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Beweisantrag II: Wahrunterstellung, oder: So geht man damit um

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Die zweite Entscheidung zu § 244 StPO kommt mit dem BGH, Beschl. v. 04.02.2020 – 3 StR 313/19 – auch vom BGH. Es geht noch einmal um die Wahrunterstellung:

Das LG hat den Angeklagten wegen gewerbsmäßiger Hehlerei verurteilt. „Nach den Feststellungen erwarb der Angeklagte, ein Apotheker und Großhändler für Arzneiprodukte, von dem Mitangeklagten C. in fünf Fällen größere Mengen an Blutzuckerteststreifen, insgesamt 2.673 Packungen. Für 2.627 Packungen stellte C. dem Angeklagten einen Einzelpreis von 13,85 € netto in Rechnung, für 46 weitere („Reimporte“) einen solchen von 11,85 € netto. „Allen diesen Lieferungen lagen Teststreifen zugrunde“, die C. betrügerisch erlangt hatte. Entweder hatten seine Komplizen in Ausführung eines gemeinsam mit ihm gefassten Tatplans Vertragsärzte durch Vorspiegelung eines nicht vorhandenen medizinischen Bedarfs dazu veranlasst, Rezepte über Blutzuckerteststreifen auszustellen, die sie sodann in Apotheken kostenfrei eingelöst hatten, oder sie hatten dort entsprechende von C. gefälschte Rezepte vorgelegt, oder er hatte die Ware bei einem Unternehmen unter Angabe einer falschen Identität und Vorspiegelung der Zahlungswilligkeit bestellt. Für den Angeklagten war offenkundig, dass sich C. die Teststreifen durch rechtswidrige Taten verschafft haben könnte. „Wegen der erheblichen Gewinnspanne und der zu erwartenden beträchtlichen Erlöse aus dem Weiterverkauf … schob der Angeklagte … diese Bedenken beiseite“ und „fand sich mit ihnen ab“.

Dagegen die Revision des Angeklagten, mit der beanstandet wird, das LG habe im Rahmen der Beweiswürdigung eine gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 Variante 7 StPO aF als wahr unterstellte Beweistatsache rechtsfehlerhaft missachtet. Der BGH sagt: Mit Recht:

a) Nach dem Revisionsvorbringen beantragte der Angeklagte in der Hauptverhandlung, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Tatsache einzuholen, „dass Blutzuckerteststreifen der (an ihn gelieferten, bestimmt bezeichneten) Marke … über die Internetplattform ebay oder sonstige Auktionsplattformen in Einzelgrößen von je 50 Teststreifen zu einem Preis von unter 14 € je Packung zu erhalten“ seien. Die Strafkammer wies den Antrag gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 Variante 7 StPO aF als unbegründet zurück, weil die behauptete Tatsache so behandelt werden könne, als wäre sie wahr. In dem Beschluss machte sie deutlich, sie gehe entsprechend der Antragsbegründung davon aus, dass es sich bei dem alternativen Bezug der Teststreifen über das Internet um einen Erwerb aus legalen Quellen handele.

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt im Fall der Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung:

Das Tatgericht muss bei der Urteilsfindung die Zusage einlösen, eine bestimmte Behauptung zugunsten des Angeklagten als wahr zu behandeln. Die Urteilsgründe dürfen sich mit einer – bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufen gebliebenen – Wahrunterstellung nicht in Widerspruch setzen. Denn der Angeklagte kann grundsätzlich auf die Einhaltung einer solchen Zusage vertrauen und danach seine Verteidigung einrichten. In diesem berechtigten Vertrauen wird er enttäuscht, wenn das Gericht von der Wahrunterstellung abrückt (s. BGH, Urteil vom 6. Juli 1983 – 2 StR 222/83 , BGHSt 32, 44, 46 f. ; Beschlüsse vom 28. August 2002 – 1 StR 277/02 , NStZ 2003, 101; vom 13. Juni 2017 – 3 StR 48/17 , NStZ 2018, 48; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 317 mwN).

Stehen die Urteilsgründe nicht in Widerspruch zu der als wahr unterstellten Tatsache, so müssen sie sich grundsätzlich nicht explizit zu ihr verhalten. Im Einzelfall kann die in der Wahrunterstellung liegende Zusage es allerdings ausnahmsweise weitergehend gebieten, die Tatsache im Rahmen der Beweiswürdigung ausdrücklich mit zu erwägen. Das ist dann der Fall, wenn sich dies angesichts der im Übrigen gegebenen Beweislage aufdrängt und die Beweiswürdigung sich sonst als lückenhaft erwiese (s. BGH, Urteil vom 21. Februar 1979 – 2 StR 749/78 , BGHSt 28, 310, 311 f. ; Beschlüsse vom 7. November 2000 – 1 StR 303/00 , BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 36 ; vom 16. November 2010 – 4 StR 530/10 , NStZ 2011, 231; vom 2. Juni 2015 – 4 StR 111/15 , juris Rn. 7; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 317 mwN)c) Gemessen an diesen Maßstäben begegnet es durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht die als wahr unterstellte Tatsache – die legale Bezugsquelle für die bezeichneten Blutzuckerteststreifen zu einem Preis von unter 14 € je Packung – nicht in die Beweiswürdigung einbezogen hat. Vielmehr befassen sich die Urteilsgründe mit dieser Tatsache allein im Rahmen der rechtlichen Würdigung unter dem Gesichtspunkt der vom Tatbestand der Hehlerei vorausgesetzten Bereicherungsabsicht……“

Auch nichts Neues, aber wes wird immer wieder falsch gemacht.

