Schlagwort-Archive: OLG Koblenz

Verteidigervergütung nach Verbindung von Verfahren, oder: OLG Koblenz irrt gewaltig

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Und dann Gebührenfreitag.

Ich stelle heute zunächst einen „unschönen“ Beschluss des OLG Koblenz vor. In dem OLG Koblenz, Beschl. v. 19.02.2025 – 6 Ws 651/24 – geht es mal wieder um die Verteidigervergütung nach Verbindung von Verfahren. Die damit zusammenhängenden Fragen beschäftigen die (Ober)Gerichte immer wieder. Und die Entscheidungen sind für Verteidiger insbesondere deshalb von Bedeutung, weil häufig um recht hohe Beträge gestritten wird.

Folgender – etwas komplizierter – Sachverhalt:

Das AG hat den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Diesem Strafverfahren lagen das führende Ermittlungsverfahren FÜ V 1 und die Verbundverfahren V 2, V 3, V 4 sowie als sog. Fallakten geführte neun weitere Verfahren F 1 – F 9 zugrunde.

In dem führenden Verfahren FÜ V 1 erging am 18.08.2023 Haftbefehl gegen den Verurteilten. Im Rahmen der Haftvorführung am selben Tag wurde ihm der Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet; dieser beantragte Akteneinsicht. Im Nachgang zum Vorführungstermin wiederholte er mit Schriftsatz vom 18.08.2023 seinen Antrag auf Akteneinsicht in das führende Verfahren und zeigte unter anwaltlicher Versicherung ordnungsgemäßer Vertretungsvollmacht die Verteidigung des Verurteilten auch „in allen von Ihnen, sehr geehrter Herr Staatsanwalt W. bekannt gegebenen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren/Strafverfahren“ an. Zugleich beantragte er hinsichtlich der weiteren – nicht konkret bezeichneten – Ermittlungsverfahren Akteneinsicht und seine Bestellung als Pflichtverteidiger bereits im Vorverfahren. Ferner bat er darum, das Bestellungsschreiben zu den jeweiligen Verfahrensakten zu geben

Am 25.08.2023 verband die Staatsanwaltschaft die den neun Fallakten zugrundeliegenden Verfahren zunächst zu dem Verfahren V 2 hinzu. Mit Beschluss des AG vom 15.09.2023 wurde der Rechtsanwalt dem Verurteilten in diesem Verfahren als Pflichtverteidiger bestellt. Am 22.9.2023 wurde ihm Akteneinsicht in das Verfahren V 2 einschließlich der neun Fallakten gewährt.

Mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 02.11.2023 wurden das Verfahren F 1 gemäß § 170 Abs. 2 StPO und das Verfahren F 9 hinsichtlich des Tatvorwurfs der Sachbeschädigung vorläufig gemäß § 154 Abs. 1 StPO eingestellt; am selben Tag wurde hinsichtlich der verbleibenden Fälle Anklage zum AG erhoben. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens am 16.11.2023 hat das AG am 28.11.2023 das Verfahren V 2 mit dem führenden Verfahren FÜ V 1 verbunden und zugleich die Pflichtverteidigerbestellung des Rechtsanwalts auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt. Durch Beschluss vom 14.12.2023 wurde der Verbindungsbeschluss dahingehend ergänzt, dass sich die Beiordnung des Rechtsanwalts auch auf die mit dem Verfahren V 2 verbundenen neun als Fallakten geführte Verfahren erstreckt.

Zuvor hat das AG am 16.10.2023 das Verfahren V 3 und am 13.11.2023 das Verfahren V 4 mit dem führenden Verfahren FÜ V 1 verbunden und jeweils die Pflichtverteidigerbestellung des Rechtsanwalts auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt, wobei in dem Verfahren V 3 die bis dahin bestehende Pflichtverteidigerbestellung des Rechtsanwalts aufgehoben wurde.

Nach Ende des Verfahrens hat der Rechtsanwalt die Festsetzung von Pflichtverteidigergebühren in Höhe von 8.017,80 EUR brutto beantragt. Dabei hat er neben den Gebühren für das führende Verfahren FÜ V 1 und die hinzuverbundenen Verfahren V 2, V 4 und V 3 für jede der neun Fallakten F 1 – F 9 die Festsetzung einer Grundgebühr (Nrn. 4101, 4100 VV RVG), einer Verfahrensgebühr (Nrn. 4105, 4104 VV RVG) und der Auslagenpauschale (Nr. 7002 VV RVG) geltend gemacht. Das AG hat die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen auf 3.191,58 EUR festgesetzt. Die hiergegen eingelegte Erinnerung des Rechtsanwalts wurde als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss hat der Rechtsanwalt „sofortige Beschwerde“ eingelegt, mit welcher er die Festsetzung einer Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 8.017,80 EUR weiterverfolgt. Er ist der Auffassung, Grund- und Verfahrensgebühren sowie die Auslagenpauschale seien ihm gemäß § 48 Abs. 6 RVG jeweils auch für die als Fallakten geführten Verbundverfahren zuzuerkennen.

Nachdem das Verfahren gemäß §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 8 S. 2 RVG wegen grundsätzlicher Bedeutung auf die Kammer übertragen worden ist, hat diese mit dem angefochtenen Beschluss den Beschluss des AG abgeändert, die an den Rechtsanwalt zu zahlende Vergütung auf insgesamt 3.594,57 EUR festgesetzt und die weitere Beschwerde zugelassen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, der Rechtsanwalt habe eine gebührenauslösende Tätigkeit in den neun Fallakten vor der Verbindung mit dem Verfahren V 2 nicht glaubhaft gemacht. Zudem handele es sich insoweit nur um „eine Angelegenheit“ i.S.d. § 15 Abs. 2 RVG, sodass auch aus diesem Grund keine eigenständigen Gebühren für die den Fallakten zugrundeliegenden Verfahren angefallen seien.

Im Einzelnen hat die Strafkammer dem Rechtsanwalt in dem Verfahren FÜ V 1 die Grundgebühr Nrn. 4100, 4101 VV RVG, die Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG, eine Terminsgebühr Nrn. 4103, 4102 VV RVG, eine Terminsgebühr Nrn. 4108, 4109 VV RVG und zwei Auslagenpauschalen Nr. 7002 VV RVG sowie in den Verbundverfahren V 2 und V4 jeweils nur eine Grundgebühr Nrn. 4100, 4101 VV RVG, nur eine Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nrn. 4106, 4107 VV RVG und zwei Auslagenpauschalen Nrn. 7002 VV RVG sowie im Verbundverfahren V 3 eine Grundgebühr Nrn. 4100, 4101 VV RVG, eine Verfahrensgebühr Nrn. 4104, 4105 VV RVG, eine zusätzliche Verfahrensgebühr Nrn. 4141, 4106, 4107 VV RVG und eine Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG sowie weitere Auslagen und USt, insgesamt also 3.594,57 EUR zugesprochen.

Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des Rechtsanwalts, mit welcher er weiterhin die Rechtsauffassung vertritt, bei den neun als Fallakten geführten Verfahren habe es sich bis zur Verfahrensverbindung vergütungsrechtlich um mehrere Angelegenheiten gehandelt, in denen gesonderte Gebühren entstanden seien. In den einzelnen Verfahren sei auch bereits vor der Verfahrensverbindung eine anwaltliche Tätigkeit erbracht worden. Diese sei in dem Schriftsatz vom 18.8.2023 zu sehen. Zudem sei mit dem Verurteilten anlässlich des Vorführungstermins über die Verteidigungsübernahme in sämtlichen Verfahren, das grundsätzliche Verteidigungsverhalten, das Akteneinsichtsgesuch und das Vorhaben, sich im Weiteren abzustimmen, gesprochen worden. Insoweit sei auch ohne Kenntnis des jeweiligen konkreten Tatvorwurfs eine sach- und fachgerechte Verteidigertätigkeit möglich.

