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Frist I: Was gehört zur Zulässigkeit der Anhörungsrüge?, oder: Der BGH sagt es uns noch einmal

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Und heute dann zum Wochenstart zweimal etwas zu Fristen und was damit zu tun hat.

Ich stelle hier dann zunächst den BGH, Beschl. v. 04.04.2024 – 1 StR 450/23 – ein. Der äußert sich zur Anhörungsrüge (§ 356a StPO) und zeiht noch einmal schön, worauf man achten muss, damit die Anhörungsrüge zumindest zulässig ist. Das war sie hier nämlich nicht:

„Der Senat hat die Revision des Verurteilten mit Beschluss vom 7. Februar 2024 als unbegründet verworfen. Dagegen wendet sich der mit der Vertretung des Verurteilten in der Revisionsinstanz bevollmächtigte Verteidiger mit Schreiben vom 28. Februar 2024 und erhebt die Anhörungsrüge. Er führt aus, dass er nach Erhalt der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 5. Dezember 2023 mit dem Antrag, die auf die nicht näher ausgeführte Sach- und Verfahrensrüge gestützte Revision durch Beschluss als unbegründet zu verwerfen, die Revision mit Schreiben vom 26. Dezember 2023 ausführlich begründet und der Generalbundesanwalt mit Schreiben vom 17. Januar 2024 hierzu Stellung genommen habe. Er beanstandet, dass er diese Stellungnahme am 19. Januar 2024 vom Senat mit der Bitte um Kenntnisnahme „kommentarlos“ zugeleitet bekommen und der Senat sodann die Revision, ohne den Revisionsführer zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts anzuhören, mit Beschluss vom 7. Februar 2024 als unbegründet verworfen habe. Der Rechtsbehelf hat keinen Erfolg.

1. Die Anhörungsrüge erweist sich bereits als unzulässig.

a) Der Verteidiger trägt vor, er habe den Beschluss des Senats vom 7. Februar 2024 – „übermittelt laut Poststempel mit Datum vom 13.02.2024 an den Verteidiger“ – erst am 21. Februar 2024 nach Rückkehr von einer Urlaubsreise vom 29. Januar 2024 bis zum 20. Februar 2024 zur Kenntnis genommen, weshalb er die Anhörungsrüge vom 28. Februar 2024 fristgerecht innerhalb einer Woche erhoben habe.

b) Die Anhörungsrüge ist nicht fristgerecht erhoben. Der Verteidiger des Verurteilten hat den Senatsbeschluss nach eigenem Vorbringen mit Poststempel vom 13. Februar 2024 erhalten. Die Gehörsrüge ist infolge urlaubsbedingter Abwesenheit des Verteidigers erst am 28. Februar 2024, mithin nach Ablauf der Wochenfrist des § 356a Satz 2 StPO , beim Revisionsgericht eingegangen. Ohnehin wäre ein etwaiges Verschulden des Verteidigers an der Fristversäumung dem Verurteilten zuzurechnen (vgl. BGH, Beschluss vom 15. September 2020 – 1 StR 280/19 Rn. 3). Dem Verteidiger hätte es nach Erhalt der Stellungnahme des Generalbundesanwalts am 19. Januar 2024 freigestanden, hierzu vor Urlaubsantritt Ausführungen zu machen, jedenfalls aber mit Rücksicht auf die anstehende, urlaubsbedingte längere Abwesenheit die Bestellung eines Vertreters zu veranlassen ( § 53 BRAO ).

