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Haft I: Haftbefehl wegen bandenmäßigem BtM-Handel, oder: Abwägung aller Umstände erforderlich

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Heute drei Entscheidungen aus dem U-Haft-Bereich.

Ich starte mit dem OLG Celle, Beschl. v. 07.09.2023 – 1 Ws 248/23 – zur Fluchtgefahr in einem BtM-Verfahren. Dem Angeschuldigten wird bandenmäßiger Handel unter Nutzung eines kryptierten Mobiltelefons der Firma EncroChat vorgeworfen. Konkret soll er an vier unterschiedlichen Tagen im April 2020 an einen gesondert Verfolgten Zeugen auf einem Parkplatz in I. S. zuvor vereinbarte Betäubungsmittelmengen gegen Bezahlung übergeben haben. Bei den Betäubungsmitteln soll es sich überwiegend um Marihuana im Bereich zwischen zwei und zehn Kilogramm zu einem Verkaufspreis von 4.800 EUR bis 5.400 EUR pro Kilo gehandelt haben. Des Weiteren sollen zwischen 200 g und 350 g Kokain zu 39 EUR pro Gramm und halluzinogene Pilze sowie LSD durch den Angeschuldigten übergeben worden sein. Insgesamt habe er dadurch einen Verkaufserlös von 115.510 EUR erlangt, wobei der weitere Verbleib des Geldes ungeklärt sei.

Deswegen ergeht gegen ihn ein auf Fluchtgefahr gestützter Haftbefehl, gegen den Haftbeschwerde eingelegt wird. Die hat beim OLG Erfolg:

„Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg……

2. Ungeachtet dessen liegt jedenfalls keine Fluchtgefahr (112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor.

a) Fluchtgefahr ist dann gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. (Lind in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe) – dem Strafverfahren entziehen.

Bei der Prognoseentscheidung ist jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Vielmehr können die zu erwartenden Rechtsfolgen allein eine Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen. Denn sie sind lediglich der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 112 Rn. 52; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 112 Rn. 23 m.w.N.).

Mithin sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegen diejenigen Tatsachen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen.

Dabei geht die Kammer grundsätzlich zutreffend davon aus, dass je höher die konkrete Straferwartung ist, umso gewichtiger die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein müssen. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind unter anderem die Persönlichkeit, die persönlichen Verhältnisse und das Vorleben des Beschuldigten, die Art und Schwere der ihm vorgeworfenen Tat, das Verhalten des Beschuldigten im bisherigen Ermittlungsverfahren wie auch in früheren Strafverfahren, drohende negative finanzielle oder soziale Folgen der vorgeworfenen Tat, aber auch allgemeine kriminalistische Erfahrungen und die Natur des verfahrensgegenständlichen Tatvorwurfs, soweit diese Rückschlüsse auf das Verhalten des Beschuldigten nahe legt – etwa bei Taten mit regelmäßigen Auslandskontakten oder in Fällen organisierter Kriminalität – zu berücksichtigen (vgl. MüKoStPO/Böhm, 2. Aufl. 2023, StPO § 112 Rn. 50 m.w.N.).

b) Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs vermag der Senat vorliegend auch in Ansehung der von der Strafkammer hervorgehobenen und für eine Fluchtgefahr sprechenden Umstände – insbesondere die hohe Straferwartung aufgrund der Schwere der zur Last gelegten Taten – ein deutliches Überwiegen der für eine mögliche Flucht des Angeklagten sprechenden Gründe nicht zu erkennen.

So hatte der 32-jährige, bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretene Beschwerdeführer ausweislich der bisherigen Ermittlungsergebnisse ungeachtet seiner zwischenzeitlichen Einbindung in ein kriminelles Betäubungsmittelumfeld seinen Lebensmittelpunkt stets im Bereich K./S. und ist dort offenbar fest verwurzelt. Anhaltspunkte für soziale Bindungen außerhalb seines unmittelbaren Wohnumfeldes, insbesondere Auslandsbeziehungen sind nicht ersichtlich.

