforderlich belehrt wurde. Der Angeklagte wurde daher vom Gericht nicht in die Lage versetzt, eine autonome Entscheidung über seine Mitwirkung an der Verständigung zu treffen (vgl. hierzu BVerfG, Urt. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10 und 2 BvR 2155/11 v. 19.03.2013 – NJW 2013, 1058). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beruht ein solches Geständnis auf dem Unterlassen der Belehrung und mithin dem Verstoß gegen die Belehrungspflichten, wenn sich nicht ausnahmsweise feststellen lässt, dass der Angeklagte das Geständnis auch bei ordnungsgemäßer Belehrung abgegeben hätte (BVerfG, aaO.; 2 BvR 85/13 v. 30.06.2013; 2 BvR 2048/13 v. 25.08.2014 – jew. n. juris).

Ein solcher Einzelfall liegt in der vorliegenden Situation nicht vor, da der Revisionsführer insbesondere anbringt, dass er weder über den Inhalt noch das Ergebnis des geführten Verständigungsgesprächs unterrichtet worden sei. Zudem sei ihm nicht klar gewesen, dass mit dem abgelegten Geständnis auch die Entziehung der Fahrerlaubnis und eine Sperre verbunden waren. Der Angeklagte konnte die Tragweite seiner Zustimmung zu der Verteidigererklärung im Moment der Erklärung mangels ausreichender Informationsgrundlage demnach nicht beurteilen.

OWi I: OLG Koblenz hatte Fragen zur ES 3.0 Messung, oder: BGH gibt Vorlage ohne Antworten zurück

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Heute dann ein OWi-Tag.

Den eröffne ich mit dem BGH, Beschl. v. 16.03.2023 – 4 StR 84/22. Das ist die lange erwartete Antwort des BGH in der zweiten Vorlagesache betreffend Einsicht in Messunterlagen/Rohmessdaten. Zugrunde lag der OLG Koblenz, Beschl. v. 01.02.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21 (dazu News im OWi-Verfahren: Nächste Vorlage an den BGH, oder: OLG Koblenz fragt nach Rohmessdaten bei ES 3.0). Das OLG hatte vom BGH wissen wollen: „Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG iVm. § 338 Nr. 8 StPO)?“

Der BGH hat die Frage nicht beantwortet, sondern hat die Sache an das OLG zurückgegeben, weil nach seiner Ansicht die Vorlegungsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben:

„Die Sache ist an das Oberlandesgericht Koblenz zurückzugeben, denn die Vorlegungsvoraussetzungen des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG sind zu verneinen. Der Annahme des Oberlandesgerichts, die dem Bundesgerichtshof vorgelegte Frage sei entscheidungserheblich, liegt die nicht mehr vertretbare rechtliche Bewertung einer Vorfrage zugrunde. Damit ist der Senat an die vom Oberlandesgericht bejahte Entscheidungserheblichkeit nicht gebunden (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 24. Januar 2023 – 3 StR 386/21 Rn. 8, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; Beschluss vom 9. Oktober 2018 – 4 StR 652/17, NStZ-RR 2019, 60, 61; Beschluss vom 17. März 1988 – 1 StR 361/87, BGHSt 35, 238, 240 ff.; Gittermann in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 121 GVG Rn. 78; Feilcke in KK-StPO, 9. Aufl., § 121 GVG Rn. 43 f.; Quentin in SSW-StPO, 5. Aufl., § 121 GVG Rn. 22; jeweils mwN).

1. Die Vorlegungsfrage kann für die Entscheidung des Oberlandesgerichts nur erheblich sein, wenn der Betroffene sein Begehren, Zugang zu den Rohmessdaten der Tagesmessreihe zu erhalten, im behördlichen und gerichtlichen Verfahren in ausreichender Weise geltend gemacht hat (vgl. zu den Anforderungen allgemein etwa KG, Beschluss vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7). Hiervon geht das Oberlandesgericht Koblenz auch aus. Es hat jedoch die rechtliche Bedeutung des Umstands verkannt, dass der Betroffene sein Zugangsgesuch – anders als in den Fällen, die den als divergierend angesehenen Entscheidungen zugrunde lagen (vgl. zudem OLG Stuttgart, VRS 140, 319) – nicht in der Hauptverhandlung erneuert hat. Damit kann seinen Verfahrensrügen, die sich auf die verweigerte Einsichtnahme in die Rohmessdaten stützen, von vornherein kein Erfolg beschieden sein. Sollte das Rechtsbeschwerdevorbringen im Hinblick auf das Prozessgeschehen in der Hauptverhandlung nicht bereits als unzureichend anzusehen sein (vgl. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), wären die Rügen jedenfalls unbegründet. Dies ergibt sich aus Folgendem:

a) Die Verfahrensrüge einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 338 Nr. 8 StPO) kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur durchgreifen, wenn Verteidigungsrechte durch einen Gerichtsbeschluss in der Hauptverhandlung verletzt worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – 5 StR 229/19, NJW 2021, 1252, 1255; Beschluss vom 17. Juli 2008 ? 3 StR 250/08, BGHR StPO § 338 Nr. 8 Beschränkung 9; Urteil vom 10. November 1967 – 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334, 359). Ein solcher ist hier nicht ergangen. Es kann zwar auch ausreichen, wenn das Gericht es unterlässt, einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag zu bescheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 2008 – 3 StR 250/08, NStZ 2009, 51; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 102). Auch daran fehlt es im vorliegenden Fall jedoch, da die für den Betroffenen in der Hauptverhandlung anwesende Verteidigerin dort keinen auf die Zugänglichmachung der Rohmessdaten abzielenden Antrag stellte, sondern vielmehr ausdrücklich erklärte, die Ordnungsgemäßheit der Messung nicht zu bestreiten.

b) Die Rüge, der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) sei verletzt, versagt ebenfalls, wenn das Einsichtsersuchen nicht (auch) in der Hauptverhandlung geltend gemacht wird. Dies liegt – ohne dass es auf die Frage ankäme, ob nicht insoweit ohnehin § 338 Nr. 8 StPO anzuwenden ist (vgl. OLG Brandenburg, ZfSch 2021, 469; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 24. Februar 2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi), juris Rn. 8) – schon im Grundsatz der Verfahrensfairness selbst begründet.

aa) Das Recht auf ein faires Verfahren ist erst verletzt, wenn bei einer Gesamtschau rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde (vgl. BVerfGE 133, 168, 200; BVerfGE 130, 1, 25 f.; OLG Karlsruhe, NZV 2020, 368). Ein Verstoß gegen den auf die Gesamtheit des Verfahrens abhebenden Fairnessgrundsatz (vgl. EGMR, NJW 2019, 1999; NJW 2017, 2811, 2812; BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 33, 35) kommt daher bei verweigerter Einsichtnahme in Rohmessdaten nur dann in Betracht, wenn einem rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten angebrachten Zugangsgesuch nicht entsprochen worden ist (vgl. KG, Beschluss vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7; Thüringer Oberlandesgericht, VRS 140, 33, 35).

bb) Nach diesen Maßgaben muss der Betroffene, will er mit der Rechtsbeschwerde einen Verstoß gegen die Verfahrensfairness rügen, den Zugang zu nicht zur Akte genommenen Informationen nicht nur bereits im Bußgeldverfahren und im Verfahren nach § 62 OWiG begehren (so KG Berlin, Beschluss vom 20. April 2021 – 3 Ws (B) 84/21, juris Rn. 7 mwN; OLG Koblenz, BeckRS 2020, 10860 Rn. 7; s. ferner BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 60, 66), sondern sein Einsichtsbegehren auch in der Hauptverhandlung weiterverfolgen (vgl. hierzu VerfGH Saarland, NZV 2018, 275 Rn. 35, 38; OLG Brandenburg, ZfSch 2021, 469; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 24. Februar 2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi), juris Rn. 8; jeweils mwN; Hannich, FS Fischer 2018, S. 655, 658; s. zudem BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 66). Im Blick auf die gebotene Gesamtschau kann die Fairness des Ordnungswidrigkeitenverfahrens überhaupt nur in Frage stehen, wenn der (verteidigte) Betroffene die Einsicht in die Rohmessdaten auch mithilfe eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrags begehrt hat. Denn bei dieser handelt es sich um den maßgeblichen Verfahrensabschnitt für die tatrichterliche Sachentscheidung, die der Betroffene durch seinen Einspruch herbeiführt. Das Gericht trifft seine Entscheidung allein aufgrund des Inbegriffs der Hauptverhandlung (vgl. § 46 Abs. 1 OWiG, § 261 StPO).