Das Rechtsmittel hatte beim OLG keinen Erfolg. Das OLG geht im OLG Koblenz, Beschl. v. 19.02.2025 – 6 Ws 651/24 – mit dem LG davon aus, dass die Vergütung nach den Nrn. 4100, 4101 und 4104, 4105 VV RVG sowie die Post- und Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG) für die Tätigkeit des Verteidigers in dem Verfahren V 2 insgesamt nur einmal und nicht – wie von Rechtsanwalt beantragt – zusätzlich für jede der einzelnen Fallakten festzusetzen sei.

Wen die falsche Begründung des OLG interessiert, der kann sie im verlinkten Volltext nachlesen. Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze.

1. Voraussetzung dafür, dass der Pflichtverteidiger neben den Gebühren im führenden Verfahren weitere Gebühren für Tätigkeiten in hinzuverbundenen Verfahren erhält, ist, dass er in letzteren vor der Verbindung tatsächlich tätig geworden ist. Seine dahingehende Tätigkeit muss einen konkreten Verfahrensbezug dergestalt aufweisen, dass sie auf einen hinreichend nach Tatort und Tatzeit abgrenzbaren Tatvorwurf bezogen ist.

2. Für die Bestimmung des Begriffs derselben Angelegenheit im Sinne von § 15 Abs. 2 RVG ist maßgebend, wie die Strafverfolgungsbehörden die Sache behandeln. Dass aus organisatorischen oder statistischen Gründen zunächst separat geführte Verfahren eines Beschuldigten zu einem späteren Zeitpunkt zusammengeführt und dann einheitlich bearbeitet werden, begründet keine kostenrechtlich eigenständigen Angelegenheiten der Ursprungsverfahren.

Anzumerken ist hier – aus Platzgründen – nur Folgendes:

Wie gesagt „unschön“ und: Die Entscheidung lässt mich verärgert zurück. Denn es ist in meinen Augen mal wieder eine dieser Entscheidungen, der man – zumindest ich – deutlich anmerkt, dass man letztlich vom Ergebnis her argumentiert und sich sagt, dass kann doch wohl nicht sein, dass der Verteidiger für das bisschen Arbeit mehr als 8.000 EUR vergütet bekommen soll. Gegen das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und die Vergabe gesonderter Aktenzeichen allein aus organisatorischen oder statistischen Gründen hat man nichts einzuwenden, jedenfalls erkenne ich das nicht. Aber, wenn sich daraus für den Verteidiger positive Gebührenfolgen ergeben, dann darf kann/darf das doch nicht sein. Und dann überlegt man, was man machen kann, um dessen Gebührenanspruch zu beschränken. Und wie so häufig in solchen Fällen kommt man dann zu falschen Lösungen. Warum falsch? Dazu nur kurz:

Das OLG irrt in seiner Annahme, der Verteidiger habe vor der Verbindung/Erstreckung keine Tätigkeiten in den Verfahren „Fallakten“ erbracht. Denn es übersieht, dass sowohl Grundgebühr als auch Verfahrensgebühr jeweils mit der ersten Tätigkeit des Verteidigers entstehen (ebenso falsch wie das OLG übrigens LG Siegen, Beschl. v. 19.2.2024 – 10 Qs 4/24; LG Hildesheim, Beschl. v. 31.1.2022 – 22 Qs 1/22; LG Koblenz, Beschl.- v. 18.11.2024 – 3 Qs 45/24). Die kann aber immer nur in einem Umfang erbracht werden, der dem Kenntnisstand des Verteidigers vom Verfahren bzw. den Verfahren entspricht. Und der war hier mager, aber das kann man dem Verteidiger doch nicht zurechnen. Denn was soll er, der von seinem Mandanten anlässlich des Vorführungstermins und des geführten Gesprächs über weitere Verfahren informiert worden ist, denn anderes tun, als die Verteidigungsübernahme in sämtlichen Verfahren zu erklären, das grundsätzliche Verteidigungsverhalten, das Akteneinsichtsgesuch und das Vorhaben, sich im Weiteren abzustimmen, mit dem Mandanten zu vereinbaren und das zu dem einzigen ihm zu dem Zeitpunkt bekannten Aktenzeichen mitzuteilen. Das war die zu dem Zeitpunkt mögliche „sach- und fachgerechte Verteidigertätigkeit“, in den auch von der Staatsanwaltschaft nur pauschal bekannt gegebenen Verfahren, die dann auch honoriert werden muss. Alles andere – Warten bis konkrete Verfahrensdaten bekannt gegeben sind – würde darauf hinauslaufen, die Staatsanwaltschaft zur Herrin über den Gebührenanspruch des Verteidigers zu machen und würde eine honorarlose Zeit entstehen lassen, in der der Verteidiger tätig wird und wegen der Mandatsübernahme tätig werden muss, ohne dass dafür Gebühren entstehen. Das sieht das RVG aber nicht vor und würde auch dem gesetzgeberischen Anliegen bei Schaffung des RVG, nämlich Verteidiger zu frühzeitigem Tätigwerden anzuregen, zuwider laufen.

Das OLG irrt auch bei der Annahme, es habe auch bis zur Verbindung der neun Fallaktenverfahren F 1 – F 9 mit dem Verfahren nur V 2 nur eine Angelegenheit vorgelegen. Es ist zwar alles richtig, was das OLG sich an Rechtsprechung und Literatur zusammen gesucht hat, um seine Auffassung zu stützen, nur zieht das OLG den falschen Schluss und übersieht das m.E. entscheidende Kriterium, dass nämlich die neun Fallakten alle ein eigenes Aktenzeichen hatten, von der Staatsanwaltschaft also als eigenständige Ermittlungsverfahren angesehen wurden. Dabei ist es völlig egal, ob man aus statistischen Gründen – um also ggf. eine höhere Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft „vorzutäuschen“ – so vorgegangen ist. Das interessiert in dem Zusammenhang den Verteidiger nicht. Im Übrigen lässt sich doch kaum deutlicher als durch die Vergabe eine eigenständigen Aktenzeichens für jede vom Beschuldigten angeblich begangene Tat nach außen hin zeigen, dass man von Eigenständigkeit ausgeht.

Fazit: Gewogen und erheblich zu leicht befunden.

StGB III: Unmutsbekundungen eines Beschuldigten, oder: „Sie „Rechtsbeugerin“, und „Betrügerin“

Bild von Pete Linforth auf Pixabay

Und dann habe ich hier noch den OLG Koblenz, Beschl. v. 25.03.2025 – 6 ORs 4 SRs 74/24 – zur Strafbarkeit von schriftlichen Unmutsbekundungen eines Beschuldigten in gegen ihn geführten Straf- bzw. Strafvollstreckungsverfahren.

Veurteilt worden ist der Angeklagte wegen Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung. Dagegen die Revision, die beim OLG Erfolg hatte.

Auszugehen war von folgenden Feststellungen und Wertungen des LG:

„1.a) Im Zusammenhang mit dem gegen den Angeklagten vor dem Amtsgericht Trier unter dem Vorsitz der Richterin am Amtsgericht N. geführten Strafverfahren pp. versandte er am 20.10.2022 um 11.32 Uhr eine E-Mail nebst Anlagen an die ihm in diesem Verfahren beigeordnete Pflichtverteidigerin, das zentrale E-Mail-Postfach des Amtsgerichts Trier und des Polizeipräsidiums Trier, mit der er sinngemäß die hoheitlichen Befugnisse von Polizeibeamten negierte und diverse Anlagen übermittelte. Sie steht im Zusammenhang mit seiner unmittelbar an die E-Mail vom 20.10.2022 angefügten, ebenfalls an seine Pflichtverteidigerin gerichteten E-Mail vom 19.10.2022, 17.30 Uhr, mit der er seine Missachtung gegenüber Richterin am Amtsgericht N. kundtun wollte (Fall II.1 d. Urteilsgründe).

