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Vollstreckung III: Widerruf von Vollzugslockerungen, oder: Begründung der Ermessensentscheidung

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nd dann zum Schluss des Tages noch der LG Zweibrücken, Beschl. v. 23.08.2023 – 2 StVK 241/23 Vollz. Der Beschluss ist schon etwas älter, heute „passt2 er aber.

Es geht in der Entscheidung um den Widerruf von Vollzugslockerungen als Disziplinarmaßnahme. Das LG hat den als rechtwidrig angesehen:

„…..

Letztlich kommt es darauf nicht an, denn die Antragsgegnerin hat es zunächst versäumt, die Vorschrift des § 101 Abs. 4 LJVollzG zu prüfen, wonach begünstigende Maßnahmen – und um eine solche begünstigende Maßnahme handelt es sich bei der Gewährung von Vollzuglockerungennur aufgehoben werden dürfen, wenn die vollzuglichen Interessen an der Aufhebung in Abwägung mit dem schutzwürdigen Vertrauen der Betroffenen auf den Bestand der Maßnahmen überwiegen. Die insoweit vom Gesetz geforderte Interessenabwägung hat die Antragsgegnerin nicht vorgenommen – jedenfalls findet sich hierzu nichts in der angegriffenen Verfügung-.

Das Gericht hat darüber hinaus jedoch nach § 115 Abs. 5 StVollzG, soweit die Vollzugsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, auch zu prüfen, ob die Maßnahme oder ihre Ablehnung oder Unterlassung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Bei dem Widerruf nach § 101 Abs. 3 LJVollzG handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, was bereits der Wortlaut der Vorschrift (begünstigende Maßnahmen „können“ widerrufen werden) klarstellt. Ausweislich der angegriffenen Verfügung hat die Antragsgegnerin aber von dem ihr zustehenden Ermessen hinsichtlich des Widerrufs keinerlei Gebrauch gemacht. So führt die Antragsgegnerin, nachdem sie kurz festhält, warum die materiellrechtlichen Voraussetzungen eines Widerrufs gegeben seien, lediglich aus, dass die Lockerungen nach § 101 Abs. 3 Nr. 1 LJVollzG widerrufen werden. Die Annahme ist gerechtfertigt, dass sich die Antragsgegnerin des ihr zustehende Ermessen bei der Entscheidung über den Widerruf nicht bewusst war und sie dieses deshalb nicht ausgeübt hat. Insoweit liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs als Unterfall eines beachtlichen Ermessensfehlers auf Seiten der Antragsgegnerin vor, zu dessen Prüfung die Kammer nach § 115 Abs. 5 StVollzG veranlasst ist. Es finden sich in der angegriffenen Verfügung keinerlei erforderliche Ausführungen zum Gebrauch des der Antragsgegnerin zustehenden Ermessens. Dies gilt umso mehr, als dass in die anzustellenden Ermessenserwägungen wiederum die in die Abwägung nach § 101 Abs. 4 LJVollzG einzustellenden Umstände einzufließen haben, welche die Antragsgegnerin wie ausgeführt gänzlich nicht behandelt hat.

Die Antragsgegnerin hat zwischenzeitlich im gerichtlichen Verfahren zwar ihre Rechtsaulfassung deutlich gemacht, dass § 101 Abs. 4 LJVollzG bei der Prüfung des Widerrufs der Lockerungseignung zu beachten ist und dazu im Fall des Antragstellers näher begründet, warum der Vorfall veranschaulicht, dass eine notwendige Absprachefähigkeit, welche für die Gewährung von Vollzugslockerungen erforderlich ist, aus ihrer Sicht noch nicht in ausreichendem Maße gegeben ist (BI. 47-48 d.A.).