Der Betroffene hat es hier versäumt, sein Informationszugangsersuchen in der Hauptverhandlung geltend zu machen. Aus den zuvor genannten Gründen genügt – anders als das Oberlandesgericht Koblenz annimmt – sein beim Amtsgericht vor der Hauptverhandlung gestelltes Einsichtsgesuch nicht, um eine Verletzung des Fairnessgrundsatzes mit Erfolg rügen zu können. Hieran ändert § 336 Satz 1 StPO nichts (vgl. auch zur Akteneinsicht BGH, Urteil vom 24. Mai 1955 – 5 StR 155/55; OLG Hamm, NJW 1972, 1096). Denn diese Vorschrift entbindet das Rechtsbeschwerdegericht bei der Prüfung der als verletzt gerügten Verfahrensfairness nicht davon, die Gesamtheit des Verfahrens in den Blick zu nehmen.

2. Damit kommt es nicht mehr darauf an, dass ein von dem vorlegenden Oberlandesgericht womöglich befürworteter Rechtssatz des Inhalts, dass bei einem standardisierten Messverfahren die Persönlichkeitsrechte Dritter und die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege dem Informationsinteresse des Betroffenen an der Tagesmessreihe generell vorgehen, mit den bindenden verfassungsgerichtlichen Vorgaben einer Einzelfallprüfung (vgl. BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 58) unvereinbar sein könnte. Sollte den begehrten Informationen nach der zulässigen (individuellen) gerichtlichen Überprüfung des Gesuchs die Verteidigungsrelevanz abzusprechen sein (vgl. dazu BVerfG, NJW 2021, 455 Rn. 56 ff.), wohin auch das Oberlandesgericht Koblenz nach dem Vorlagebeschluss zumindest tendiert, scheidet allerdings schon deshalb ein Zugangsanspruch des Betroffenen aus (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2022 – 4 StR 181/21, NZV 2022, 287 Rn. 9; OLG Zweibrücken, BeckRS 2022, 15436 Rn. 16).“

Damit ist dann nur noch die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 1167/20 offen.

OWi II: Fristberechnung bei der Verjährungsfrist, oder: Was häufig übersehen wird….

© fotomek – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung des Tages ist eine Verjährungsentscheidung. Das OLG Koblenz behandelt im OLG Koblenz, Beschl. v. 08.02.2023 – 4 ORbs 31 SsBs 1/23 – die Frage, wie sich die Verjährungsfrist berechnet.

Das AG hatte den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt, das OLG hat auf die Rechtsbeschwerde aufgehoben und das Verfahren eingestellt:

„Das Rechtsmittel der Betroffenen führt zu einer Aufhebung der amtsgerichtlichen Entscheidung und zu einer Einstellung des Verfahrens aufgrund des Verfahrenshindernisses der Verfolgungsverjährung.

Die korrekt erhobene Sachrüge führt zur Prüfung des Fehlens von Verfahrensvoraussetzungen und des Vorliegens eines Verfahrenshindernisses (vgl. BGH NStZ 2001, 440; OLG Koblenz, Beschluss v. 12.08.2008 – 2 SsBs 54/08; OLG Hamm NZV 2003, 396; OLG Köln NZV 2002, 241). Wenn eine Rechtsbeschwerde in zulässiger Weise erhoben wurde, kann auch im Rechtsbeschwerdeverfahren eine Einstellung wegen Verjährung erfolgen (vgl. BGH a. a. O., OLG Koblenz MDR 1977, 954; König in: Göhler, a. a. O., § 31m Rn. 19). Denn der Ablauf der Verjährung ist -so eine gerichtliche Prüfungsmöglichkeit besteht- von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu berücksichtigen, auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren (vgl. BGH NStZ 2001, 440; BGHSt 16, 115).

