Schlagwort-Archive: Haftbefehl

Zwang I: Invollzugsetzung eines BtM-Haftbefehls, oder: Verletzung des Beschleunigungsgebots

© Thomas Jansa – Fotolia.com

Und dann gibt es heute StPO-Entscheidungen, alle drei haben mit Zwangsmaßnahmen zu tun.

Den Opener mache ich mit dem OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 – 1 Ws 11/25 – zur Invollzugsetzung eines Haftbefehls.

Gegen die Angeklagten ist ein Verfahrens wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 anhängig. In dem waren Haftbefehle jeweils wegen Fluchtgefahr ergangen. Die Angeklagten befanden sich seit dem 25.01.2022 in Untersuchungshaft. Das OLG hat denn Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus angeordnet. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens hat das LG zunächst die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Hauptverhandlung begann am 17.10.2022. Am 25.01.2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das LG das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, ebenfalls wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das LG hat mit Beschluss vom 21.11.2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des AG  abgelehnt. Dagegen die Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die keinen Erfolg hatte. Das OLG bejaht die allgemeinen Voraussetzungen der U-Haft und führt dann aus:

„b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg – wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.“

Haft I: Beschleunigungsgebot gilt auch in der Revision, oder: Wenn der BGH „bummelt“, rüffelt das OLG

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Und dann starte ich in die neue Woche mit zwei Entscheidungen zum Haftrecht.

Ich stelle zunächst den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 06.06.2024 – 1 Ws 159/24. Das OLG hat einen (schon) außer Vollzug  U-Haftbefehl wegen Verstoßes gegen Beschleunigungsgebot im Revisionsverfahren aufgehoben. Aber diese Mal nicht wegen einer „Bummelei“ beim LG oder OLG, sondern – wie das OLG – meint beim BGH. Ich wage mal die Behauptung, dass man das beim BGH nicht so gern lesen wird.

Folgender SachverHalt: Der Angeklagte befand sich in dieser Sache in der Zeit vom 16.01.2018 bis zum 03.04.2024 in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 03.04.2024 setzte eine Strafkammer den Vollzug des Haftbefehls gegen zahlreiche Auflagen und Weisungen außer Vollzug.

Dem war vorausgegangen, dass der Angeklagte am 18.06.2019 – unter Freisprechung im Übrigen – vom LG Frankfurt am Main wegen vollendeten und versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitstrafe von zehn Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden war. Auf die Revision des Angeklagten hatte der BGH mit Beschluss vom 16.09.2020 (es dürfte sich um 2 StR 529/19 gehandelt haben) sämtliche Einzelstrafen, die Gesamtstrafe und die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgehoben. Das LG Frankfurt am Main  hat den Angeklagten sodann am 15.07.2021  zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH mit Beschluss vom 24.10.2023 das Urteil aufgehoben  und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer eines anderen LG zurückverwiesen (es dürfte sich um 2 StR 33/22 gehandelt haben).

Die Kammer hat auf Antrag des Angeklagten den Vollzug des Haftbefehls mit Beschluss vom 03.04.2024 ausgesetzt. Dagegen hat die GStA Beschwerde eingelegt. Die hatte nicht nur keinen Erfolg, sondern das OLG hat sogar zur Aufhebung des Haftbefehls geführt:

„Die Aufrechterhaltung des Haftbefehls ist – was von der Generalstaatsanwaltschaft übersehen wird – vorliegend indes nicht gerechtfertigt, weil das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz MRK folgende Beschleunigungsgebot verletzt ist. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. nur BVerfG, BeckRS 2007, 33088). Grundsätzlich kann daher die Untersuchungshaft zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorliegt. Allerdings vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Freiheitsrecht des Untersuchungsgefangenen, wenn der Schuldspruch – wie hier – rechtskräftig ist, da bei dieser Verfahrenslage die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt. In solchen Fällen kommt es für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit daher nicht mehr allein darauf an, ob es zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, vermeidbaren und erheblichen, von dem Angeklagten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung gekommen ist, sondern es sind auch die zu erwartende Strafe und der Grad des die Justiz an der Verfahrensverzögerung treffenden Verschuldens zu berücksichtigen (OLG Köln, Beschluss vom 22. April 2005 – 2 Ws 151/05 mN).

Wie der Senat in seinen Beschlüssen vom 29. Januar 2019 (…) und 25. Mai 2021 (…) ausgeführt hat, ist das Verfahren bis dahin entsprechend dem Beschleunigungsgebot hinreichend gefördert worden. Auch danach sind bis zur Verkündung des Urteils am 15. Juli 2021 und Vorlage der Akten an den Bundesgerichtshof keine erheblichen Verfahrensverzögerungen zu verzeichnen.