In der letztgenannten E-Mail heißt es unter anderem wie folgt (sic!):

„Sehr geehrte Rechtsverdreherin […],

wenn Sie wie Z. und K., Schiedsrichterin N., beteiligte Scheinbeamte und sonstige Betrüger und Landesverräter der Bundesrepublik einreihen möchten, die zu gegebener Zeit vor dem Restitutionsgericht in Ankara für ihre Menschenrechtsverletzungen büßen und bezahlen werden, die nach Völkerstrafgesetzbuch als Kriegsverbrechen gelten, belästigen Sie mich ruhig weiter. […] Der Anwaltszwang ist wie 28 andere Gesetze der BRD angewandtes NS-Recht, dass per 139GG, dass ausschließlich für Sie und Ihresgleichen verpflichtend ist, verboten ist. […] Ich habe über die Jahre nun ausreichende Beweise gesammelt und werde Sie alle beim OHCHR und dem Restitutionsgericht zur Verantwortung ziehen, die ja jeder Richter durch Unterlassen der Unterschrift unter Urteilen und Beschlüssen, von sich weisen will. Ich werde Ihnen vorsorglich morgen besagte Urteile übersenden […]

Sollten Sie Urteil C-508/18 der CVRIA gelesen haben, sollten Sie verstehen, dass Schiedsrichterin und Rechtsbeugerin N. mich ohne einsperren wird, um ihren Betrug zu verdecken.

Ich werde Sie alle dafür bluten lassen, egal wie lange es dauert und was es mich kosten wird. Urteile des BverfG stellen für die BrD und all ihre Handlanger verbindliches Bundesrecht dar und ich mache Ihrer Täuschung nicht mehr mit. […]“

b) Am 22.12.2022 stand der Angeklagte aufgrund einer Verurteilung durch das Amtsgericht Trier vom 16.11.2021 unter laufender Bewährung. An diesem Tag versandte er im zugehörigen Bewährungsverfahren – Az. pp. – um 03.36 Uhr eine E-Mail mit dem Betreff „fortgeführtes Nazi Deutschland“ an das zentrale E-Mail-Postfach des Amtsgerichts Trier, des Polizeipräsidiums Trier sowie drei Rechtsanwälte. Sie ist gerichtet an eine namentlich angesprochene Geschäftsstellenmitarbeiterin der Abteilung für Strafsachen des Amtsgerichts Trier, der der Angeklagte seine Missachtung kundtun wollte (Fall II.2 d. Urteilsgründe).

In der E-Mail heißt es unter anderem wie folgt:

„Sehr geehrte Frau […],

angesichts des Urteils des IGH’s vom 03.02.2012 und dem dazugehörigen ZDF Bericht selben Datums und der dortigen Feststellungen, dass die BRD die Rechtsnachfolgerin des dritten Reichs ist […], dem Urteil des europäischen Gerichtshofes zum Az.: C 508/18 und der Feststellung, dass die BRD mangels Gewaltenteilung kein Rechtsstaat ist und dem Urteil des BVerfG vom 25.07.2012 dass besagt, das dass Wahlrecht in der BRD nichtig ist […] bleibt nur die Frage, ob sie meinen, das all dass für Sie ohne Konsequenzen bleibt.

Sie und die restliche BRD Verwaltung führen das III. Reich fort, vergeben Staatsangehörigkeiten des Adolf Hitler, wenden Nazi-Gesetze an, verwalten die Menschen widerrechtlich als jur. Personen und vergewaltigen und pervertieren althergebrachte Rechtsgrundsätze und das Völkerrecht und schreiben dann von rechtskräftigen Urteilen.

Nichts ist in der BRD seit 1956 rechtskräftig, da es seit diesem Datum keinen rechtmäßigen Gesetzgeber gibt […] und niemand von Ihnen befugt ist, staatliches Recht anzuwenden […].

All Ihre Menschenrechtsverletzungen = Kriegsverbrechen sind gut dokumentiert und sie alle, restlos, werden sich in naher Zukunft vor Militärtribunalen verantworten, da nun selbst die UN gegen die Glorifizierung des Nazismus vorgeht, welchen sie hier offenkundig betreiben. Ihre Namen und Taten sind bisher und werden auch künftig an entsprechende Stellen übermittelt. […]

Ich habe mit Ihrem Nazi Verein nichts zu tun […] Wiedermal basiert ihr Handeln auf Willkür und Ermächtigung sowie Notstandsgesetzgebung. […]“

Das OLG hat aufgehoben und frei gesprochen. Zur Begründung führt es u.a. aus:

„2. Hiervon ausgehend begegnet das angefochtene Urteil durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Urteilsgründe werden – da ihnen bereits nicht abschließend zu entnehmen ist, ob das Landgericht, das die Äußerungen des Angeklagten jeweils zu seinen Gunsten als Werturteile ausgelegt hat, von einer Schmähkritik ausgeht oder der Schuldspruch Ergebnis einer Abwägung ist – den verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Prüfungs- und Begründungstiefe nicht gerecht. Dies hat indes nicht die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zur Folge. Vielmehr ist es dem Revisionsgericht möglich, diese Prüfung nachzuholen, da die rechtsfehlerfrei getroffenen Urteilsfeststellungen vollständig sind und eine ausreichende Tatsachengrundlage bilden (vgl. zur Sinnermittlung der Äußerung bereits oben BayObLG 206 StRR 343/24 aaO.; vgl. zur eigentlichen Abwägung OLG Hamm, Urt. 4 ORs 46/23 v. 27.06.2023 – BeckRS 2023, 15053 <Rn. 29 mwN.>; OLG München, Beschl. OLG 13 Ss 81/17 v. 31.05.2017 – BeckRS 2017, 112292 <Rn. 10>; OLG Stuttgart, Urt. 1 Ss 599/13 v. 07.02.2014 – BeckRS 2015, 7792 <Rn. 21>). Dies führt im Ergebnis dazu, dass der Meinungsfreiheit hier der Vorrang einzuräumen ist.

a) Im Ansatz zutreffend hat das Landgericht die Sinngehalte der durch den Angeklagten getätigten Äußerungen ermittelt und ist richtigerweise davon ausgegangen, dass es sich bei den verfahrensgegenständlichen Äußerungen sowohl in Fall II.1 als auch in Fall II.2 der Urteilsgründe um Werturteile handelt.

aa) Allerdings begegnen die durch das Landgericht ermittelten Sinngehalte der Äußerungen insoweit Bedenken, als es sie nicht erkennbar in den Gesamtkontext der Aussagen gestellt hat, sondern isolierte Aspekte herausgegriffen werden. Insbesondere wird nicht erkennbar, ob das Landgericht in seine Überlegungen eingestellt hat, ob die Äußerungen des Angeklagten den namentlich genannten Personen selbst oder einer – wenn auch abwegigen – Systemkritik galten und ob nach den konkreten Umständen eine Deutung möglich ist, dass er – entsprechend seiner Einlassung, er habe niemanden beleidigen wollen – nicht die Richterin bzw. Geschäftsstellenmitarbeiterin verächtlich machen wollte, sondern allein deren Funktion und die damit einhergehenden gerichtlichen Handlungen als solche angreift. Insoweit gilt:

(1) Den E-Mails ist in ihrem jeweiligen Gesamtkontext zunächst eine generell gegenüber dem Staat und seinen Bediensteten ablehnende Haltung zu entnehmen. Der Angeklagte bestreitet im Ergebnis die Existenz und Legitimität der Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr vertritt er die Auffassung, dass die Bundesrepublik Nachfolgerin des Dritten Reiches sei und weiterhin NS-Recht – auch zu seinem Nachteil – angewendet werde. Damit einhergehend stellt er die Rechtsstaatlichkeit sämtlichen justiziellen Handelns in Abrede. Demgemäß hält er jegliches staatliche Vorgehen und insbesondere jenes der Gerichte für verbrecher- und betrügerisch sowie nicht bindend. Personen, die an diesem – seiner Auffassung nach – gesetzlich nicht gedeckten, daher missbräuchlichem und willkürlichem Vorgehen mitwirken, betrachtet er unter anderem als „Betrüger“, „Landesverräter“ (Fall II.1 der Urteilsgründe) bzw. Verletzer von Menschenrechten und Kriegsverbrecher, die das Dritte Reich fortführten und damit Teil eines „Nazivereins“ seien (Fall II.2 der Urteilsgründe).

Aus dieser Grundannahme heraus behauptet der Angeklagte in Fall II.1 der Urteilsgründe, die für sein Strafverfahren zuständige Richterin werde das – vom Angeklagten gemutmaßte – Unrecht und den damit einhergehenden massiven Betrug, an dem sie als Teil des Systems beteiligt sei, dadurch decken, dass sie ihn in dem gegen ihn geführten Strafverfahren einsperren wird. In diesem Kontext bezeichnet er sie schließlich auch als „Rechtsbeugerin“.