Das Verfahren gegen den Betroffenen war unter Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 206 a StPO einzustellen, da hinsichtlich des gegen ihn erhobenen Vorwurfs der fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits am 10. November 2022 Verfolgungsverjährung eingetreten ist.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrem, dem Verteidiger bekannt gegeben Votum wie folgt ausgeführt:

Die Verkehrsordnungswidrigkeiten weisen eine absolute Verjährungsfrist von 2 Jahren auf (§ 33 Abs. 3 Satz 2 OWiG i.V.m. § 26 Abs. 3 StVG). Die Verjährung beginnt, sobald die Handlung beendet ist (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG). Vorliegend wurde die in Rede stehende Geschwindigkeitsüberschreitung am 10.11.2020 begangen und beendet. Der Tag, an dem die Verjährung mit Eintritt des Ereignisses beginnt, ist der 1. Tag der Verjährungsfrist, hier also der 10.11.2020. Der letzte Tag der Verjährungsfrist ist der im Kalender vorhergehende Tag (Göhler § 31 Rn. 16; OLG Karlsruhe vom 28.06.2019 – 2 RB 8 Ss 486/19; OLG Bamberg vom 12.12.2005 – 3 Ss OWi 1354/05), vorliegend demnach der 09.11.2022. Die Fristberechnung nach § 43 StPO kommt bei Fristen des materiellen Rechtes, wie den Verjährungsfristen, hingegen nicht in Betracht, da diese Norm aus-schließlich auf Fristen prozessualer Natur beschränkt ist (KK-Schneider-Glockzin, § 43 StPO, Rn. 6 m. w. N.). Die absolute Verfolgungsverjährung ist daher vorliegend mit Ab-lauf des 09.11.2022 eingetreten. Der Beschluss nach § 72 OWiG ist indes erst am 10.11.2022 unterzeichnet worden, sodass zu diesem Zeitpunkt bereits eine Verjährung der Ordnungswidrigkeit eingetreten ist und nicht das Ruhen der Verjährung gemäß § 32 Abs. 2 OWiG herbeigeführt werden konnte.

Dem schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an.

Die Kostenentscheidung basiert auf § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO StPO.

Im Rahmen der Ermessensentscheidung geht der Senat davon aus, dass gegen den Betroffenen ohne Eintritt des Verfahrenshindernisses zu Recht wegen einer fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 43 km/h eine Geldbuße von 160,– Euro festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt worden wäre.

Das Amtsgericht hat sich rechtsfehlerfrei mit den Einwendungen gegen die Geschwindigkeitsmessung auseinandergesetzt. Es hat die technischen und personellen Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Messung überprüft, keine Fehler festgestellt und auch zutreffend begründet, warum die Beiziehung der weiteren von der Verteidigung angeforderten Unterlagen wie das Erstinbetriebnahmeprotokoll, Fotos von der Messstelle mit Trailer, die Verwendungsanzeige und die fehlende Speicherung der Rohmessdaten mit einem Verweis auf die hierzu ergangene Rechtsprechung ebenso wenig erforderlich war, wie die Einholung eines Sachverständigengutachtens.

Es hat auch die Höhe der festgesetzten Geldbuße und die Verhängung eines einmonatigen Fahr-verbotes rechtsfehlerfrei begründet, indem es zutreffend besonderes Gewicht auf eine einschlägige Tatwiederholung hinsichtlich einer weiteren unzulässigen Geschwindigkeitsüberschreitung (dort um 29 Kmh) vom 20. Juli 2020 (Rechtskraft der verhängten Geldbuße in Höhe von 80 € am 17. September 2020, knapp zwei Monate vor der hiesigen Tat) gelegt und hierbei die besondere berufliche Situation des Betroffenen (Umfangreiche Kundenbesuche in weiten Teilen Deutschlands für sein Unternehmen) berücksichtigt hat.

Das Verfahren hätte jedoch am 10. November 2022 aufgrund der eingetretenen Verfolgungsverjährung durch das Amtsgericht eingestellt werden müssen, so dass es nicht zu einer rechtsmittelfähigen Sachentscheidung hätte kommen dürfen. Die notwendigen Auslagen für das Rechtsbeschwerdeverfahren wären dann nicht angefallen.“

Diese Frage wird bei der Berechnung der Verjährungsfrist im OWi-Verfahren häufig übersehen, kann aber, wie man sieht, entscheidend sein.