Die Ermessensentscheidung muss jedoch zum Zeitpunkt des Erlass der Entscheidung ausreichend begründet werden. Es besteht daher nicht nur eine Aufklärungsverpflichtung, sondern auch eine Begründungspflicht, die Grundlagen der Entscheidung sind im Einzelnen wiederzugeben. Genügt die Begründung den Anforderungen nicht, kann sie weder durch ergänzenden Vortrag der Vollzugsbehörde im gerichtlichen Verfahren, noch durch eigene Ermittlungen der Strafvollstreckungskammer ersetzt werden (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 12.05.2017 -1 Ws 235/16 Vollz, Rn. 17; KG, Beschluss vom 27.02.2014 – 2 Ws 55/14 Vollz, Rn. 25; OLG Hamburg, Beschluss vom 09.01.2020 – 5 Ws 61/19 Vollz, Ls. 2). Teilt die Antragsgegnerin mit, das ggf. Vorliegen von vorherigen Hausordnungsverstößen fließe grundsätzlich immer im Rahmen des Ermessens mit in die Entscheidung ein, die Tatsache, dass dies nicht verschriftet wurde kein,Beleg für ein unzulässiges Nachschieben von Gründen sei, trifft dies bei der Kammer nicht auf Zustimmung. Etwas anderes könnte vielleicht dann gelten, wenn es im konkreten Fall lediglich darum ginge, eine gedanklich bereits existierende, lediglich aus Zeitgründen nicht schriftlich ausgeführte Begründung nachträglich zu fixieren (KG, a.a.O). So liegt der Fall hier jedoch nicht. Es ist aus Sicht der Kammer, wie bereits dargelegt, nun nicht mehr nachvollziehbar, ob sich die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerruf der Lockerungseignung bewusst gewesen ist, dass ihr ein Ermessensspielraum zukommt und welche Gesichtspunkte maßgeblich waren. Dies darf sich nicht zum Nachteil der Antragstellerin auswirken (KG, a.a.O.).“

Strafvollzug II: Bestellung eines Kosmetikspiegels, oder: Kosmetikspiegel sind keine Mittel zur Körperpflege

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In der zweiten Entscheidung des Tages, dem OLG Celle, Beschl. v. 13.07.2023 – 1 Ws 180/23 (StrVollz) – geht es um den Kauf/die Bestellung eines Kosmetikspiegels durch einen Gefangenen. JVA und StVK haben das abgelehnt. Dagegen dann die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte:

„Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Denn die Kammer hat ihre rechtliche Überprüfung an einer nicht einschlägigen Norm vollzogen. Sie stützt sich – wie auch die Antragsgegnerin – auf § 24 Abs. 1 S. 1 NJVollzG, wonach Gefangene sich aus einem von der Vollzugsbehörde vermittelten Angebot Nahrungs- und Genussmittel sowie Mittel zur Körperpflege kaufen dürfen. Die Regelung dient dazu, die Kontrollmöglichkeiten der Anstalt zu gewährleisten (vgl. Arloth/Krä, 5. Aufl., § 22 StVollzG Rn. 2), welche bei solchen Gegenständen besonderen Aufwand bedürfen. Insoweit kann die Anstalt nicht nur den Zeitraum und die Anzahl, sondern auch die Art und Weise des Einkaufs innerhalb des eröffneten Ermessensspielraums regeln. Auf bestimmte Gegenstände hat ein Gefangener keinen Anspruch (vgl. OLG Frankfurt am Main, ZfStrVo SH 1979, 33; OLG Saarbrücken. BeckRS 2016, 09800).

Bei einem Kosmetikspiegel handelt es sich jedoch nicht um einen der in § 24 Abs. 1 S. 1 NJVollzG genannten Gegenstände. Insbesondere handelt es sich nicht um ein Mittel zur Körperpflege. Weder den Gesetzesmaterialien zu § 24 NJVollzG noch denen des diesem als Vorlage dienenden § 22 StVollzG ist zu entnehmen, welche konkreten Gegenstände der jeweilige Gesetzgeber im Sinn gehabt hat. Schon der allgemeine Sprachgebrauch deutet darauf hin, dass es sich – anders als bei Gegenständen zur Körperpflege – um solche Produkte handelt, die unmittelbar im oder am Körper Verwendung finden (vgl. OLG Hamm, ZfStrVo 1988, 311). Die Systematik der Norm in Form der dort aufgestellten Vergleichbarkeit mit Nahrungs- und Genussmitteln legt zudem nahe, dass es sich bei Körperpflegemitteln um solche Mittel handeln muss, die einen ähnlichen Kontrollaufwand zur Folge haben, wie es etwa bei Zahnpasta (vgl. Arloth/Krä, a.a.O., Rn. 2a) oder Cremes und Lotionen der Fall wäre. Der Senat verkennt dabei nicht, dass in der Rechtsprechung auch Rasierklingen unter den Begriff der Körperpflegemittel subsumiert worden sind (vgl. OLG Dresden, BeckRS 2018, 15218). Ob der Senat diese Auffassung teilt, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Anders als Rasierklingen findet die Verwendung eines Kosmetikspiegels jedenfalls nicht unmittelbar am Körper statt.