Ausweislich des bereits erwähnten Abschlussberichts sprechen die verfahrensgegenständlichen verdeckt geführten Maßnahmen dafür, dass der Beschwerdeführer nach Begehung der angeklagten Taten nicht weiter in den Betäubungsmittelhandel involviert war und sich aus unbekannten Gründen aus diesem zurückgezogen hatte.

Hinzu kommt, dass die vorgeworfenen Taten bereits geraume Zeit zurückliegen und „nur“ einen Zeitraum von einem knappen Monat umfassten. Auch die Nähe des Übergabeortes zum Wohnort des Beschwerdeführers spricht für eine eher lokale Einbindung und gegen weitreichende Kontakte zu einem überörtlichen Betäubungsmittelumfeld.

Die Bekundung des Zeugen H., wonach dem Beschwerdeführer eine hervorgehobene Rolle zugekommen sein soll, beruht allein auf dem Umstand, dass der Beschwerdeführer in den überwiegenden Fällen der vom Zeugen durchgeführten Betäubungsmittelankäufe zugegen gewesen sein soll.

Gegen eine Fluchtgefahr spricht aus Sicht des Senats ferner das bisherige Verhalten im Ermittlungsverfahren. So sind dem Verteidiger des Beschwerdeführers Ende des Jahres 2022 die Ermittlungsakten des zugrundeliegenden Verfahrens als auch des Parallelverfahrens 131 Js 18075/21 übermittelt worden. Trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits in der Akte niedergelegten umfangreichen Ermittlungsergebnisse, insbesondere der Angaben des Zeugen H. im Rahmen seiner Vernehmung vom 24. August 2022, hat der Beschwerdeführer sich weiter an seiner Wohnanschrift aufgehalten, ohne dass Anhaltspunkte für die Vorbereitung einer Flucht zutage getreten sind.

Darüber hinaus war zu beachten, dass der Angeschuldigte über stabile familiäre Bindungen verfügt. Der Angeschuldigte lebt eigenen Angaben zufolge, die mit den diesbezüglichen Ermittlungsergebnissen übereinstimmen, seit dem 4. September 2020 in ehelicher Lebensgemeinschaft, aus welcher eine inzwischen jetzt zwei Monate alte Tochter hervorgegangen ist. Im Rahmen der Durchsuchung ist zudem bestätigt worden, dass der Beschwerdeführer über einen Handwerksbetrieb als Bautischler bzw. –schlosser verfügt.

Soweit die Kammer als Beleg für eine Fluchtgefahr erhebliche Mittel aus den Betäubungsmittelgeschäften und seines Handwerksbetriebs anführt, fehlt es an entsprechenden belastbaren Nachweisen.

Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der ihm vorgeworfenen Taten Verkaufserlöse entgegengenommen haben soll, lässt noch nicht darauf schließen, dass und in welcher Höhe ihm auch ein Gewinn zugeflossen und noch vorhanden ist, zumal die Taten auch schon geraume Zeit zurückliegen. Die Ergebnisse der bei ihm durchgeführten Durchsuchung seiner Wohn- und Betriebsanschrift sprechen eher dafür, dass der Beschwerdeführer aktuell gerade nicht (mehr) über ein erhebliches Vermögen zu verfügen scheint, welches er für die Durchführung einer Flucht einsetzen könnte. Ausweislich des Abschlussberichts verfügt der Beschwerdeführer in Niedersachsen über kein Grundeigentum. Auch die Größe seines Betriebs spricht eher gegen eine erhebliche Einnahmequelle und daraus resultierendes Vermögen.

Bei dieser Sachlage fehlt es nach Auffassung des Senats an zureichenden Anhaltspunkten für die Annahme von Fluchtgefahr. Die Straferwartung allein rechtfertigt eine solche Annahme nicht. Da auch kein anderer Haftgrund ersichtlich ist, war der Haftbefehl des Landgerichts Stade vom 2. August 2023 aufzuheben.“

Zeuge II: Kein Haftbefehl wegen Wiederholungsgefahr, oder: Auswirkungen des Zeugnisverweigerungsrecht

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, kommt dann auch vom KG. Im KG, Beschl. v. 18.11.2022 – 3 Ws 300/22 – 121 AR 235/22 – geht es u.a. um die Frage, ob ein Haftbefehl nach § 112a Abs. 1 StPO auf Grundlage der Aussage eines Zeugen, der vom Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch gemacht hat, erlassen werden kann.