Ebenfalls auf Basis seiner Grundannahmen äußert der Angeklagte in Fall II.2 der Urteilsgründe gegenüber der betroffenen Justizbeschäftigten, dass sie durch ihr berufliches Wirken Teil dieses „Nazivereins“ sei und daher Menschheits- und Kriegsverbrechen begehe. Demgegenüber unterstellt er der Betroffenen im Gesamtkontext nicht, selbst nationalsozialistische Gesinnungen zu vertreten. Kern seiner Äußerung ist vielmehr, dass alle Staatsbediensteten Teil eines „Nazivereins“ seien und ihr Handeln damit nicht rechtmäßig, sondern willkürlich. Sinngemäß wirft er der Betroffenen daher weitergehend auch einen Machtmissbrauch vor.

(2) Hiervon ausgehend erachtet der Senat die in Fall II.1 der Urteilsgründe mit E-Mails vom 19./20.10.2022 getätigten Äußerungen nicht lediglich als gegen die ausgeübte Funktion gerichtete Kritik, sondern geht davon aus, dass er die betroffene Richterin auch persönlich jedenfalls in ihrem ethischen Geltungswert ansprechen wollte. Denn den Aussagen ist nicht lediglich zu entnehmen, dass sie keine „echte“ – gemeint eine legitimierte – Richterin sei und auf Basis „nichtiger BRD-Gesetzgebung“ handele. Vielmehr wirft er ihr im Gesamtkontext vor, dass sie dies vertuschen wolle und hierfür betrügerisch und rechtsbeugend andere Menschen einzusperren bereit sei. Damit einher geht der ehrverletzende Vorwurf, der hinter dem Amt stehende Mensch nutze eine ihm zukommende Machtposition aus Eigeninteresse aus, um seine Unrechtstaten – die ihr also bewusst sein müssen – missbräuchlich zu verschleiern.

Dies gilt gleichermaßen in Fall II.2 der Urteilsgründe. Der Vorwurf, die Betroffene sei Teil eines „Nazivereins“, richtet sich zwar vorrangig gegen die durch sie ausgeübte Funktion. Er geht jedoch darüber hinaus und greift die Betroffene ebenfalls in ihrem ethischen Geltungswert als Person an, da sie mit der Ausübung ihrer Tätigkeit bewusst Menschheits- und Kriegsverbrechen begehe. Damit einher geht – wie auch in Fall II.1 der Urteilsgründe – die Unterstellung erheblicher moralischer Defizite aufgrund ihres bewussten und ausdrücklich als willkürlich bezeichneten Verhaltens.

bb) Bei diesen Äußerungen handelt es sich jeweils um Werturteile. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der Äußerung an. Auch ist im Einzelfall eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung nur zulässig, wenn dadurch ihr Sinn nicht verfälscht wird (vgl. BVerfG, Beschl. 1 BvR 820/24 aaO. <169>; vgl. auch BayObLG, Beschl. 1 St RR 75/2001 aaO.). Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes drohte. Ein Werturteil liegt auch dann vor, wenn der tatsächliche Gehalt der Äußerung so substanzarm ist, dass er, mag der Tatsachenkern auch erkennbar sein, gegenüber der subjektiven Wertung völlig in den Hintergrund tritt (vgl. KG, Beschl. (4) 161 Ss 80/12 (104/12) v. 30.04.2012 – NStZ-RR 2013, 8; OLG Brandenburg aaO.).

So liegt der Fall hier. Den Äußerungen ist in beiden Fällen durchaus ein Tatsachenkern zu entnehmen, nämlich einerseits derjenige des behaupteten Betrugs bzw. der behaupteten Rechtsbeugung, anderseits der vorgeworfenen Mitgliedschaft in einem „Naziverein“ mit „willkürlichem Handeln“ und der Begehung von Menschheits- und Kriegsverbrechen. Die damit einhergehenden Behauptungen, die den Ausgangspunkt dieser Äußerungen bilden, nämlich dass der Bundesrepublik Deutschland die Legitimation fehle, sie Nachfolgerin des Dritten Reiches sei und die Gesetzgebung nichtig wäre, ist jedoch derart substanzarm, dass diese und in der Folge die den Betroffenen gegenüber ausgesprochenen Vorwürfe als rein subjektive Wertungen des Angeklagten zu behandeln sind.

c) Handelt es sich hiernach bei den Äußerungen des Angeklagten sowohl in Fall II.1 als auch in Fall II.2 der Urteilsgründe um Werturteile, erfordert die Einstufung als strafbare Beleidigungen im Sinne des § 185 StGB einen Ausgleich mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, der über eine einzelfallbezogene Abwägung vorzunehmen ist. Dabei erfüllen die durch das Landgericht festgestellten Aussagen des Angeklagten sowohl in Fall II.1 als auch in Fall II.2 der Urteilsgründe objektiv durchaus den Tatbestand einer Beleidigung im Sinne des § 185 StGB. Sie waren hier aber unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls von der Meinungsfreiheit gedeckt.

aa) Zunächst liegt ein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannter Ausnahmefall, der der Abwägung entzogen wäre, nicht vor. Bei den beiden Äußerungen des Angeklagten handelt es sich weder um einen Angriff auf die Menschenwürde, noch um eine Formalbeleidigung oder um Schmähkritik.

(1) Ein Angriff auf die Menschenwürde scheidet in beiden Fällen erkennbar aus. Eine Menschenwürdeverletzung kommt nur in Betracht, wenn sich eine Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht (vgl. BVerfG, Beschlüsse 1 BvR 369/04 (ua.) v. 04.02.2010 – NJW 2010, 2193; 1 BvR 2397/19 v. 19.05.2020 – NJW 2020, 2622 <Rn. 22>). Dies ist hier ersichtlich nicht der Fall.

(2) Ebenso liegt jeweils die Annahme einer Formalbeleidigung fern.

In diesen Fällen bildet das Kriterium der Strafbarkeit nicht der fehlende Sachbezug einer Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifische Form dieser Äußerung (vgl. BVerfG, Beschl. 1 BvR 2397/19 aaO. <Rn. 21>). Dies gilt etwa bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern, etwa aus der Fäkalsprache.

Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor. Die durch den Angeklagten gegenüber den Betroffenen verwendeten Begrifflichkeiten stellen keine gesellschaftlich tabuisierten Schimpfwörter dar. Es handelt sich vielmehr um Begriffe, mit denen im Einzelfall durchaus sachliche Kritik an Personen und deren Verhalten zum Ausdruck gebracht werden könnte; dies gilt insbesondere auch mit Blick auf den in Fall II.1 der Urteilsgründe verwendeten Begriff der „Rechtsbeugung“ (vgl. ausdrücklich BVerfG 1 BvR 2397/19 aaO. <Rn. 37>).

(3) Die Äußerungen des Angeklagten sind im Ergebnis auch nicht als Schmähkritik einzuordnen.

Der Charakter einer Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinn folgt nicht schon aus einem besonderen Gewicht der Ehrbeeinträchtigung als solcher und ist damit nicht ein bloßer Steigerungsbegriff. Auch eine überzogene, völlig unverhältnismäßige oder sogar ausfällige Kritik macht eine Äußerung noch nicht zur Schmähung, so dass selbst eine Strafbarkeit von Äußerungen, die die persönliche Ehre erheblich herabsetzen, in aller Regel eine Abwägung erfordert. Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung vielmehr erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfG 1 BvR 2588/20 aaO.), wenn also die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drängt (vgl. BVerfG, Beschl. 1 BvR 2272/04 v. 12.05.2009 – NJW 2009, 3016 <3018 Rn. 35>). Es sind Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen. Davon abzugrenzen sind letztlich Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend ist, als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhalts dient. Insoweit stellt die Annahme einer Schmähung eine eng umgrenzte Ausnahme dar (vgl. BVerfG, Beschl. 1 BvR 2397/19 aaO. <2624 Rn. 20>; OLG Bremen aaO. <Rn. 15>).