c) Zudem ist dem Vorbringen des Verteidigers nicht zu entnehmen, wann der Verurteilte von der behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs Kenntnis erlangt hat. In Fällen, in denen sich – wie hier – die Einhaltung der Frist des § 356a Satz 2 StPO nicht schon aus dem aus den Akten ersichtlichen Verfahrensgang ergibt, gehören die Mitteilung des für den Fristbeginn maßgeblichen Zeitpunkts der Kenntniserlangung von den tatsächlichen Umständen, aus denen sich die Gehörsverletzung ergeben soll, und dessen Glaubhaftmachung ( § 356a Satz 3 StPO ) zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsbehelfs (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. November 2023 – 1 StR 311/23 Rn. 2; vom 3. September 2019 – 3 StR 226/19 Rn. 5; vom 1. August 2019 – 5 StR 85/19 Rn. 4 und vom 22. Juli 2016 – 1 StR 579/15 Rn. 2, jeweils mwN). Hierbei kommt es entscheidend auf die Kenntnis desjenigen Beteiligten an, dessen Anspruch auf rechtliches Gehör durch die Entscheidung des Revisionsgerichts verletzt sein soll (vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 524/15 Rn. 2 mwN), hier also des Verurteilten als Revisionsführer. Vorliegend verhält sich die Anhörungsrüge allein zur Kenntniserlangung durch den neu mandatierten Verteidiger des Verurteilten.

2. Die Anhörungsrüge hätte aber auch in der Sache keinen Erfolg.

a) Der Senat hat bei seiner Entscheidung weder Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet, zu denen der Verurteilte nicht gehört worden ist, noch hat er bei der Entscheidung zu berücksichtigendes Vorbringen des Verurteilten übergangen oder dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in sonstiger Weise verletzt. Die Gegenerklärung der Verteidigung vom 26. Dezember 2023 zur Zuleitungsschrift des Generalbundesanwalts hat der Senat auch inhaltlich vor Fassung des Verwerfungsbeschlusses zur Kenntnis genommen.

b) Aus dem Umstand, dass der Senat sodann die Verwerfung der Revision nicht weiter begründet und insbesondere zu der vom Verteidiger erst nach Erhalt der Zuleitungsschrift des Generalbundesanwalts vom 5. Dezember 2023 abgegebenen Begründung der zunächst nur allgemein erhobenen Sachrüge keine Ausführungen gemacht hat, kann nicht auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen werden.

aa) Eine Begründungspflicht für letztinstanzliche, mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare Entscheidungen besteht nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Mai 2014 – 1 StR 82/14 , NStZ-RR 2014, 222 mwN; BVerfG, Beschluss vom 23. August 2005 – 2 BvR 1066/05 , NJW 2006, 136; vgl. auch BVerfG [Kammer], Beschluss vom 30. Juni 2014 – 2 BvR 792/11 ,wistra 2014, 434mwN). Die Vorschrift des § 349 Abs. 2 StPO sieht keine Begründung des die Revision verwerfenden Beschlusses vor.

bb) Das gilt auch dann, wenn – erstmals – in einer Gegenerklärung zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts die Sachrüge näher begründet wird (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. November 2023 – 1 StR 311/23 Rn. 5; vom 21. November 2019 – 1 StR 563/18 Rn. 4 und vom 24. Januar 2019 – 5 StR 619/18 Rn. 3). Denn das System der Revisionsentscheidung im Beschlussverfahren nach § 349 Abs. 2 und 3 StPO baut darauf auf, dass der Beschwerdeführer die Gründe für die Anfechtung eines Urteils bereits in der Revisionsbegründung anführt ( § 344 Abs. 1 StPO ). Hierzu nimmt die Revisionsstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift Stellung und legt – sofern sie die Beanstandungen nicht für durchgreifend erachtet – die hierfür maßgebenden Gründe in ihrem Antrag auf Verwerfung des Rechtsmittels näher dar. Folgt das Revisionsgericht einstimmig der Auffassung der Staatsanwaltschaft, so kann es die Revision durch Beschluss verwerfen, ohne dass dieser einer näheren Begründung bedarf. Dieses System kann der Beschwerdeführer nicht dadurch außer Kraft setzen, dass er seine Sachrüge während der Revisionsbegründungsfrist nicht weiter ausführt, seine Einzelbeanstandungen vielmehr erst nachschiebt, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Antragsschrift beim Revisionsgericht eingereicht hat, und dieser damit die Möglichkeit zu der gesetzlich vorgesehenen spezifizierten Stellungnahme nimmt. In diesem Fall hat der Beschwerdeführer gemäß Art. 103 Abs. 1 GG zwar Anspruch darauf, dass das Revisionsgericht seine nachgeschobenen Ausführungen zur Kenntnis nimmt und prüft; er kann jedoch nicht verlangen, dass ihm die Gründe, aus denen seine Beanstandungen für nicht durchgreifend erachtet werden, im Verwerfungsbeschluss mitgeteilt werden ( BGH, Beschlüsse vom 28. November 2023 – 1 StR 311/23 Rn. 5; vom 21. August 2008 – 3 StR 229/08 Rn. 3 und vom 23. November 2022 – 5 StR 184/22 Rn. 3).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 465 Abs. 1 StPO ( BGH, Beschluss vom 28. November 2023 – 1 StR 311/23 Rn. 6 mwN).“