Ob der Antragsteller einen Anspruch auf Bestellung eines Kosmetikspiegels geltend machen kann richtet sich deshalb nach § 21 NJVollzG. Zwar regelt dieser unmittelbar nur den Besitz von Ausstattungsgegenständen und äußert sich nicht zu den Möglichkeiten des Gefangenen, sich die fraglichen Sachen zu beschaffen. Es liegt jedoch auf der Hand, dass diesem Recht auch ein Anspruch auf Einkauf zulässiger Ausstattungsgegenstände entsprechen muss. Anderenfalls würde die Befugnis zur Ausstattung des Haftraums mit eigenen Sachen weitgehend leerlaufen; der Gefangene wäre auf die Zuwendungen von Angehörigen angewiesen oder auf solche Ausstattungsgegenstände beschränkt, die er schon beim Strafantritt mitgebracht hat. Eine derartige Einschränkung des  Anspruchs aus § 21 NJVollzG würde der Intention des Gesetzes nicht gerecht. Soweit es um die Beschaffung von nach § 21 NJVollzG zulässigen Ausstattungsgegenständen geht, muss die Vollzugsbehörde den Einkauf demnach gestatten (vgl. OLG Zweibrücken, NStZ 1986, 477). Dass der Antragsteller über einen Wandspiegel im Nassbereich seiner Zelle verfügt, stellt dabei einen unbeachtlichen Umstand dar (vgl. zur ähnlichen Konstellation des Kaufs einer Leselampe bei bereits ausreichender Beleuchtung im Übrigen OLG Celle, NStZ 1981, 238).“r. 8, 52, 60, 63 Abs. 3 Nr. 2, 65 GKG.“

Strafvollzug I: Menschenwürdige Unterbringung, oder: Anforderungen an den Haftraum

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Und ich starte in die neue Woche mit zwei OLG-Entscheidungen zum Strafvollzug.

Die erste kommt aus Bayern. Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 19.07.2022 – 203 StObWs 249/22 – Stellung genommen zur Frage der menschenunwürdigen Unterbringung.

Auszugehen war von folgendem Sachverhalt:

„Der Antragsteller hat im gegenständlichen Verfahren vor der Strafvollstreckungskammer mit Schreiben vom 1. November 2020 zunächst die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Unterbringung im Haftraum C II der Justizvollzugsanstalt (JVA) Kaisheim, die Feststellung eines Anspruchs auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 100.- Euro täglich fortlaufend ab dem 21. September 2020 und eine Verlegung in eine andere Zelle beantragt. Zudem hat er einen Amtshaftungsanspruch geltend gemacht. Mit Schreiben vom 15. Februar 2021 hat er beantragt, die Rechtswidrigkeit der Unterbringung im Haftraum C II sowie der Lochbleche vor dem Fenster im Haftraum DK 15  festzustellen, die Justizvollzugsanstalt zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 860.- Euro und 1290.- Euro sowie von 15.- Euro täglich ab dem 3. November 2020 zu verpflichten, und den Antrag auf Verlegung für erledigt erklärt.