Dem Angeklagten wird in dem Verfahren der Vorwurf der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung seiner Ehefrau gemacht. Deswegen ist der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Das LG hat den Angeklagten aber vom Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Beschwerde, in der sie beantragt, den Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. Zur Begründung trägt sie vor, neben dem Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe auch Wiederholungsgefahr im Sinne von § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 StPO, da gegen den Angeklagten bereits mehrere – allesamt eingestellte – Ermittlungsverfahren geführt worden seien, in denen die Geschädigte  den Angeklagten als von ständiger Eifersucht getrieben bezeichnet habe. Mit Blick auf die bereits langanhaltenden Gewalttätigkeiten vor der Inhaftierung und das Verhalten des Angeklagten unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln müsse davon ausgegangen werden, dass dieser nach seiner Entlassung bei Gelegenheit eines Konflikts erneut eine gleichartige Tat begehen werde.

Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Das KG bejaht die Voraussetzungen für die Anordnung der U-Haft, u.a. auch den Haftgrund der Fluchtgefahr, was man allerdings nicht weiter prüfen kann, da insoweit nur auf andere Beschlüsse Bezug genommen wird. Erscheint mit aber recht „sportlich“.

Zur Wiederholungsgefahr führt es dann aber noch aus:

„c) Zu Unrecht nimmt die Staatsanwaltschaft an, es liege zudem der (subsidiäre) Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 StPO vor, denn die dafür erforderlichen tatbestandlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Zwar ist der Angeklagte auf der Grundlage des Urteils des Landgerichts – wie dargelegt – einer Katalogtat nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO – hier § 177 StGB – dringend verdächtig. Weitere Voraussetzung ist jedoch in Fällen, die § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO unterfallen, dass bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, der Beschuldigte werde vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen, und dass die Haft zur Abwendung dieser Gefahr erforderlich ist. Um die innere Neigung des Angeklagten zur Begehung weiterer – erheblicher – Straftaten feststellen zu können, bedarf es in aller Regel der (freibeweislichen) Feststellung äußerer Indiztatsachen, die einen entsprechenden Rückschluss mit der gebotenen Sicherheit zulassen (vgl. Lind a.a.O., § 112a Rdn. 55).

Es bedarf keiner Klärung durch den Senat, ob die von der Staatsanwaltschaft zitierten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (von denen keines zu einer Verurteilung des Angeklagten geführt hat) im Zusammenwirken mit der im hiesigen Verfahren abgeurteilten Tat den Schluss rechtfertigen, etwaig vom Angeklagten zu erwartende Straftaten überschritten die Erheblichkeitsgrenze des § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO. Denn ohnehin lässt sich die Gefahr, der Angeklagte werde noch vor Rechtskraft des landgerichtlichen Urteils weitere (vergleichbare) Taten begehen, nicht auf der Grundlage bestimmter Tatsachen tragfähig begründen. Die im Rahmen dessen durchzuführende Gefahrenprognose erfordert eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens. Dabei sind auch Indiztatsachen zu berücksichtigen und zu würdigen, wie Vorstrafen des Angeklagten und die zeitlichen Abstände zwischen ihnen sowie seine Persönlichkeitsstruktur und Lebensumstände (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21.Januar 2020 – 2 Ws 1/20 -, juris m.w.N.; Hans. OLG Bremen, Beschluss vom 11. Mai 2020 – 1 Ws 44/20 -, juris m.w.N.; Thür. OLG StV 2013, 773; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 112a Rdn. 14 m.w.N; Graf in KK-StPO 8. Aufl., § 112a Rdn. 19).