Hiervon ausgehend ist nicht erkennbar, dass es dem Angeklagten bei seinen Äußerungen ohne sachliche Auseinandersetzung um die Diffamierung der Betroffenen gegangen wäre. Vielmehr weisen seine E-Mails vom 19./20.10.2022 bzw. 22.12.2022 inhaltlich jeweils einen Sachbezug auf. So stehen sie im direkten Zusammenhang mit dem gegen ihn geführten Straf- (Fall II.1 der Urteilsgründe) bzw. Bewährungsverfahren (Fall II.2 der Urteilsgründe), deren Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit der Angeklagte nicht anerkennen wollte. Zwar spricht er in diesem Zusammenhang dem damit einhergehenden staatlichen Handeln unter Heranziehung von in der Reichsbürgerszene vertretenen Ideologien die Legitimität ab. Gleichwohl setzt er sich mit der Sache auseinander, auch wenn er für seine Äußerung eine Auffassung geltend macht, die einer Grundlage entbehrt. Den E-Mails lässt sich nämlich insoweit entnehmen, dass der Angeklagte diesen „Konstrukten“ Glauben schenkt, und er ist ersichtlich bemüht, diese durch Übersendung und Inbezugnahme verschiedener Gerichtsentscheidungen zu belegen. Demnach geht es ihm nicht darum, die Personen ohne Sachauseinandersetzung zu diffamieren, sondern darum, seine Weltwahrnehmung zu vertreten, die – ihre Geltung unterstellt – innerhalb der gegen ihn geführten strafrechtlichen Verfahren Wirkungen zu seinen Gunsten entfalten würde.

bb) Da kein die Abwägung entbehrlich machender, von vornherein die Meinungsfreiheit verdrängender Ausnahmetatbestand erfüllt ist, bedarf es einer Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit der jeweils Betroffenen. Hierzu bedarf es einer umfassenden und insbesondere allein einzelfallbezogen Güter- und Pflichtenabwägung, der kein allgemeingültiger Aussagegehalt zukommt. Wo – wie hier – im Rahmen der Abwägung der Meinungsfreiheit der Vorrang einzuräumen ist, mag dies in einem anderen Kontext durchaus abweichend zu beurteilen sein. Erhebliche Abwägungsgesichtspunkte begründen dabei insbesondere der Inhalt einer Äußerung, deren Form, Anlass und die konkreten Art der Verbreitung und Wirkung der Äußerungen.

(1) Zunächst ist hierbei allgemein zu beachten, dass für die Reichweite des Schutzbereiches der Meinungsfreiheit nicht von Bedeutung ist, ob eine Äußerung wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, emotional oder rational begründet ist (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. 2 Rv 4 Ss 193/18 v. 22.05.2018 – BeckRS 2018, 62931 <Rn. 10>). Auch eine polemische oder verletzende Formulierung kann in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen (vgl. BVerfG, Beschl. 1 BvR 2433/17 aaO <Rn. 16>; 1 BvR 180/17 aaO <Rn. 11>). Bei der Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist insbesondere davon auszugehen, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet. Allerdings erlaubt auch der Gesichtspunkt der Machtkritik nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern, deren Schutz auch im öffentlichen Interesse liegt (vgl. BVerfG, Beschl. 1 BvR 2397/19 aaO. <Rn. 32>).

Schließlich gilt – wie ausgeführt -, dass die Ablehnung der vorgenannten Ausnahmetatbestände keine Vorfestlegung in dem Sinne darstellt, dass der Meinungsfreiheit im Vergleich zum Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eine höhere Gewichtung zukäme.

(2) Unter Zugrundelegung dieses rechtlichen Maßstabes ist der Meinungsfreiheit jeweils der Vorrang einzuräumen.

Auf der Seite der Meinungsfreiheit ist zunächst wesentlich, dass der Angeklagte seine Äußerungen in beiden Fällen nicht als unbeteiligter Dritter, sondern als Beteiligter an einem gerichtlichen Verfahren im Kampf um Rechtspositionen gemacht hat, wobei es nicht darauf ankommt, dass er seine Kritik auch anders hätte formulieren können. Insoweit mag sich der Angeklagte eine positive Auswirkung und Fortwirkung seiner Kritik im weiteren Ablauf der Verfahren versprochen haben; ob sie objektiv betrachtet zur Wahrnehmung seiner Interessen auch geeignet war, spielt dafür keine Rolle. Wenn es um eine Meinungsäußerung vor Gericht geht, darf „im Kampf um das Recht” ein Verfahrensbeteiligter auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, um polarisierend seine Meinung zu Gehör zu bringen; selbst personenbezogene starke Formulierungen können gestattet sein. Nichts anderes kann gelten, wenn ein Angeklagter in seiner subjektiven Weltanschauung die Legitimation eines Richters oder einer gerichtlichen Entscheidung in Frage stellt und daraus für sich den Schluss zieht, Entscheidungen seien rechtsbeugend, betrügerisch oder willkürlich. Auch die Behauptung, jemand sei als Staatsbediensteter Teil eines „Nazivereins“, weil der Angeklagte eindringlich darauf beharrt, das dahinter stehende „staatliche Konstrukt“ sei als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reichs zu betrachten, weshalb eine Legitimation nicht gegeben sei, kann als Kampf um eine Rechtsposition betrachtet werden. Das diese Äußerungen falsch sind und kaum als rationale Erwägung betrachtet werden können, ist – wie ausgeführt – nicht bedeutsam. Es bleibt daher dabei, dass es sich um Äußerungen handelte, mit denen er sich zur Wehr setzt, weil er die staatlichen Maßnahmen als unrechtmäßig ansah.

Demgegenüber ist zu Gunsten des Ehrschutzes der Betroffenen zu berücksichtigen, dass der erhobene Vorwurf der Rechtsbeugung für jeden Richter eine schwere Kränkung bildet (vgl. OLG Celle, Urt. 31 Ss 9/15 v. 27.03.2015 – BeckRS 2015, 19099; BayObLG, Beschl. 1 St RR 75/2001 aaO.; OLG Jena, Beschl. 1 Ss 157/01 v. 04.07.2001 – NJW 2002, 1890 <1891>). Dies gilt umso mehr, wenn einer Richterin in diesem Zusammenhang ein im Eigeninteresse begangener Betrug ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für Andere vorgeworfen wird. Gleichermaßen gilt dies für den Vorwurf an eine Geschäftsstellenmitarbeiterin, sie sei Teil eines fortgesetzten NS-Regimes und begehe Menschheits- bzw. Kriegsverbrechen und handele willkürlich.

Allerdings kann diesem Aspekt – insoweit streitend für die Meinungsfreiheit – hier nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommen. Dem Angeklagten ging es nicht direkt um eine Ehrverletzung an den hinter der Richterin bzw. der Geschäftsstellenmitarbeiterin stehenden Personen als solchen. Vielmehr hat er diese vorrangig, wenn auch nicht ausschließlich (vgl. oben), als Teil seiner – obgleich realitätsfernen – Systemkritik und damit einer komplexen Meinung angesprochen und deren ausgeübte Rollen angegriffen. Schließlich ist einschränkend zu erwägen, dass das seitens des Angeklagten geltend gemachte und hinter seinen Äußerungen stehende „Konstrukt“ den jeweilige Ehrangriff abmildert, da es von dem weit überwiegenden Teil der Gesellschaft abgelehnt wird. Den Vorwürfen kommt daher nur ein geringes Gewicht zu. Darüber hinaus gilt für Fall II.2 der Urteilsgründe, dass die äußere Form, mit der er die Betroffene angesprochen hat, gesellschaftlichen Normen entspricht. So hat er sie mit „Sehr geehrte Frau […]“ angesprochen und durchgehend gesiezt. Diese Form der Ansprache lässt erkennen, dass er hier – anders als beispielsweise in Fall II.1 der Urteilsgründe, in dem er seine Pflichtverteidigerin mit „Rechtsverdreherin“ angesprochen hat – der Person als solcher nicht generell ablehnend gegenübersteht.