Der Antragsteller verbüßt derzeit eine Freiheitsstrafe. Vom 21. September bis zum 2. November 2020 befand er sich als alleiniger Insasse im Haftraum C II 26 in der Justizvollzugsanstalt Kaisheim (im Folgenden: Antragsgegnerin). Bei der Zelle handelt es sich um einen Einzelhaftraum im zweiten Stock des Zellenneubaus der Einrichtung. Ihre Grundfläche beträgt nach dem Vortrag des Antragstellers mindestens 7,58 qm, nach der Berechnung der Antragsgegnerin 8,04 qm. Das im Raum integrierte WC ist baulich nicht abgetrennt und verfügt nicht über eine gesonderte Abluftvorrichtung. Der Haftraum weist in einer Brüstungshöhe von etwa 180 cm ein Oberlichtfenster mit einer Gesamtfläche von etwa 1,30 qm auf. Ein Fensterflügel, der nach den Angaben des Antragstellers in einer seinem Schreiben vom 22. Oktober 2021 beigefügten Skizze mit mindestens 40 x 80 cm etwa ein Drittel der Fensterfront bildet, kann zur Belüftung geöffnet werden. Die übrigen zwei Drittel des Fensters sind nicht zu öffnen und bestehen aus einer Glasscheibe.  Zum Schutz vor Überwürfen ist vor dem Fenster ein Vorsatzgitter angebracht. Im verfahrensrelevanten Zeitraum war der Antragsteller bis zum 19. Oktober 2020 ohne Beschäftigung und befand sich ab dem 20. Oktober 2020 regelmäßig wöchentlich 36 Stunden und 45 Minuten im Arbeitsbetrieb. Die Aufschlusszeiten einschließlich der Aufenthaltsmöglichkeit im Freien betrugen außerhalb der Arbeitswochen von Montag bis Freitag insgesamt 5 Stunden 30 Minuten und am Wochenende 6 Stunden 30 Minuten. Die Reinigung mittels ihm zur Verfügung gestellten Reinigungsmitteln und die Belüftung des Haftraumes oblagen dem Gefangenen. Nachdem der Antragsteller am 30. Oktober 2020 der Antragsgegnerin seine Bedenken gegen die Bedingungen seiner Unterbringung in einem Gespräch mitgeteilt hatte, wurde er am 2. November 2020 in einen anderen Haftraum verlegt.

Der Antragsteller ist der Auffassung, sein Aufenthalt im Raum C II 26 sei aufgrund der Größe des Raumes und der Installation des WCs ohne Abluftvorrichtung und ohne bauliche Abtrennung mit der Menschenwürde nicht vereinbar gewesen und müsse mit einer Geldzahlung ausgeglichen werden. Er hält zudem ein Oberlichtfenster generell für unzulässig. Der Einbau hätte auch nicht den DIN-Vorgaben entsprochen. Das Fensterglas wäre nur mit einfachem Kitt befestigt gewesen. Das Fenster hätte zudem keine ausreichende Belichtung und Beleuchtung des Raumes zugelassen. Selbst bei Tag wären das Lesen und Schreiben nicht ohne künstliche Beleuchtung möglich gewesen. Die Aufschlusszeiten stellten sich ebenfalls als menschenunwürdig dar.

Die Antragsgegnerin ist dem Vorwurf einer menschenunwürdigen Unterbringung in ihrer Anstalt entgegengetreten. Die von ihr vorgetragene und mit einem Grundriß unterlegte Raumgröße von 8,04 qm, die von ihr dargestellte Ausstattung des Haftraumes und die von ihr detailliert aufgeführten Aufschlusszeiten entsprächen den Anforderungen an einen menschenwürdigen Strafvollzug. Die Gesamtfläche des Fensters würde 1,30 qm betragen.  Die Vorsatzgitter seien erforderlich geworden, nachdem Betäubungsmittel und Kommunikationsmittel in die Fenster der Anstalt hineingeworfen worden wären. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter hätte die Gitter als gerechtfertigt beurteilt.

Der Verurteilte hatte im Verfahren keinen Erfolg. Hier die Leitsätze des BayObLG:

1. Die Frage nach der Menschenwürdigkeit der Unterbringung von Strafgefangenen hängt stets von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände ab. Eine maßgebliche Bedeutung kommt der Größe und Belegung des Raumes, der Lage und Größe des Fensters, der Ausstattung und Belüftung des Haftraums, den hygienischen und klimatischen Verhältnissen, der Heizung, der Luftmenge und der Beleuchtung, dem Zugang zum Freistundenhof oder zu Frischluft und Tageslicht zu. Längere Aufschlusszeiten sind geeignet, mögliche Defizite zu kompensieren.

2. Auch wenn die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze neben dem Erfordernis einer Sichtverbindung nach außen auch vorsehen, dass die Fenster zulassen, dass die Gefangenen unter normalen Bedingungen bei Tageslicht lesen und arbeiten können, führt eine Feinvergitterung nicht ohne weiteres dazu, eine Unterbringung als menschenunwürdig zu qualifizieren. Auch insoweit kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.