Es war das – unter Wiedergabe der rechtskräftigen Feststellungen der (…) Strafkammer auf 94 Seiten – 135 Seiten umfassende Urteil abzusetzen, das Rechtsanwalt A am 06. Oktober 2021 und Rechtsanwalt B am 07. Oktober 2021 zugestellt wurde. Die Revisionsbegründung von Rechtsanwalt B ging am 05. November 2021 beim Landgericht ein, die von Rechtsanwalt A ebenso wie die von Rechtsanwalt C am 08. November 2021. Eine weitere Revisionsbegründung erfolgte am 25. November 2021 durch Rechtsanwalt B. Am 30. Oktober 2021 ging die Revisionsgegenerklärung der Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht ein. Am 14. Dezember 2021 verfügte der Vorsitzende die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft. Am 13. Januar 2022 fertigte die Generalsstaatsanwaltschaft den Übersendungsbericht an den Generalbundesanwalt, wo die Akten am 19. Januar 2022 eingingen. Der Antrag des Generalbundesanwalts vom 01. Februar 2022 ging mit den Akten am 02. Februar 2022 beim Bundesgerichtshof ein. Dort bestimmte der Vorsitzende am 28. Februar 2022 den Beisitzer. Mit Schriftsätzen vom 17. Februar 2022 und vom 18. Juli 2022 gaben die Verteidiger gemäß § 349 Abs. 3 Satz 2 StPO Gegenerklärungen zu dem Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts (§ 349 Abs. 2 StPO) ab.

Am 24. Oktober 2023 entschied der Bundesgerichtshof durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO über die Revision des Angeklagten. Bis dahin ist seit Eingang der letzten Gegenerklärung eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten zu verzeichnen. Zwar lässt sich aus dem Umstand, dass das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen für das gesamte Strafverfahren gilt und auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten ist (BVerfG, Beschlüsse vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05 und vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10, jeweils mN), nicht ableiten, dass der im Revisionsverfahren mit der Sache befasste Bundesgerichtshof den mit der Haftfrage befassten Gerichten der Landesjustiz umfassend Rechenschaft zu legen hätte (BGHSt 63, 75, 78 ff.). Vielmehr hat der Bundesgerichtshof das Beschleunigungsgebot in Haftsachen eigenständig zu wahren, was auch umfasst, dass er etwaige Verfahrensverzögerungen im Revisionsverfahren dem Gericht, dem die Haftkontrolle obliegt, anzeigt (BGH a.a.O.). Dies ist vorliegend geschehen, denn der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2023 darauf hingewiesen, dass der Tatrichter bei seiner Rechtsfolgenentscheidung die lange Dauer des Revisionsverfahrens zu berücksichtigen habe. Der Senat versteht diesen Hinweis dahin, dass der Bundesgerichtshof eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren bejaht, die im weiteren Verfahrensgang zu berücksichtigen ist. Die Dauer der Verfahrensverzögerung zwischen dem Eingang der letzten Gegenerklärung und der Beschlussfassung bemisst der Senat mit mindestens zehn Monaten. Dies vor dem Hintergrund, dass der Bundesgerichtshof für seine Entscheidung vom 16. September 2020 seit dem Eingang der letzten Gegenerklärung am 21. April 2020 etwa fünf Monate benötigt hat. Der Bundesgerichtshof hatte seinerzeit sowohl den Schuldspruch als auch Teile des Rechtsfolgenausspruchs zu überprüfen. Da der Bundesgerichtshof bei seiner Entscheidung vom 24. Oktober 2023 lediglich den Rechtsfolgenausspruch zu überprüfen hatte und bei der Entscheidung drei Richter mitgewirkt haben, die auch an der ersten Entscheidung beteiligt waren, kann eine Bearbeitungsdauer allenfalls noch in einem Umfang als angemessen angesehen werden, wie sie auch für die erste Entscheidung benötigt worden ist. Dies sind fünf Monate, so dass die zwischen dem 18. Juli 2022 und 24. Oktober 2023 liegenden 15 Monate eine Verfahrensverzögerung von mindestens zehn Monaten umfassen. Hinzu kommt, dass dem Senat nicht nachvollziehbar ist, weshalb der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24. Oktober 2023 erst gut zwei Monate später ausgefertigt und erst am 16. Januar 2024 an die Beteiligten übersandt wurde. Der Senat sieht insoweit eine weitere zu berücksichtigende Verfahrensverzögerung von etwa zwei Monaten, so dass insgesamt der Justiz anzulastende nicht zu rechtfertigende Verfahrensverzögerungen von etwa einem Jahr festzustellen sind.