Zu Gunsten des Ehrschutzes muss des Weiteren in die Abwägung eingestellt werden, dass es sich jeweils um schriftliche Äußerungen handelt, bei denen ein höheres Maß an Bedacht zu fordern ist. Insoweit gilt indes einschränkend, dass der Angeklagte die E-Mails in beiden Fällen lediglich an einen kleinen Adressatenkreis richtete, der sich jeweils auf das Amtsgericht – und hier nur das zentrale Postfach – selbst, die Pflichtverteidigerin bzw. drei Rechtsanwälte sowie das Polizeipräsidium beschränkte. Dieser Personenkreis ist im weitesten Sinne dem Justizsystem zuzuordnen und für die mitgeteilten Inhalte wenig empfänglich. Die von seinen Äußerungen ausgehenden Wirkungen blieben mithin unbedeutend.

In einer Gesamtabwägung dieser Umstände erscheint es insgesamt hinnehmbar, den Ehrenschutz in beiden Fällen zurücktreten zu lassen. Als Teil der Justiz bewegen sich insbesondere Richter im Spannungsfeld zwischen der Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes einerseits und ihrer privaten Berührtheit andererseits. In diesem müssen sie bedenken, dass ihre Entscheidungen für die Betroffenen häufig einschneidend sind und daher zu Reaktionen führen können, die sich trotz gegenteiliger Formulierung letzten Endes gar nicht gegen ihre Person oder Ehre, sondern vielmehr gegen die getroffene Entscheidung selbst und die Rechtslage als solche richten (vgl. OLG München aaO.; KG, Beschl. 1 Ss 470/09 aaO.). Dies gilt – wenn auch eingeschränkt – gleichermaßen für Beschäftigte der Justiz. Auch sie treten regelmäßig mit Angeklagten, Verurteilten, Parteien (etc.) nach außen in Kontakt, die sie sodann als Ansprechpartner und (mit)verantwortlich für ihr Schicksal betrachten. In die internen Vorgänge, insbesondere wer Entscheidungsträger oder Veranlasser eines Schreibens ist, haben Außenstehende keinen Einblick. Innerhalb dieses Spannungsfeldes sehen sich Richter und Justizbeschäftigte regelmäßig unberechtigten und haltlosen Vorwürfen ausgesetzt. Dies gilt es als systemimmanent auszuhalten, solange das Ansehen der Betroffenen keinen Schaden nimmt oder erheblich bedroht ist (vgl. auch OLG Celle aaO.).

3. Nach alledem unterliegen die Urteile des Amts- und Landgerichts Trier der Aufhebung und der Angeklagte ist freizusprechen.

Der Senat kann gemäß § 354 Abs. 1 StPO selbst in der Sache entscheiden, da die vom Landgericht getroffenen Feststellungen zweifelsfrei ergeben, dass sich der Angeklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt strafbar gemacht hat und weitere Aufschlüsse, die zu einer Verurteilung führen könnten, auch unter Berücksichtigung des Gebots umfassender Sachaufklärung und erschöpfender Beweiswürdigung nicht zu erwarten sind.

Der Senat bemerkt abschließend ausdrücklich, dass die Entscheidung nicht als Billigung der Äußerungen des Angeklagten missverstanden werden darf. Die Auseinandersetzung mit Entscheidungen oder Vorgehensweisen von Behörden hat grundsätzlich allein mit den Mitteln zu erfolgen, die die jeweiligen Verfahrensordnungen zur Verfügung stellen, ohne dass Anlass und Raum für verletzende und kränkende, die gebotene sachliche Atmosphäre lediglich vergiftende Angriffe auf die handelnden Personen bliebe. Strafbar ist das Verhalten des Angeklagten nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Grundsätze allerdings noch nicht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man Richter, Justizbeschäftigte oder andere dem Rechtsstaat dienende Personen sonst auch straflos als Rechtsbeuger, Betrüger oder vergleichbar bezeichnen darf.“

OWi II: Alte „Sitzungsrolle“ am Saal als Aushang, oder: Kenntnis des Verteidigers schadet nicht

entnommen wikimedia.org
Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Im zweiten Posting dann etwas Verfahrensrechtliches, und zwar der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.05.2024 – 1 ORbs 31 SsBs 12/24 – zur Verletzung der Öffentlichkeit. Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren, die Ausführungen des OLG haben aber auch Bedeutung in Strafverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, u.a. mit der Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Die hat Erfolg. Das OLG hat das AG-Urteil aufgehoben:

„Die Verfahrensrüge, mit welcher der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Öffentlichkeit gemäß §§ 169 Abs. 1 GVG, 338 Nr. 6 StPO i. V. m. §§ 71 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG rügt, ist zulässig erhoben und führt in vorliegender Konstellation auch in der Sache zum Erfolg.

1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrem Votum vom 2. April 2024 hierzu wie folgt aus:

„Gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO müssen die den geltend gemachten Verfahrensfehler begründenden Tatsachen so genau und vollständig mit-geteilt werden, dass dem Rechtsbeschwerdegericht allein anhand der Begründungsschrift und ohne Rückgriff auf den Akteninhalt die Prüfung ermöglicht wird, ob ein Verfahrensfehler, auf dem das Urteil beruhen kann, vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (OLG Koblenz, Beschluss vom 09.06.2006 – 1 Ss 161/06; Be-schluss vom 25.06.2012 – 1 SsRs 47/12; Beschluss vom 24.07.2012 – 1 SsRs 63/12).

Zur Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit, der auch im Bußgeld-verfahren gilt (OLG Schleswig, Beschluss vom 31.03.2022 — II OLG 15/22, BeckRS 2022, 14674 m.w.N.), gehört dazu die Angabe, der tatsächlichen konkreten Umstände, aus denen sich ergibt, dass das Gericht die Öffentlichkeit beschränkt hat (BGH, Beschluss vom 10.01.2006 1 StR 527/05, NJW 2006, 1220, 1221 f.) und warum es den Verfahrensverstoß zu vertreten hat (BGH, Beschluss vom 28.09.2011 – 5 StR 245/11, NStZ 2012, 173, 174 m.w.N.). Hingegen muss nicht dargelegt werden, dass sich tatsächlich jemand von der Teilnahme an der Verhandlung hat abhalten lassen (OLG Schleswig a. a. O.).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung gerecht.

Dass der Verteidiger des Betroffenen aufgrund des von ihm vor der Hauptverhandlung wahrgenommenen Fehlen des Aushangs um die Möglichkeit einer Verletzung der Öffentlichkeit wusste, führt nicht zum Verlust der Rüge. Denn diese könnte selbst dann zulässig erhoben werden, wenn er selbst den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt hätte (BGH, 1 ORbs 31 SsBs 12/24 Beschluss vom 31.01.1967 – 5 StR 650/66, NJW 1967, 687).“

Dem tritt der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung bei.

2. In der Sache ist die Verfahrensrüge begründet. Dadurch, dass – soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren feststellbar – letztlich keinerlei Aushang auf die im hiesigen Verfahren sattgehabte Sitzung am 26. Oktober 2023 hinwies, war der Öffentlichkeitsgrundsatz in unzulässiger Weise beschränkt und zwingt zur Aufhebung des ergangenen Urteils.

a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit aus § 169 Abs. 1 GVG soll die Kontrolle der Rechtspflege durch die Allgemeinheit ermöglichen und zählt zu den wesentlichen rechtsstaatlichen Strukturprinzipien des Strafprozesses. Er verlangt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit erhalten muss, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuschauer teilzunehmen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2023 – 1 StR 20/06, Rn. 10; Urteil vom 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – alle Fundstellen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zitiert nach juris). Dies umfasst auch über ausreichende Informationen über Ort und Zeit einer Gerichtsverhandlung zu verfügen. Ausreichend hierfür ist, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten hiervon Kenntnis zu verschaffen und dass der Zutritt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten eröffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66). Regelmäßig genügt wird dem Informationsbedürfnis durch einen entsprechenden Aushang („Terminsrolle“) am Sitzungssaal oder an anderer (zentraler) Stelle im Gerichtsgebäude (vgl. KG, Urteil vom 12. Dezember 2022 – (3) 121 Ss165/22). Daran fehlt es hier.