 

 

BVerfG I: Mehrfache Drogenscreenings im Strafvollzug, oder: (keine) Urinabgaben uter Aufsicht?

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Zum Wochenauftakt stelle ich heute zwei Entscheidungen des BVerfG vor.

Zunächst verweise ich auf den BVerfG, Beschl. v. 22.07.2022 – 2 BvR 1630/21 – zur (Un)Zulässigkeit von beaufsichtigten Drogenscreenings mittels Urinkontrollen in Justizvollzugsanstalt.

Aus der PM des BVerfG ergibt sich folgender Sachverhalt:

„Der Beschwerdeführer verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen, wie die Verwendung von Fremdurin, möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Beschwerdeführer wurden in der Zeit vom 24. November bis zum 28. Dezember 2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Beschwerdeführers hatte.

Anfang Januar 2021 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen…..“

Die Rechtsmittel hatten keinen Erfolg, die Verfassungsbeschwerde hatte dann aber Erfolg. Wegen der recht umfangreichen Begründung des BVerfG verweise ich auf den verlinkten Volltext.

Hier nur der/(mein) Leitsatz:

Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl eines Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat deshalb Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.

 

Corona II: Strafvollzug und COVID-19-Pandemie, oder: Versagung unbegleiteter Ausgänge

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Und als zweite Entscheidung zu Covid-19 der KG, Beschl. v. 20.04.2022 – 2 Ws 61/22 Vollz -, also mal etwas aus dem Strafvollzug und der COVID-19-Pandemie

Es geht um die Zulässigkeit bzw. die Versagung unbegleiteter Ausgänge: Die sind dem  Gefangenen mit der Begründung nicht gewährt worden, dass diese nur in Ausnahmefällen genehmigt werden, um das Risiko eines COVID-19-Ausbruchs im geschlossenen Vollzug durch Sicherstellung der Abstands- und Hygieneregeln auch während des Ausgangs durch Begleitung zu minimieren.

Dagegen die Rechtsmittel des Gefangenen, die letztlich auch beim KG keinen Erfolg hatten:

„b) Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag des Gefangenen indes rechtsfehlerfrei (hilfsweise) als unbegründet erachtet.

aa) Zu Recht hat die Kammer angenommen, dass die Ermessensentscheidung (§ 115 Abs. 5 StVollzG) der Justizvollzugsanstalt, unbegleitete Ausgänge gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG Bln nur in Ausnahmefällen zu erlauben, nicht zu beanstanden ist.

Es begegnet dabei insbesondere keinen Bedenken, dass die Haftanstalt dem Ziel, Infektionen mit dem Coronavirus unter den Gefangenen zu vermeiden, ein hohes Gewicht beigemessen hat. Denn die Vollzugsbehörden müssen angesichts der COVID-19-Pandemie umfassende Maßnahme ergreifen, um ihrer besonderen Fürsorgepflicht für alle Gefangenen gerecht zu werden und diese nach Möglichkeit vor einer Infektion mit dem Coronavirus und den damit verbundenen erheblichen Gefahren für Gesundheit und Leben zu schützen (vgl. KG, Beschluss vom 31. Mai 2021 – 5 Ws 64/21 Vollz –). Soweit das Landgericht Regensburg (Beschlüsse vom 17. Februar 2022 – SR StVK 149/22 –, juris und 11. November 2021 – SR StVK 1144/21 –, juris) dagegen die Auffassung vertritt, allgemeine Erwägungen zum notwendigen Infektionsschutz in der Justizvollzugsanstalt ohne Bezug zu einer Gefahr für die Sicherheit und Ordnung können die Versagung von Vollzugslockerungen nicht rechtfertigen, da die Verhinderung einer Verbreitung von SARS-Cov-2 eine Angelegenheit des Infektionsschutzes sei und die Haftanstalt keine Infektionsschutzbehörde sei, vermag dies bereits aufgrund der Pflicht der Anstalt zum Gesundheitsschutz der Inhaftierten nicht zu überzeugen (so auch Öhrlein/Krä in BeckOK Strafvollzugsrecht Bayern, 15. Edition Stand 1. Juli 2021, Art. 3 Rn. 28a), zumal nach den Strafvollzugsgesetzen allein die Vollzugsbehörden und nicht etwa das Gesundheitsamt dazu berufen sind, über Lockerungsmaßnahmen im Strafvollzug zu entscheiden.