Alles kein Hexenwerk.

StPO II: Fristversäumung bei der Anhörungsrüge, oder: Wiedereinsetzung, ja aber

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Und als zweite Entscheidung dann etwas vom BayObLG zur Anhörungsrüge.

In dem Verfahren hatte das BayObLG die Revision des Angeklagten verworfen. Der will Anhörungsrüge erheben, versäumt aber die Frist. Er stellt einen Wiedereinsetzungsantrag, der ohne Erfolg bleibt, das BayObLG hat den Antrag im BayObLG, Beschl. v. 26.02.2024 – 203 StRR 511/23 – zurückgewiesen.

„1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §§ 44, 45 StPO hat keinen Erfolg. Der Vortrag des Verurteilten schließt ein eigenes Verschulden an der Fristversäumnis nicht aus. Für die Entscheidung kann der Senat dahin stehen lassen, welcher der sich widersprechenden anwaltlichen Versicherungen Glauben zu schenken ist.

Nach § 356a S. 2 und 3 StPO ist der Antrag auf Zurückversetzung des Verfahrens in die Lage vor der Senatsentscheidung vom 22. Januar 2024 nur zulässig bei Wahrung der dort genannten Frist und Form. Danach ist der Antrag binnen einer Woche nach Kenntniserlangung von der Verletzung des rechtlichen Gehörs schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle bei dem Revisionsgericht anzubringen und zu begründen. Kenntnis von der Gehörsverletzung bedeutet die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, aus denen sich die Verletzung ergibt (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. März 2005 – 2 StR 444/04-, vom 7. März 2006 – 5 StR 362/05 – und vom 16. Mai 2006 – 4 StR 110/05 -, jeweils juris). Der Zeitpunkt seiner Kenntniserlangung ist vom Antragsteller innerhalb der Wochenfrist glaubhaft zu machen. Ein entsprechender Vortrag im weiteren Verlauf des Verfahrens reicht nicht (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2005 – 2 StR 444/04 –, juris; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 1 StR 633/12 –, juris Rn. 8). Wird die Frist unverschuldet versäumt, ist eine Wiedereinsetzung grundsätzlich möglich (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2021 – 6 StR 238/20 –, juris; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 1 StR 633/12 –, juris). An die Voraussetzungen fehlenden Verschuldens sind im Interesse der Rechtssicherheit bei § 356a StPO hohe Anforderungen zu stellen (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2021 – 6 StR 238/20 –, juris Rn. 6). Der Angeklagte muss sich das Verschulden seines Verteidigers an der Fristversäumung zurechnen lassen (st. Rspr., vgl. BGH a.a.O.; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 1 StR 633/12 –, juris Rn. 9; BGH, Beschluss vom 13. August 2008 – 1 StR 162/08 –, juris; BGH, Beschluss vom 20. Mai 2011 – 1 StR 381/10 –, juris; Gericke in KK-StPO, 9. Aufl., § 356a Rn. 11; Temming in: Gercke/Temming/Zöller, Strafprozessordnung, 7. Auflage 2023, § 356a StPO Rn. 4).