Eine hohe Wahrscheinlichkeit, der Angeklagte werde sein strafbares Verhalten fortsetzen, ist auf der Grundlage der vorliegenden Indiztatsachen nicht zu belegen.

aa) Der Angeklagte wurde in dem hiesigen Verfahren erstmalig verurteilt. Die von der Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdeschrift zum Beleg seiner Gefährlichkeit zitierten Verfahren wurden sämtlich eingestellt, die Verfahren zu den Geschäftszeichen 252 Js 1739/19, 3021 Js 6130/21 und 252 Js 1739/19 mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO, das Verfahren zu 252 Js 4436/22 nach § 154 StPO im Hinblick auf das hiesige Verfahren. Aus ihnen lassen sich deshalb keine hinreichend sicheren Schlüsse ziehen, die künftige (vergleichbare) Straftaten des Angeklagten zu belegen geeignet sind. Unerheblich ist dabei, ob die Verfahren eingestellt worden sind, weil Tatzeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO Gebrauch gemacht haben, der Tatnachweis aus anderen Gründen nicht geführt werden konnte oder dies aus Gründen der Prozessökonomie geschehen ist.

bb) Soweit die Staatsanwaltschaft auf Verfahren Bezug nimmt, in denen die Geschädigte von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO Gebrauch gemacht hat, tritt hinzu, dass ein Rückgriff auf polizeiliche oder staatsanwaltliche Vernehmungen von Zeugen, die hernach von ihrem Recht aus § 52 StPO Gebrauch gemacht haben, zur Folge hätte, dass der Schutzzweck des Zeugnisverweigerungsrechts, dem Zeugen einen Gewissenskonflikt zu ersparen und die Familienbande, die den Angeklagten mit dem Zeugen verknüpft, zu schonen (vgl. Bertheau/Ignor in Löwe-Rosenberg a.a.O., § 52 Rdn. 53 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 52 Rdn. 1 m.w.N.), und das daraus resultierende Verwertungsverbot (vgl. Bader in KK-StPO 8. Aufl., § 52 Rdn. 43a m.w.N.) ins Leere liefen. Das wäre nicht nur bei einer – anerkannt unzulässigen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rdn. 23; Percic in MüKo-StPO, § 52 Rdn. 43a; Bader a.a.O.; alle m.w.N.) – Verwertung von vorangegangenen nicht richterlichen Vernehmungen im strengbeweislichen Verfahren in der Hauptverhandlung der Fall, sondern auch dann, wenn die Erkenntnisse aus einer solchen Vernehmung zur Begründung eines Haftbefehls freibeweislich herangezogen würden; das aus der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrecht resultierende Verwertungsverbot wäre in beiden Fällen gleichermaßen ausgehöhlt.

cc) Auch die dem Senat verfügbaren Erkenntnisse zu den persönlichen Lebensumständen des Angeklagten lassen keine hinreichend präzisen Schlüsse auf künftige vergleichbare Straftaten des Angeklagten zu, der ein Teilgeständnis abgelegt und sich ausweislich des Nichtabhilfevermerks bei der Geschädigten entschuldigt hat. Zugleich hat die Geschädigte in einem an den Angeklagten gerichteten Brief vom 7. August 2022 mitgeteilt, dass sie ihm verzeihe. Dies spricht gegen die Begehung künftiger Taten vergleichbarer Schwere. Ob und inwieweit das Verhalten des Angeklagten und der Geschädigten lediglich prozesstaktischer Natur gewesen ist, vermag der Senat nicht zu beurteilen….“

BVerfG II: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Außervollzusetzung des Haftbefehls verlängert

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Das zweite Posting betrifft den BVerfG, Beschl. v. 20.12.2022 – 2 BvR 900/22. Ergangen ist er in Zusammenhang mit der Neuregelung der Rechts der Wiederaufnahme in der StPO. Ich erinnere: Im September 2021 haben der Bundestag und der Bundesrat das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung – Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) beschlossen (vgl. hier:  Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen kommt, oder: Ist das “materielle Gerechtigkeit”?. 

Die Neuregelung ist dann alsbald zur Anwendung gekommen und als verfassungsmäßig angesehen worden; vgl. dazu den OLG Celle, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 62/22 , der zur Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung im Recht der Wiederaufnahme – § 362 Nr. 5 StPO – Stellung genommen hat (vgl. hierzu Neues Spurengutachten 40 Jahre nach Freispruch, oder: Wiederaufnahme zu Ungunsten verfassungmäßig?). 