Anfängerfehler IV – von der Wahrunterstellung zur Bedeutungslosigkeit

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Das Umgehen mit Beweisanträgen macht den Tatgerichten immer wieder Schwierigkeiten. Das zeigt sich auch in dem dem BGH, Beschl. v.27.03.2012 – 3 StR 31/12 – zugrunde liegenden Verfahren beim Oldenburg. Da hatte die Verteidigung drei Beweisanträge gestellt, die das LG mit einer sog. Wahrunterstellung zurückgewiesen hatte. Im Urteil hat die Strafkammer dann aber ausgeführt, sie halte die Beweisbehauptungen nach Urteilsberatung nunmehr für „unerheblich“. Aus den diesbezüglichen Darlegungen im Urteil ergab sich dann, dass das LG die Beweistatsachen als aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung ohne Bedeutung gewertet hat.

Die Revision hatte Erfolg. Der BGH führt – zur insoweit ständigen Rechtsprechung – aus:

„a) Nach ständiger Rechtsprechung ist das Tatgericht zwar nicht gehalten, die als wahr unterstellte Tatsache noch im Urteil als bedeutsam anzusehen und sie als solche in die Beweiswürdigung einzustellen; es ist daher nicht gehindert, eine zunächst als wahr unterstellte Behauptung im Urteil als aus tat-sächlichen Gründen bedeutungslos zu behandeln (BGH, Urteile vom 15. Mai 1979 – 5 StR 746/78, NStZ 1981, 96; vom 2. November 1982 – 5 StR 308/82, NStZ 1983, 357; vom 24. Januar 2006 – 5 StR 410/05, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 37; Beschlüsse vom 23. Juli 2008 – 5 StR 285/08, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung; vom 24. Februar  9 – 5 StR 605/08, NStZ-RR 2009, 179). Danach soll auch eine Verpflichtung, die Verfahrensbeteiligten vor der Urteilsverkündung auf die geänderte Rechtsauffassung des Gerichts hinzuweisen, grundsätzlich nicht bestehen (aA mit beachtlichen Gründen etwa KK-Fischer, 6. Aufl., § 244 Rn. 187; LR-Becker, StPO, 26. Aufl., § 244 Rn. 310 jeweils mwN). Auf einen dahingehenden Hin-weis darf jedoch bereits nach der bisherigen Rechtsprechung jedenfalls dann nicht verzichtet werden, wenn es naheliegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache im Zusammenhang steht und das – im Gegensatz zu dieser Tatsache – für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung ist (BGH, Beschluss vom 18. Februar 1982 – 2 StR 798/81, BGHSt 30, 383, 385).

b) Ein derartiger Fall liegt hier vor. Der die Beweisanträge im Wege der Wahrunterstellung zurückweisende Beschluss enthält – für sich rechtsfehlerfrei (LR/Becker aaO Rn. 305 mwN) – keine nähere Begründung. Hätte die Strafkammer die gestellten Beweisanträge in der Hauptverhandlung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der vorgebrachten Beweistatsachen zurückgewiesen, hätte sie dagegen deren Bedeutung für die Entscheidung in freier Würdigung des bisherigen Beweisergebnisses zu beurteilen gehabt und diese Würdigung im Ablehnungsbeschluss im Einzelnen darlegen müssen (LR/Becker aaO Rn. 225 mwN). Da sie die Änderung ihrer Beurteilung in der Hauptverhandlung nicht offengelegt hat, hat sie entsprechende Ausführungen erst in den schriftlichen Urteilsgründen nachgeschoben. Die Revision legt plausibel dar, dass sich im vorliegenden Fall aufgrund der bestehenden Beweislage und der in Betracht kommenden weiteren Beweisaufnahme bei Kenntnis der in den Urteilsgründen für die Bedeutungslosigkeit der Beweistatsachen angeführten Gründe weitere Verteidigungsmöglichkeiten ergeben hätten. Diese Möglichkeiten – insbesondere, auf zusätzliche, hier nicht fernliegende Beweiserhebungen anzutragen – war  der Verteidigung aufgrund des Verfahrensablaufes genommen. Die Verfahrensbeteiligten haben auch aus dem weiteren Geschehen in der Hauptverhandlung nicht schließen können, dass sich die Ansicht der Strafkammer geändert hatte; denn eine weitere Beweisaufnahme hat nicht stattgefunden und das Tat-gericht ist ausweislich der Urteilsbegründung erst in der Urteilsberatung zu sei-ner neuen Auffassung gelangt. Unter diesen Umständen war eine effektive, die berechtigten Interessen des Angeklagten wahrende Verteidigung nicht möglich.“

In meinen Augen auch ein (Anfänger)fehler, der einer Strafkammer nicht passieren dürfte.