Danach hat der Verteidiger weder im Schriftsatz vom 8. Februar 2024 noch im Schriftsatz vom 15. Februar 2024 einen Sachverhalt vorgetragen, der ein Verschulden des Verurteilten an der Fristversäumnis ausschließen würde. Der Verteidiger hat es vielmehr vorwerfbar und somit dem Verurteilten zurechenbar versäumt, in seinem Schriftsatz vom 8. Februar 2024 hinreichend dazu vorzutragen, wann der Verurteilte, der selbst Rechtsanwalt ist und den selbst die Pflicht trifft, sich über eröffnete Rechtsbehelfe zu informieren, Kenntnis von dem Senatsbeschluss vom 22. Januar 2024 erlangt hat. Auf diesen Vortrag durfte der Verteidiger bereits in der Antragsschrift vom 8. Februar 2024 nicht verzichten, da es für die Frage der Fristeinhaltung im Sinne des § 356a S. 2 StPO entgegen der Rechtsansicht des Verteidigers nicht auf seine Kenntnis, sondern alleine auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung des Verurteilten ankommt (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 28. November 2023 – 1 StR 311/23 –, juris Rn. 2).

Somit war die Gehörsrüge vom 8. Februar 2024 – endgültig – unzulässig, weil der anwaltlich vertretene Antragsteller nicht innerhalb der Wochenfrist mitgeteilt sowie nicht glaubhaft gemacht hat und auch sonst nicht ersichtlich ist, wann der Verurteilte vom Verwerfungsbeschluss des Senats vom 22. Januar 2024, der nach dem Abvermerk der Geschäftsstelle am 24. Januar 2024 an diesen abgeschickt worden war, erstmals Kenntnis erlangt hat. Die Mitteilung dieses Tages in der Antragsschrift vom 8. Februar 2024 war unerlässlich, zumal dem Verteidiger mit der Übermittlung des Senatsbeschlusses, den er nunmehr am 1. Februar 2024 erhalten haben will, auch der Hinweis erteilt worden ist, dass der Senatsbeschluss auch unmittelbar seinem Mandanten bekannt gemacht würde. Der Verteidiger hätte bei dieser Konstellation, seinen krankheitsbedingten Ausfall bis zum 1. Februar 2024 unterstellt, am 1. Februar 2024 von einer früheren Kenntniserlangung des – nicht erkrankten – Verurteilten ausgehen müssen, hätte diesen Zeitpunkt mit dem Mandanten klären müssen und hätte mit der Antragstellung nicht bis zum 8. Februar 2024 abwarten dürfen.

Darauf, dass der Verteidiger, die Richtigkeit des Vortrags vom 15. Februar 2024 unterstellt, in seinem Antrag vom 8. Februar 2024 schuldhaft zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung (25. Januar 2024) falsch vorgetragen hätte, kommt es nicht mehr maßgeblich an. Es spielt auch keine Rolle, dass die nicht mit weiteren Beweismitteln unterlegte anwaltliche Behauptung im Schriftsatz vom 15. Februar 2024, er hätte krankheitsbedingt erst am 1. Februar 2024 von dem Senatsbeschluss Kenntnis erlangt, dem Senat als Mittel der Glaubhaftmachung hier nicht genügt hätte, nachdem diese Erklärung in einem nicht auflösbaren Widerspruch zu der anwaltlichen Behauptung vom 8. Februar 2024 (Kenntniserlangung bereits am 25. Januar 2024) steht.

U-Haft I: Was ist eine kleine Verfahrensverzögerung?, oder: Dauerhafte Überlastung des Gerichts

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Ich mache heute dann einen „Hafttag“, und zwar mit zwei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und einem OLG-Beschluss zur Telefonerlaubnis.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 BvR 1756/23. Ergangen ist der Beschluss in einem in Schleswig-Holstein anhängigen Verfahren.In dem wird dem Angeklagten, der sich seit dem 04.05.2023 aufgrund eine auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls ununterbrochen in Untersuchungshaft befindet, in 14 tatmehrheitlichen Fällen, davon in vier Fällen gemeinschaftlich handelnd, jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben und davon in drei Fällen Betäubungsmittel in nicht geringer Menge eingeführt zu haben.