Die Neuregelung ist inzwischen Gegenstand verfassungsrechtlicher Prüfung beim BVerfG. Das hatte mit BVerfG, Beschl. v. 14.07.2022 – 2 BvR 900/22 – den in dem Verfahren verkündeten Haftbefel durch eine einstweilige Anordnung außer Vollzug gesetzt. Allerdings nur für sechs Monate (vgl. BVerfG I: Neue Wiederaufnahme zu Ungunsten?, oder: Eilantrag gegen Haftbefehl hat Erfolg).

Nun hat das BVerfG  mit Beschluss vom 20.12.2022 die Außervollzusetzung um sechs Monate verlängert:

„Das Bundesverfassungsgericht kann eine einstweilige Anordnung dann wiederholen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für den erstmaligen Erlass einer solchen Anordnung noch gegeben sind (vgl. BVerfGE 21, 50; 89, 113 <115 f.>; 97, 102 <102>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. September 2019 – 2 BvR 1845/18 -, Rn. 2; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Februar 2022 – 2 BvR 1514/21 -, Rn. 2).

Dies ist vorliegend der Fall. Zur Begründung wird auf den Beschluss vom 14. Juli 2022 verwiesen. Die Sach- und Rechtslage hat sich seither nicht wesentlich geändert. Der Beschwerdeführer ist den ihm auferlegten Weisungen beanstandungsfrei nachgekommen. Auch eingedenk des Beschleunigungsgrundsatzes, der bei einem außer Vollzug gesetzten Haftbefehl prinzipiell weiterhin gilt (vgl. BVerfGE 53, 152 <159 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Juli 2022 – 2 BvR 900/22 -, Rn. 54), sind die fortgeltenden Maßnahmen gegenüber dem Beschwerdeführer für weitere sechs Monate noch verhältnismäßig.“

Also: Noch einmal sechs Monate. Ich wage die Voraussage: Das BVerfG wird auch dann noch nicht entschieden haben. Also: Dann noch einmal Verlängerung oder – im Hinblick auf den haftrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz – Aufhebung des Haftbefehls.

U-Haft III: Haftgrund der Wiederholungsgefahr, oder: Invollzugsetzung des Haftbefehls nach neuen Taten

entnommen der Homepage der Kanzlei Hoenig, Berlin

Und dann habe ich noch folgende U-Haft-Entscheidung, nämlich den LG Würzburg, Beschl. v. 12.12.2022 – 1 Qs 192/22.

Es geht um einen Haftbefehl, der auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, also § 112a StPO, gestützt ist. Der ist außer Vollzug gesetzt worden. Der Angeklagte begeht dann neue Straftaten und es stellt sich die Frage der Invollzugsetzung (§ 116 Abs. 4 StPO).

Im Verfahren wird um diese Frage gestritten, die vom LG in einem umfangreich begründeten Beschluss – ich verweise wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext – bejaht wird. Hier wegen des Umfangs der Begründung nur die Leitsätze, die lauten:

1. Eine auf den Haftgrund der „Wiederholungsgefahr“ gestützter Haftbefehl kann nach § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn der Beschuldigte neue gleichartige Straftaten begeht und dadurch das in ihn gesetzte Vertrauen zerstört.

2. Die neuen Taten müssen weder gegenüber dem gleichen Geschädigten erfolgen, noch im gleichen Verfahren verfolgt werden. Stets ist aber zumindest ein dringender Tatverdacht erforderlich.

U-Haft II: Nach Urteilserlass neu gefasster Haftbefehl?, oder: Alter Wein in neuen Schläuchen?

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem OLG Rostock, Beschl. v. 29.11.2022 – 20 Ws 293/22 – geht es um die Frage der Neufassung eines Haftbefehls und zur prozessualen Überholung eines Rechtsmittels.