Wie die Rechtsbeschwerde durch Vorlage entsprechen der Lichtbilder und anwaltlich versichert vorträgt, war zur hiesigen Terminsstunde noch eine Sitzungsrolle vom Vormittag angebracht, die über öffentliche Verhandlungen der Zivilabteilung in Sitzungssaal 107 informierte. Ein Aushang für die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den Betroffenen unmittelbar an der Tür in den Sitzungssaal fehlt indes. Ein entsprechender Aushang befand sich auch nicht an anderer (zentraler) Stelle des Amtsgerichts, etwa im Eingangsbereich. Für eine interessierte Öffentlichkeit war damit nicht erkennbar, dass über-haupt eine Sitzung und dass konkret in dem Verfahren gegen den Betroffen die Hauptverhandlung in Sitzungssaal 107 stattfand. Für eine Nachfrage bei der Wachtmeisterei hinsichtlich einer Verlegung der Hauptverhandlung gegen den Betroffenen in einen anderen Sitzungssaal bestand angesichts dieses Aushangs keine Veranlassung; es konnte vielmehr davon ausgegangen werden, dass in Sitzungssaal 107 überhaupt keine Verhandlung am Nachmittag des 26. Oktober 2023 stattfindet.

b) Dieser Verstoß ist dem Gericht auch zuzurechnen. Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Votum vom 2. April 2024 aus:

„Zwar hat die Vorsitzende ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 15.02.2024 grundsätzliche die Sichtbarkeit und Richtigkeit des Aushangs vor dem Sitzungssaal an jedem Verhandlungstag überprüft und bei Fehlen eines Aushangs die zuständige Geschäftsstelle telefonisch über das Fehlen informiert, die diesen dann angebracht habe. Seit Übernahme des Ordnungswidrigkeitendezernats am 04.10.2023 erinnere sie sich konkret an zwei Fälle, in denen der Sitzungsaushang gefehlt habe. Ob dies am hier gegenständlichen Verhandlungstag der Fall gewesen sei, wisse sie aber nicht mehr.

Die dienstlichen Stellungnahmen der Geschäftsstellen erweisen sich insoweit ebenfalls als unergiebig, da diese ebenfalls keine konkrete Erinnerung an den konkreten Verhandlungstag mehr haben.

Danach aber kann – da die dienstliche Stellungnahme der Vorsitzenden dies nicht näher eingrenzt – nicht ausgeschlossen werden, dass der Vorsitzenden bereits innerhalb des kurzen Zeitraums von wenigen Wochen, innerhalb dessen sie für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständig war bis zur Hauptverhandlung in der Sache, das Fehlen des notwendigen Aushangs bereits aufgefallen war und sie die Geschäftsstelle angewiesen hatte, diesen noch anzubringen. Mithin bestand für sie ein konkreter Anlass das Vorhandensein eines aktuellen Aushangs am Verhandlungstag zu überprüfen, was hier indes offenbar unterblieben ist.

Nichts Anderes dürfte gelten, wenn die Vorsitzende – wozu sich die dienstliche Stellungnahme ebenfalls nicht verhält – den Aushang vom Vortag irrtümlich nicht als solchen wahrgenommen, sondern als Aushang für den aktuellen Sitzungstag angesehen hätte. Denn auch in diesem Falle wäre sie ihrer Sorgfaltspflicht zur Wahrung der Öffentlichkeit nicht hinreichend nachgekommen.“

Diesen Erwägungen tritt der Einzelrichter des Senats bei. Für die Vorsitzende hätte aufgrund des vorherigen, zweimaligen Fehlens des Sitzungsaushangs innerhalb weniger Wochen Veranlassung bestanden, die Richtigkeit des Sitzungsaushangs zu überprüfen, zumal sie (unwidersprochen) den Sitzungssaal durch die Zuschauertür betreten hatte, mithin an dem unzutreffenden Aushang vorbeigegangen war, und sie den Saal am Nachmittag des 26. Oktober 2023 im Anschluss an vorausgegangene Termine (hier der Zivilabteilung) nutzte.

Da es sich bei dem Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit um einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund handelt (§ 338 Nr. 6 StPO i. V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG), vermutet das Gesetz unwiderleglich, dass das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Auf die entsprechende Rüge hin war das Urteil daher aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Alzey zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).“

Also Augen auf. Und: Man muss ja nicht alles erzählen/kund tun, was man dann entdeckt 🙂

KCanG II: Verwertung „alter“ Überwachungsdaten, oder: Bewährung bei Neufestsetzung der Strafe?

Bild von Arek Socha auf Pixabay

Und im zweiten KCanG-Posting des Tages dann drei Entscheidungen aus der Instanz, und zwar zum Verfahrensrecht. Die beiden OLG Entscheidungen befassen sich noch einmal mit der Verwertung „alter“ Erkenntnisse aus der Überwachung von Messenger-Diensten unter Geltung des KCanG. Die LG Entscheidung befasst sich mit der Neufestsetzung der Strafe nach dem KCanG.

Hier sind:

Soweit einige Obergerichte unter Anwendung der Encro-Chat-Rechtsprechung des BGH aufgestellten Grundsätze die Zulässigkeit der Verwertung von Daten aus Kryptierdiensten beim Vorliegen von „nur“ Vergehen, auch bei Verwirklichung besonders schwerer Fälle, nach dem KCanG verneint, da der seitens des BGH fruchtbar gemachte Schutzbereich von §§ 100e Abs. 6, 100b StPO insoweit mangels Vorliegens von Katalogtaten nicht (mehr) eröffnet sei, tritt der Senat dieser Rechtsprechung nicht bei. Der Entscheidung des BGH zum Kryptierdienst kann eine Beschränkung dahingehend, dass stets der „fruchtbar gemachte Grundgedanke der Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau (§ 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO)“ in allen gleichgelagerten Fallgestaltungen heranzuziehen ist, nicht entnommen werden. Vielmehr sind nach dieser Entscheidung auch Verwendungsschranken unterhalb des Schutzniveaus von §§ 100e Abs. 6, 110b StPO in Betracht zu ziehen.

Die Verwertung von Informationen, die aufgrund der Überwachung und Entschlüsselung von Kommunikationsvorgängen in den Kryptiersystemen SkyECC und An0m durch Ermittlungsbehörden ausländischer Staaten erhoben und im Wege der Rechtshilfe erlangt wurden, erfüllt dann die Voraussetzung der strikten Verhältnismäßigkeit, wenn die zugrunde liegende Tat vom Katalog des § 100a Abs. 2 StPO (vorliegend: § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 KCanG) erfasst ist und auch die übrigen Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 StPO gegeben sind.

1. Eine nach Art. 316p i.V.m. Art. 313 Abs. 3 Satz 2 EGStGB veranlasste Neufestsetzung der Strafe erfordert bei Festsetzung einer aussetzungsfähigen Strafe auch eine Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung.

2. Mit der Aussetzungsentscheidung ist die Bewährungszeit neu festzusetzen. Die Bewährungszeit beginnt nach § 56a Satz 1 StGB mit Rechtskraft der Aussetzungsentscheidung.

3. Auf die neue Bewährungszeit ist die Zeit, in der der Verurteilte seit Eintritt der Rechtskraft des Urteils unter Bewährung stand, anzurechnen.

Dolmetscher II: Übersetzer im Vollstreckungsverfahren, oder: Es gelten die allgemeinen Regeln

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, geht es um Zuziehung eines Dolmetschers im Strafvollstreckungsverfahren. Folgender Sachverhalt:

Der Verurteilte ist litauischer Staatsangehöriger und der deutschen Sprache nicht mächtig. Er verbüßte eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Die bedingte Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt lehnte die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 07.12.2022 ab.

Diesem Beschluss war am 30.11.2022 die mündliche Anhörung des Verurteilten vorausgegangen. Den Termin hatte die Strafvollstreckungskammer mit dem Verteidiger abgestimmt. Der Verteidiger hatte angekündigt, einen Dolmetscher mitbringen zu wollen. Es war insoweit vereinbart worden, dass die Staatskasse die anteiligen Kosten für den Dolmetscher übernehme, sofern dieser auch zu der gerichtlichen Anhörung hinzugezogen werde. Die Dolmetscherleistungen, die die mündliche Anhörung des Verurteilten betrafen, wurden gegenüber dem Gericht geltend gemacht und durch die Staatskasse beglichen.