Die zu erwartende Strafe kann unter Berücksichtigung der bereits gegen den Angeklagten vollzogenen, anrechenbaren Untersuchungshaft von sechs Jahren und knapp drei Monaten nicht mehr als erheblich angesehen werden. Ausgehend von der zuletzt gegen ihn verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten dürfte unter Berücksichtigung der vom Bundesgerichtshof für erforderlich erachteten Prüfung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeiten und einer sich daraus möglicherweise ergebenden Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 StGB sowie der überlangen Verfahrensdauer im Revisionsverfahren eine Strafe von mehr als sieben Jahren und weniger als acht Jahren Freiheitsstrafe zu erwarten sein, so dass allenfalls noch ein Strafrest von zehn Monaten bis zu einem Jahr und acht Monaten zu vollstrecken sein wird. Ob die Anordnung der Sicherungsverwahrung erneut in Betracht kommt, wird mit Blick auf das Ergebnis des vom Landgericht Wiesbaden in Auftrag gegebenen neuen Sachverständigengutachtens abzuwarten bleiben.

Die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Angeklagten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit und dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung sowie -vollstreckung rechtfertigt angesichts der erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der Dauer der bislang vollzogenen Untersuchungshaft von mehr als sechs Jahren die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr.“

Irgendwie hat man den Eindruck, dass sich der BGH und das OLG Frankfurt am Main in Haftsachen nicht ganz grün sind, denn – ich meine – dass es bereits ähnliche Entscheidungen aus Frankfurt gibt, in denen das OLG den BGH „rüffelt“. Andererseits ist die Entscheidung des OLG aber auch nachvollziehbar. Denn man kann nicht auf die LG „einprügeln“ und Druck machen, dass die Verfahren möglichst beschleunigt erledigt werden, wenn dann eine Strafmaßrevision vom 0202.2022 bsi zum 24.10.2023 beim BGH liegt, bevor entschieden wird und der BGH dann fast drei Monate braucht, um den Beschluss vom 24.10.2023 zu begründen und auszufertigen. Das sind/waren knapp vier Seiten Text.

Haft III: Entscheidung über Vollzugslockerungen, oder: Haftbefehl wegen Fluchtgefahr

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und zum Schluss dann der OLG Celle, Beschl. v. 18.07.2024 – 1 Ws 159/24 (StrVollz). An dem Aktemnzeichen sieht man: Es geht um Strafvollzug.

Die JVA hatte Vollzugslockerungen während des Vollzuge einer Maßregel abgelehnt. Dagegen der Antrag auf gerichtliche Entscheidung, den die StVK zurückgewiesen hat. Sie hatte ich u.a. darauf bezogen, dass aufgrund des Fortgangs eines Auslieferungsverfahrens die Gefahr eines Lockerungsmissbrauchs sowie ein erhöhter Fluchtanreiz bestehe.

Dagegen die Rechtsbeschwerde des Verurteilten, die keinen Erfolg hatte. Die StVK hatte zwar mangelhaft begründet, aber:

„2. Der angefochtene Beschluss beruht indes nicht auf den aufgezeigten Begründungsmängeln, weil die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer und der Antragsgegnerin im Ergebnis richtig sind und aus rechtlichen Gründen keine andere Entscheidung in Betracht kam.

Denn der Erlass eines auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls führt dazu, dass auch die Vollzugsbehörde bei der Entscheidung über Lockerungen vom Vorliegen von Fluchtgefahr ausgehen muss und sich ihr diesbezüglicher Beurteilungsspielraum auf Null reduziert (KG, Beschluss vom 13. April 2006 – 5 Ws 70/06 Vollz –, juris). Die Gewährung von Vollzugslockerungen ist mit einem gleichzeitig bestehenden, auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl unvereinbar (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 11. Februar 2020 – 1 Ws 20/20 –, Rn. 13, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 1 Ws 299/19 –, Rn. 8, juris; OLG Jena, Beschluss vom 23. Januar 2019 – 1 Ws 13/19 –, Rn. 19, juris; KG, Beschluss vom 31. März 2017 – 5 Ws 81/17 –, Rn. 14, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 2002 – 3 Ws 15/02 –, Rn. 7, juris; OLG Bremen, Beschluss vom 11. Oktober 1999 – Ws 153/99 –, juris).