Das LG hat den Angeklagten mit Urteil vom 20.09.2022 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Daneben hat es u. a. die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das Landgericht den angegriffenen Beschluss erlassen. Dieser führt lediglich aus, der Haftbefehl des AG Rostock vom 23.09.2021 — 34 Gs 2211/21 — bleibe „aus den nach Maßgabe der heutigen Verurteilung zutreffenden und fortbestehenden Gründen seines Erlasses aufrechterhalten und in Vollzug“. Eine nähere Erörterung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft ist zunächst nicht erfolgt.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Angeklagten. Dieser führt an, Fluchtgefahr liege nicht vor. Diese könne sich nicht auf tatsächliche Anhaltspunkte stützen.

Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 07.10.2022 (Bd. IV BI. 11 ff. d.A.) nicht abgeholfen. Sodann hat das Landgericht weiter folgendes ausgeführt: „Der Haftbefehl des Amtsgerichts Rostock vom 23.9.2021 wird wie folgt neu gefasst: Haftbefehl Gegen den Angeklagten    wird die Untersuchungshaft angeordnet. Der Angeklagte ist dringend verdächtig und mit Urteil der Kammer vom 20.9.2022 insoweit bereits zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, [ ..]“.

Es folgen die abstrakten Tatvorwürfe, die zugehörigen Konkretisierungen sowie die ausführliche Begründung des Tatverdachts, des Haftgrunds und der Verhältnismäßigkeit der Unter-suchungshaft. Als Haftgrund hat das LG weiterhin Fluchtgefahr angenommen. Das LG hat diesen Beschluss in der Folge formlos übersandt.

Die GStA meint nun, dass die Kammer einen neuen Haftbefehl erlassen habe, wodurch sich die Beschwerde des Angeklagten gegen den Fortdauerbeschluss vom 20.09.2022 erledigt habe. Der neue Haftbefehl sei dem Angeklagten zu verkünden, erst gegen diesen Haftbefehl sei in der Folge wieder Beschwerde möglich. Das LG vertritt eine andere Ansicht. Das OLG hat sich dem LG angeschlossen:

„1. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft liegt keine Neufassung des Haft-befehls vor, die zur prozessualen Überholung der Beschwerde geführt hätte. Zwar ist die Nichtabhilfeentscheidung der Kammer vom 07.10.2022 insofern unglücklich formuliert, als dass sich alleine aus ihr eine von der Generalstaatsanwaltschaft angenommene Neufassung des Haftbefehls ergeben könnte. In der Verfügung vom 01.11.2022 hat der Kammervorsitzende indes klargestellt, dass die Ausführungen in der Nichtabhilfeentscheidung vom 07.10.2022 einzig den Zweck hatten, den nach § 268b StPO ergangenen, zunächst nicht näher begründeten Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 20.09.2022 nachträglich zu ergänzen, um dem Beschwerdegericht eine Entscheidung in der Sache zu ermöglichen.

Der Generalstaatsanwaltschaft ist zwar insoweit zuzustimmen, dass auch ein erst im Rahmen der Abhilfeprüfung neu gefasster Haftbefehl zur prozessualen Überholung einer gegen eine zuvor getroffene Haftentscheidung eingelegten Beschwerde führt (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 27.06.2019 – 1 Ws 99/19 -; OLG Celle, Beschluss vom 08.12.2016 -1 Ws 599/16 – juris – ). Eine Auslegung als bloße Nichtabhilfeentscheidung scheidet dann aus, wenn das Gericht nach eigener Diktion einen neuen Haftbefehl erlassen wollte und auch erlassen hat (OLG Brandenburg, a. a. 0. Rn. 13; OLG Celle a.a.O.; Hervorhebung durch den Senat).

So liegt der Fall hier aber gerade nicht, weil das Gericht mit der Verfügung vom 01.11.2022 seine Intention klargestellt hat, nämlich lediglich prüffähige Beschlussgründe entsprechend dem Gebot des § 34 StPO nachzuerstellen und keinen neuen Haftbefehl zu erlassen.

Bei dieser – auch möglichen – Lesart der zugrundeliegenden Entscheidungen ist der Ange-klagte im übrigen bessergestellt, weil sein Rechtsmittel nicht aus formellen Gründen ohne Sachprüfung zu verwerfen ist.“