Die StA hat am 31.05.2023 Anklage zum LG Itzehoe erhoben. Mit Verfügung vom 26.10.2023 legte der Vorsitzende der zuständigen großen Strafkammer die Akten dem OLG zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121, § 122 Abs. 1 StPO vor. Zur Begründung führte der Vorsitzende aus, die Kammer sei aufgrund einer vorübergehenden Überlastung durch andere Haftsachen, insbesondere vier bereits vor der Anklage in dieser Sache eingegangene umfangreiche Schwurgerichtsverfahren, bereits rein terminlich an der Durchführung einer Hauptverhandlung vor Fristablauf gehindert. Eine Eröffnungsentscheidung sei insbesondere auch deshalb zurückgestellt worden, weil eine Terminierung der Hauptverhandlung im Jahr 2023 nicht durchführbar erschienen sei. Der Beginn der Hauptverhandlung sei ab dem 23.01.2024 vorgesehen.

Der Verteidiger des Angeklagten hat imHaftprüfungsverfahren die Aufhebung des Haftbefehls verlangt, da der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verletzt sei. Aus anderen Verfahren sei bekannt, dass die Strafkammer bereits seit 2022 dauerhaft mit Haftsachen ausgelastet sei. Mit Beschluss vom 10.11.2023 hat das OLG die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus sei aus wichtigem Grund gerechtfertigt und auch nicht unverhältnismäßig. Zur Begründung schloss sich das OLG den Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft an: Es sei der bei der Jahresgeschäftsverteilung 2023 nicht vorhersehbaren ungewöhnlich hohen Belastung der Kammer geschuldet, dass der Beginn der Hauptverhandlung erst ab dem 23.01.2024 vorgesehen sei. Die Kammer verhandele derzeit zwei umfangreiche Schwurgerichtsverfahren mit 77 beziehungsweise 127 in den Anklagen benannten Zeugen, weshalb Hauptverhandlungstermine nicht mehr zur Verfügung stünden. Bis Jahresende müsse die Kammer eine weitere, bereits länger eingegangene Haftsache gegen einen minderjährigen Angeklagten verhandeln. Die kurzfristige Überlastung der Kammer beruhe nicht auf gerichtsorganisatorischen Gründen, so dass die Verfahrensverzögerung insbesondere angesichts der Schwere der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Straftaten keinen durchgreifenden Bedenken begegne. Das OLG führte am Ende seines Beschlusses aus, ein Schriftsatz der Verteidigung vom 09.11.2023 dem Senat vorgelegen habe.

Der Angeklagte hat Verfassungsbeschwerde erhoben und mit der eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unter dem Gesichtspunkt des Beschleunigungsgebotes im Zwischenverfahren geügt. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angeommen.

Nach Auffassung des BVerfG ist zwar, soweit der Angeklagte die Haftfortdauerentscheidung des OLG angreift, zwar der Rechtsweg erschöpft, weil eine Anhörungsrüge nur im Falle der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zum Rechtsweg gehört (vgl. BVerfGE 122, 190, 198; 126, 1, 17; 134, 106, 113 Rn. 22). Die Erhebung einer Anhörungsrüge sei hier jedoch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde geboten gewesen.

Dazu nur der Leitsatz zu der Entscheidung:

Der Subsidiaritätsgrundsatz (§ 90 Abs 2 S 1 GG) verlangt die Erhebung einer Anhörungsrüge im fachgerichtlichen Verfahren auch dann, wenn mit der Verfassungsbeschwerde zwar keine Verletzung des Gehörsanspruchs (Art 103 Abs 1 GG) gerügt werden soll, den Umständen nach jedoch ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten ist, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden.

Nach Auffassung des BVerfG wäre das OLG zu Ausführungen dazu verpflichtet gewesen, weshalb es das substantiierte Kernvorbringen des Verteidigers in dessen Schriftsatz vom 09.11.2023 gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft für nicht relevant oder überzeugend hielt. Mit dieser Anhörungsrüge hätte der Angeklagte die Möglichkeit gewahrt, dass eine Grundrechtsverletzung durch dasOLG selbst beseitigt wird.