Die Antragsgegnerin musste deshalb im vorliegenden Fall – in dem sich die Fluchtgefahr als Haftgrund der vom Oberlandesgericht angeordneten Auslieferungshaft (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG) zumindest dem Gesamtzusammenhang des angefochtenen Beschlusses entnehmen lässt – die zuvor gewährten Vollzugslockerungen zwingend gemäß §§ 48 Abs. 1, 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG i. V. m. § 15 Abs. 1 Nds. MVollzG widerrufen.“

Haft I: Freispruch ==> Aufhebung des Haftbefehls, oder: Aufgehoben bleibt aufgehoben, auch in der Revision

Bild von ??????? ?????????? auf Pixabay

Und dann  – seit längerem mal wieder – Haftentscheidungen.

Ich beginne mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.05.2024 – 3 Ws 128/24. Das ist „Annexentscheidung“ zu einer der ersten Entscheidungen zum KCanG. Die vom OLG entschiedene Frage hat aber nichts mit den Neuerungen des KCanG zu tun.

Der Beschuldigte hat sich in einem Ermittlungsverfahren wegen des dringenden Tatverdachts der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in U-Haft befunden.Von dem Vorwurf ist er am 12.04.2024 frei gesprochen worden, mit Beschluss vom selben Tag der Haftbefehl des AG aufgehoben.

Gegen das Urteil hat die  Staatsanwaltschaft Revision und gegen den Beschluss vom 12.04.2024  Beschwerde eingelegt. Über die hat dann das OLG entschieden. Das Rechtsmittel war nicht erfolgreich:

„Gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO ist ein Haftbefehl aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen oder sich ergibt, dass die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis stehen würde. Als Sonderfall hiervon wird in § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO der Fall des Freispruchs behandelt. Im Falle eines Freispruchs wird gesetzlich vermutet, dass ein dringender Tatverdacht nicht mehr besteht, das heißt, dass die‘, Haftvoraussetzungen weggefallen sind oder dass wenigstens die Haft zu dem endgültigen Verfahrensergebnis in keinem angemessenen Verhältnis mehr steht (vgl. Senat, Beschluss vom 12.101.1981 – 3.Ws 9/81, NStZ 1981, 192, beck-online). Die Vermutung wird bereits durch den bloßen Akt der freisprechenden Entscheidung begründet, ohne dass es auf deren Richtigkeit oder Rechtskraft ankommt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. 7. 1999 – 2 Ws 227/99, NStl.1999, 585, beck-online; Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 120, Rn. 33). Der Haftbefehl ist in den Fällen des § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO deshalb auch dann aufzuheben ist, wenn der Freispruch als fehlerhaft erkannt ist und die Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch vorliegen (Und in Löwe-Rosenberg a.a.O.). Da die Prüfung der Erfolgsaussichten einer staatsanwaltschaftlichen Revision alleine dem Revisionsgericht obliegt, ist dem Senat als Haftbeschwerdegericht eine eigene verbindliche Prüfung im Hinblick auf tatsächliche oder vermeintliche offensichtliche Revisionsfehler verwehrt (vgl. KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, StPO § 120 Rn. 11).

Aufgrund der gesetzlichen Vermutung des § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO darf bis zu der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erneute Untersuchungshaft nur auf Grund neuer Tatsachen und. Beweismittel angeordnet werden; eine andere tatsächliche oder rechtliche Beurteilung reicht dafür nicht aus (vgl. Senat, Beschluss vom 12.01.1981 – 3 Ws 9/81, aaO; OLG Hamm, Beschluss vom 11. August 1980 — 3 Ws 430/80 —, Rn. 4, juris). Da neue Beweismittel hier nicht vorliegen, kann die Haftbeschwerde der Staatsanwaltschaft keinen Erfolg haben.“

U-Haft II: Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls, oder: Anforderungen an die Begründung

© cunaplus – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung kommt vom VerfGH Berlin. Der hat im VerfGH Berlin, Beschl. v. 18.10.2023 – 77/23 – über eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des KG entschieden, mit dem ein Haftbefehl wieder in Vollzug gesettzt worden ist.

Vorgeworfen wird dem Angeklagten unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in sieben Fällen als Mitglied einer Bande. Die Anklage stützt sich im Wesentlichen auf Erkenntnisse, die aus sog. EncroChat-Daten gewonnen wurden.