Gestritten wird nun noch um weitere Auslagen in Höhe von 361,24 EUR. Diese betreffen die Dolmetscherkosten für das im Vorfeld der Anhörung geführte Gespräch zwischen dem Verurteilten und seinem Verteidiger. Die Strafvollstreckungskammer insoweit hat den Festsetzungsantrag abgelehnt. Dagegen hat der Verteidiger für den Verurteilten sofortige Beschwerde eingelegt. Diese hatte beim OLG mit dem OLG Koblenz, Beschl. v. 30.08.2024 – 2 Ws 413/23 – Erfolg:

„c) …. Die angegriffene Entscheidung erweist sich indes in der Sache im Wesentlichen als fehlerhaft.

aa) Die Kammer ist noch zutreffend davon ausgegangen, dass sich ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten für das Vorgespräch mit dem Verteidiger mangels Ver-handlung nicht aus § 185 GVG herleiten lassen kann.

bb) Auch aus § 187 GVG lässt sich ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten für ein Verteidigergespräch nicht ableiten, da die Vorschrift nur regelt, unter welchen Voraussetzungen das Gericht verpflichtet ist, einen Dolmetscher für den Verurteilten heranzuziehen. Hier geht es indes um die Erstattungsfähigkeit derjenigen Kosten, die dadurch entstanden sind, dass der Verteidiger für das Mandantengespräch mit dem Verurteilten einen Dolmetscher hinzugezogen hat.

cc) Ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten ergibt sich auch nicht aus Art. 6 Abs. 3 lit e) EMRK. Nach dieser Vorschrift hat jede angeklagte Person das Recht, unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht. Die Vorschrift, die als Berechtigten die „angeklagte Person“ benennt, ist auf das Strafvollstreckungsverfahren nicht anwendbar (OLG Karlsruhe, 2 Ws 300/19 v. 2.9.2019, BeckRS 2019, 44105 Rn. 9 m.w.N.; BeckOK StPO/Valerius, 52. Ed. 1.7.2024, EMRK Art. 6 Rn. 2; Karpenstein/Mayer/Meyer, 3. Aufl. 2022, EMRK Art. 6 Rn. 37).

dd) Ein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten für das Gespräch mit dem Verteidiger, das die Anhörung vor der Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung vorbereiten soll, ergibt sich aber unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3 GG.

Jeder Ausländer hat im Verfahren vor Gerichten der Bundesrepublik Deutschland dieselben prozessualen Grundrechte und denselben Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren wie jeder Deutsche. Das Recht auf ein faires Verfahren verbietet es, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Angeklagten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge zu verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können (BVerfG, 2 BI« 2032/01 v. 27.8.2003, NJW 2004, 50).

Art. 3 Abs. 3 GG verbietet jede Diskriminierung wegen der Sprache oder anderer dort auf-geführter Merkmale. Die Norm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, indem sie der dem Gesetzgeber darin eingeräumten Gestaltungsfreiheit engere Grenzen zieht. Die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale dürfen grundsätzlich weder unmittelbar noch mittelbar als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Dem Beschuldigten, der die Gerichtssprache nicht versteht oder sich nicht in ihr ausdrücken kann, dürfen daher keine Nachteile im Vergleich zu einem dieser Sprache kundigen Beschuldigten entstehen. Dementsprechend ist für das Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren in Ausfüllung dieser Maßstäbe anerkannt, dass der fremdsprachige Angeklagte zum Ausgleich seiner sprachbedingten Nachteile in jedem Verfahrensstadium einen Dolmetscher hinzuziehen darf und ihm die Dolmetscherkosten für die erforderlichen Mandantengespräche nicht nur mit dem Pflichtverteidiger, sondern auch mit einem Wahlverteidiger zu ersetzen sind (BGH, 3 StR 6/00 v. 26.10.2000, NJW 2001, 309; OLG Karlsruhe 2 Ws 305/09 v. 9.9.2009, BeckRS 2009, 139810 Rn. 4 Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 464a, Rn. 9). Die unentgeltliche Beistandsleistung eines Dolmetschers auch für die vorbereitenden Gespräche mit dem Verteidiger ist unabdingbar, da eine wirksame Verteidigung und damit ein faires Verfahren ohne vorbereitende Verteidigergespräche kaum denkbar sind (BVerfG, a.a.O.). Das mit den zusätzlichen Dolmetscher-kosten erhöhte Kostenrisiko soll den Verurteilten auch nicht an der Zuziehung eines Verteidigers hindern (BVerfG, a.a.O.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, 1 Ws 83/05 v. 27.7.2005, BeckRS 2005, 30360540).

Diese Grundsätze finden auch auf den vorliegenden Fall Anwendung, bei dem es im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens um die Vorbereitung der Entscheidung über die bedingte Entlassung nach § 57 Abs. 1 StGB geht. Auch hier verbietet sich gerade in Anbetracht der unmittelbaren Grundrechtsrelevanz (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) der anstehenden Entscheidung, bei der es um die Frage geht, ob der Verurteilte zum Halb- oder Zweidrittelzeitpunkt auf freien Fuß gelangt, einen fremdsprachigen Verurteilten im Verhältnis zu einem der deutschen Sprache mächtigen Verurteilten auf Grund seiner fehlenden Sprachkenntnisse ungleich zu behandeln (LG Dresden, 3 Qs 11/19 v. 8.4.2019, Rn. 28, juris; LG Kassel, 3 StVK 62/12 v. 29.1.2019, juris).

Dies gilt auch für das vorbereitende Gespräch mit seinem Verteidiger. Würde man einem fremdsprachigen Verurteilten die Erstattung von Dolmetscherkosten für dieses Gespräch mit seinem Verteidiger verweigern, so stünde er schlechter als ein deutschsprachiger. Beiden stünde zwar gleichermaßen das in § 137 Abs. 1 StPO normierte Recht zu, sich in jeder Lage des Verfahrens – wozu insoweit auch das Strafvollstreckungsverfahren gehört (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 137 Rn. 2 m.w.N.; BeckOK StPO/Wessing, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 137 Rn. 2) – des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen. Dabei muss ein Verurteilter – soll dieses Recht nicht leerlaufen – die Möglichkeit haben, sich in Vorbereitung der Anhörung mit dem Verteidiger zu besprechen. Dem deutschsprachigen Verurteilten ist dies möglich, ohne dass ihm zusätzliche Kosten durch Dolmetscherleistungen entstehen. Der Verurteilte, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, kann dieses Gespräch nur führen, wenn er einen Dolmetscher hinzuzieht, was mit weiteren Kosten verbunden ist. Würden man nunmehr dem der deutschen Sprache nicht mächtigen Verurteilten die Erstattung dieser Kosten verweigern, würde er allein auf Grund seiner Sprache schlechter gestellt sein, als ein deutschsprachiger Verurteilter, ohne dass ein sachlicher Grund vorläge (so auch Volpert in Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 3. Auflage 2021, 7. Strafvollstreckung Rn. 54).

Um eine solche Ungleichbehandlung zu vermeiden, ist dem Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, jedenfalls im Verfahren über die Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Hinzuziehung eines Dolmetschers zu dem die Anhörung vorbereitenden Gespräch mit dem Verteidiger zuzuerkennen (so auch LG Dresden, a.a.O.). Die Inanspruchnahme eines Dolmetschers für Mandantengespräche durch einen Verteidiger ist nicht von der vorherigen Bewilligung durch das Tatgericht abhängig (OLG Karlsruhe, a.a.O.; BVerfG, a.a.O.).

Dementsprechend kann der Verurteilte hier dem Grunde nach Ausgleichung der verfahrens-gegenständlichen Auslagen verlangen.

d) Bedenken gegen die in Ansatz gebrachten Kosten der Höhe nach bestehen in Bezug auf die Einzelpositionen nicht, zumal die geltend gemachten Dolmetscher- und Fahrkosten den JVEG-Sätzen entsprechen.

……“