Zur Sache führt das BVerfG dann aber trotz der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde dennoch aus, und zwar:

„3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird den verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht. Das Verfahren wurde nach Eingang der Anklageschrift beim Landgericht nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit gefördert.

a) Es handelt sich bei der hier eingetretenen Verzögerung nicht um eine nur kleinere Verfahrensverzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, Rn. 29). Das Landgericht hatte trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit dem Eingang der Anklage am 31. Mai 2023 noch nicht über die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 199 ff. StPO) entschieden. Anhaltspunkte dafür, dass jedenfalls nach Ablauf der Frist zur Stellungnahme des Beschwerdeführers am 4. Juli 2023 noch keine Eröffnungsreife vorgelegen haben könnte, sind nicht ersichtlich. Noch ausstehende Ermittlungen sind nicht genannt. Die Bezeichnung dieser Verzögerung im angefochtenen Beschluss als „kurzfristig“ ist nicht nachvollziehbar.

b) Die vom Oberlandesgericht für die Verzögerung im Zwischenverfahren angeführten Gründe rechtfertigen den Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG nicht.

Die „ungewöhnlich hohe Belastung der Kammer“ durch bereits vor der Anklage des Beschwerdeführers eingegangene Schwurgerichtsverfahren stellen vom Beschwerdeführer nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte Umstände dar. Diesen Umständen kann zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung entgegengehalten werden (vgl. BVerfGK 7, 140 <155 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 51; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 2020 – 2 BvR 225/20 -, Rn. 61; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 28). Da die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt, kommt es jedenfalls angesichts der hier gegebenen, nicht nur kurzfristigen Überlastung auf deren Vorhersehbarkeit nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18 -, Rn. 30).

Der vom Oberlandesgericht für die Verzögerung zusätzlich angeführte Umstand, der Kammer stünden vor dem Sechsmonatstermin keine Hauptverhandlungstermine mehr zur Verfügung, stellt bereits keine schlüssige Begründung dafür dar, weshalb zumindest eine Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht hatte erfolgen können. Auch im Zwischenverfahren muss das Verfahren mit der gebotenen Zügigkeit gefördert werden, um bei Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 -, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 27 m.w.N.). Jedenfalls kann allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Verfügung des Vorsitzenden über die Terminierung der Hauptverhandlung zeitlich zusammen vorzunehmen, keine Verzögerung einer Eröffnungsentscheidung rechtfertigen, sollte eine Terminierung der Hauptverhandlung noch nicht möglich sein.“

OWi I: Stellungnahme der GStA zum Zulassungsantrag, oder. Muss der Betroffene die kennen?

So, heute dann mal wieder OWi. Nichts Besonderes, derzeit passiert bei den OWi-Entscheidungen nicht viel.

Zunächst hier eine Entscheidung aus dem Rechtsbeschwerdeverfahren, und zwar der OLG Schleswig, Beschl. v. 24.08.2023 – I ORbs 132/23. Der Betroffene hatte im Zulassungsverfahren eine Anhörungsrüge erhoben, auf die ihm das OLG „mitteilt“:

„Durch Beschluss vom 8. August 2023 hat der Senat den Antrag des Betroffenen, die Rechtsbeschwerde gegen dieses Urteil zuzulassen, als unbegründet verworfen.

Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge ist bereits unzulässig, weil sie nicht erkennen lässt, dass der Senat bei letzterer Entscheidung den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt hätte.