Das LG Berlin hat die Anklage am 29.06.2023 unter Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen. Zugleich beschloss es, das Verfahren analog § 262 Abs. 2 StPO auszusetzen, da die Entscheidung des Rechtsstreits von europarechtlichen Fragen zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten als Beweismittel abhänge; diese wolle das Gericht zunächst – wie bereits in dem Parallelverfahren C-670/22 – dem Europäischen Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV zur Entscheidung vorlegen. Des Weiteren hob das LG einen zuvor bereits mehrfach vom LG außer und vom KG wieder in Vollzug gesetzten Haftbefehl d auf. Die erneute Aufhebung begründete es damit, dass die von § 112 Abs. 1 StPO vorausgesetzte hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit angesichts der in dem Parallelverfahren noch ausstehenden Antwort des EuGH nicht gegeben sei; überdies sei die Anordnung einer Untersuchungshaft unverhältnismäßig, da eine Hauptverhandlung in der Sache – schon vor dem Hintergrund, dass derzeit noch offen sei, wann der EuGH entscheiden werde – voraussichtlich nicht vor 2024 durchgeführt werden könne. Auf eine hiergegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft setzte das KG den Haftbefehl des wieder in Vollzug. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass auch unter Berücksichtigung des kooperativen Verhaltens des Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe, der nach wie vor nicht durch mildere Maßnahmen als den Vollzug der Untersuchungshaft ausgeräumt werden könne.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde,die keinen Erfolg hatte:

„Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer weder in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB (1.) noch in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 VvB (2.).

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 24. Juli 2023 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Freiheitsgrundrecht nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB. Anders als er meint, leidet die von ihm angegriffene fachgerichtliche Entscheidung an keinem verfassungsrechtlich zu beanstandenden Begründungs- oder Abwägungsdefizit.

Zwar ist dem Beschwerdeführer darin Recht zu geben, dass das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB) so ausgestaltet sein muss, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht. Dem ist durch eine verfahrensrechtliche Kompensation des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs, namentlich durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen. Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. Folglich sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. In diesem Zusammenhang hat sich das die Haftfortdauer anordnende Gericht auch zur voraussichtlichen Gesamtdauer des Verfahrens, zu der für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehenden Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB – zum hypothetischen Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe zu verhalten. Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (Beschlüsse vom 26. Juli 2017 – VerfGH 90 A/17 -, juris, Rn. 23 und vom 22. November 2005 – VerfGH 146/05 -, juris, Rn. 31 ff.; wie alle hier zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abrufbar unter gesetze.berlin.de; vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschlüsse vom 4. April 2006 – 2 BvR 523/06 -, juris Rn. 18, vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 -, juris Rn. 33 und vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 42 ff.).

Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Kammergerichts zur (erneuten) Invollzugsetzung des Haftbefehls vom 11. August 2022 wegen Vorliegens von Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 der StPO jedoch gerecht.

So stellt das Kammergericht zur Begründung seiner Entscheidung unter Bezugnahme auf seine vorangegangenen Beschlüsse vom 28. April und 16. Juni 2023 eine ausführliche Gesamtabwägung an. Dabei berücksichtigt es u. a. auch das kooperative Verhalten des Beschwerdeführers, etwa dass dieser sich nach der Entlassung aus der Haft in Neuruppin am 20. Januar 2023 weder ins Ausland abgesetzt hat noch im Inland untergetaucht ist, sich am 4. Mai 2023 freiwillig dem Ermittlungsrichter gestellt hat und den neuerlichen Haftverschonungsauflagen bislang nachgekommen ist. Zugleich hält es in nachvollziehbarer Weise an seinen bereits in den vorangegangenen Entscheidungen vom 28. April und 16. Juni 2023 angestellten und aus Sicht des Kammergerichts auch weiterhin zutreffenden Erwägungen fest.

Soweit der Beschwerdeführer meint, das Ergebnis der Abwägungen des Kammergerichts hätte anders ausfallen müssen, führt dies noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Vielmehr sind die Ausführungen des Kammergerichts hinreichend ausführlich, in sich schlüssig und vertretbar und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Die Entscheidung des 1. Strafsenats des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer auch nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 15 Abs. 5 S. 2 VvB). Die Besetzung des tätig gewordenen Spruchkörpers ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zwar kann das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt sein, wenn die Wiederbesetzung einer freigewordenen Vorsitzendenstelle nicht in angemessener Zeit vorgenommen wird (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Dreierausschussbeschluss vom 3. März 1983 – 2 BvR 265/83 -, juris). Der 1. Strafsenat des Kammergerichts wird auch bereits seit dem 1. Januar 2023, zum Entscheidungszeitpunkt mithin schon seit knapp sieben Monaten, kommissarisch geführt. Bei der Beurteilung der Angemessenheit des Zeitraums ist jedoch zu berücksichtigen, ob die Wiederbesetzung ungerechtfertigt verzögert wird oder ob die Umstände des Einzelfalls – wie z. B. vorliegend eine Konkurrentenklage – der zügigen Auswahl und Ernennung eines geeigneten Nachfolgers entgegenstehen. Letzteres ist hier der Fall.“