Die Strafvollstreckungskammer ist auch zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Bewertung der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, die Einhaltung der aus Infektionsschutzgründen gebotenen Abstands- und Hygieneregeln durch die Gefangenen sei bei unbegleiteten Ausgängen nicht hinreichend zu kontrollieren, sodass diese nur ausnahmsweise zu gestatten seien, nicht zu beanstanden ist. Es hat sich gezeigt, dass die sogenannte „AHA-Regel“ (Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Alltagsmaske tragen) ein wirksames Mittel ist, um sich gegen das Coronavirus zu schützen. Vor diesem Hintergrund ist es ein nachvollziehbares Anliegen der Haftanstalt, die Einhaltung der Abstands- und Hygienemaßnahmen durch Begleitung der Ausgänge der Gefangenen zu kontrollieren.

Es handelt sich auch nicht um eine – unzulässige – generelle coronabedingte Beschränkung der vollzugsöffnenden Maßnahme (vgl. KG, a. a. O., BayObLG, a. a. O.). Die Justizvollzugsanstalt hat vielmehr unbegleitete Ausgänge in Ausnahmefällen zugelassen, für die der Gefangene indes nichts vorgetragen hat. Es ist auch rechtlich nicht zu beanstanden, den Umstand, dass der Gefangene zum damaligen Zeitpunkt noch keine Corona-Impfung erhalten hat, bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Denn die in Deutschland gängigen COVID-19-mRNA-Impfstoffe der Firmen BioNTech/Pfizer und Moderna sowie der Vektor-Impfstoff der Firma AstraZeneca bieten ausweislich der online abrufbaren Informationen des Robert-Koch-Instituts (www.rki.de) eine sehr hohe Wirksamkeit gegen eine schwere COVID-19-Erkrankung und eine gute Wirksamkeit gegen eine symptomatische SARS-CoV-2-Infektion bei den zum maßgeblichen Zeitpunkt in Deutschland vorherrschenden Virusvarianten.

Eine andere Beurteilung ergibt sich zudem auch nicht daraus, dass die 7-Tage-Inzidenz in Berlin nach dem zutreffenden Vortrag des Gefangenen im Mai und Juni 2021 ausweislich der online abrufbaren Aufstellung des Robert-Koch-Instituts (www.rki.de) regelmäßig unter oder knapp über 10 lag. Denn die auch vom jeweiligen Testaufkommen abhängige 7-Tage-Inzidenz gibt die Zahl der Neuinfektionen innerhalb der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner an und kann jederzeit – auch sprunghaft – ansteigen.

Schließlich vermag der Rechtsbeschwerde auch nicht der Umstand zum Erfolg zu verhelfen, dass die Justizvollzugsanstalt Plötzensee keine „Schnelltestung“ in der Anstalt vorgenommen hat, um unbegleitete Ausgänge zu ermöglichen. Denn auch negative Schnelltests sind nur „Momentaufnahmen“ und bieten keine Gewähr dafür, dass die getestete Person nicht erkrankt ist und nur kurze Zeit später auch – bei entsprechender Virenlast – möglicher Überträger der Krankheit ist. Da gerade eine unentdeckte Coronainfektion des Gefangenen im Rahmen eines Ausgangs verhindert werden soll, bieten negative Schnell- und PCR-Tests – anders als bei Besuchern, die die Haftanstalt sodann wieder verlassen (vgl. dazu KG, a. a. O.) – mithin keinen hinreichend sicheren Schutz vor einem COVID-19-Ausbruch in der Haftanstalt.

bb) Der Beschluss des Landgerichts entspricht auch den Anforderungen, die § 267 StPO an die Begründung strafrechtlicher Urteile stellt. Die Strafvollstreckungskammer hat die entscheidungserheblichen Tatsachen und die (tragenden) rechtlichen Erwägungen noch ausreichend dargelegt, sodass diese eine rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ermöglichen.“