Vor seiner Entscheidung hat der Senat dem Betroffenen die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein zukommen lassen. Dies hat der Senat getan, um dem Betroffenen möglichst umfassend rechtliches Gehör zu gewähren, obwohl die Übersendung der Zuschrift nach Lage des Gesetzes nicht erforderlich gewesen wäre. Die hier vorliegende Situation einer Zulassungsrechtsbeschwerde ist grundsätzlich verschieden von einer Rechtsbeschwerde, bei der – revisionsrechtlich ausgestaltet – die Antragsschrift der Staatsanwaltschaft die Grundlage dafür bildet, ein Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet verwerfen zu können. Wegen dieser Rechtsfolgen sieht das Gesetz in § 349 Abs. 3 StPO in dieser Konstellation ausdrücklich ein Recht des Betroffenen auf eine Gegenerklärung vor und legt eine Mindestfrist fest, die dem Betroffenen vor einer Entscheidung zur Stellungnahme einzuräumen ist.

Nichts davon gilt in Bagatellfällen wie dem Vorliegenden. Dennoch hat der Senat dem Betroffenen vorab die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft zur Kenntnis gegeben. Diese lag ihm auch rechtzeitig – das ergibt sich aus der Anhörungsrüge – vor. Eine Frist zur Stellungnahme, die der Senat vor einer Entscheidung hätte einhalten müssen, hat der Senat nicht gesetzt. Das ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats in Bagatellfällen nicht üblich. Der Senat pflegt in solchen Fällen auch nicht übermäßig lange darauf zu warten, ob von Seiten des Betroffenen – der insoweit keinen weitergehenden Anspruch auf Gehör hat – noch etwas vorgebracht werden soll. Es hätte dem Verteidiger innerhalb der zehntägigen Frist, die der Senat mit der Entscheidung abgewartet hat, frei gestanden, jederzeit gegenüber dem Senat anzukündigen, dass eine ergänzende Stellungnahme beabsichtigt sei und hierfür um eine angemessene Frist zu bitten. Der Senat hätte einer solchen Bitte im Einzelfall dann stattgegeben. Derartiges ist jedoch hier nicht erfolgt.

Die Verwerfung der Anhörungsrüge löst eine Gerichtsgebühr aus (Nr. 3920 KV GKG), die der Betroffene zu tragen hat.“

Na ja …..

beA: Sachliche Reichweite der (Neu)Regelungen, oder: Wie ist das mit der Anhörungsrüge?

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Und dann noch eine Entscheidung zum beA – jetzt zur sachlichen Reichweite. Es handelt sich um den BFH, Beschl. v. 23.08.2022 – VIII S 3/22 – zur Frage, ob die Regelungen zum elekttonischen Dokument/beA auch für eine Anhörungsrüge gelten. Der BFH hat die Frage bejaht:

„Die Anhörungsrüge ist unzulässig, weil es ihr an der gesetzlich vorgeschriebenen Form fehlt. Sie ist nicht als elektronisches Dokument übermittelt worden.

1. Nach § 52d Satz 1 FGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Die Vorschrift gilt für alle Verfahren nach der FGO (Brandis in Tipke/Kruse, § 52a FGO Rz 3; Schmieszek in Gosch, FGO § 52a Rz 4; Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 52a FGO Rz 20; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 52a Rz 2), somit auch für die Anhörungsrüge i.S. des § 133a FGO. Sie ist zum 01.01.2022 in Kraft getreten (Art. 26 Abs. 7 i.V.m. Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013, BGBl I 2013, 3786). Der Rügeführer zu 1., der als Rechtsanwalt in eigener Sache und als Prozessbevollmächtigter der Rügeführerin zu 2. auftrat, war daher verpflichtet, die Anhörungsrüge als elektronisches Dokument zu übermitteln. Die Norm knüpft allein an den Status des Prozessbevollmächtigten als Rechtsanwalt an.

2. Das am 21.02.2022 eingegangene Telefax, bei dem es sich nicht um ein Computerfax handelt, ist bereits kein elektronisches Dokument. Ein elektronisches Dokument ist eine Datei, die mit Mitteln der Datenverarbeitung erstellt, auf einem Datenträger aufgezeichnet werden kann und (bereits) in dieser Form maßgeblich ist. Dies ist bei dem vorliegenden Telefax nicht der Fall, da der Papierausdruck beim Empfänger (BFH) lediglich den Inhalt des Dokuments wiedergibt, ohne selbst Rechtswirksamkeit zu erzeugen. …..“