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Noch einmal: Verbindung und Erstreckungsantrag, oder: Nicht mehr erforderlich, aber empfehlenswert

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Und im zweiten Posting dann eine Entscheidung des LG Osnabrück zu einer Frage, die an sich keine Frage mehr ist bzw. mehr sein sollte. Nämlich die Frage nach dem Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 Satz 1 RVg – also Erstreckung und die Frage: Muss ggf. ausdrücklich erstreckt werden.

Aus dem dazu vorliegenden LG Osnabrück, Beschl. v. 27.12.2023 – 1 Qs 70/23 – ergibt sich folgender Sachverhalt: Die StA führte gegen die Beschuldigte zunächst ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs unter dem Aktenzeichen Az_1 sowie ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Betrugs unter dem Aktenzeichen Az_2. Der Kollege meldete sich mit Schriftsatz vom 05.05.2023 in beiden Verfahren für die Beschuldigte als Verteidiger und beantragte gleichzeitig in beiden Verfahren die Bestellung als Pflichtverteidiger.

Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 10.08.2023 wurden die Verfahren Az_1 und Az_2 verbunden, wobei das Verfahren Az_1 führt. Mit Beschluss des AG vom 15.08.2023 wurde der Beschuldigten in dem Verfahren Az_1 Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger bestellt.

Mit Schriftsatz vom 29.09.2023 beantragte die Beschuldigte, ohne ihren ursprünglichen Beiordnungsantrag ausdrücklich zurückzunehmen, – ggfs. nur deklaratorisch feststellend – die mit Beschluss vom 15.08.2023 erfolgte Pflichtverteidigerbestellung und die Wirkungen dieser Beiordnung auch auf das verbundene Ermittlungsverfahren Az_2 zu erstrecken. Das AG war dann ganz „clever“ und dann den ursprünglichen Antrag der Beschuldigten vom 05.05.2023 auf Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger im Verfahren Az_2 zurückgewiesen, da eine nachträgliche rückwirkende Bestellung für ein mittlerweile zu einem anderen Verfahren hinzuverbundenes Verfahren unzulässig sei. Den Antrag vom 29.09.2023 hat das AG hingegen „übersehen“, also nicht beschieden.

Gegen den Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde der Beschuldigten. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

Die gemäß §§ 304, 311 StPO zulässige, sofortige Beschwerde ist begründet.

„Der beschiedene Antrag vom 05.05.2023 hat sich durch die Verbindung der Sache 320 Js 16679/23 mit dem hiesigen Ermittlungsverfahren erledigt. Einer ausdrücklichen Rücknahme bedurfte es nicht. Die Beschuldigte hat durch die Formulierung ihres Antrags in dem Schriftsatz vom 29.09.2023 hinreichend deutlich gemacht, dass sie nicht länger eine Entscheidung über ihren ursprünglichen Antrag begehrte. Sie hat vielmehr einen an die vollzogene Verbindung der beiden Ermittlungsverfahren angepassten Antrag gemäß § 48 Abs. 6 RVG gestellt.

Gemäß § 48 Abs. 6 S. 1 RVG erhält der beigeordnete Verteidiger die Vergütung auch für seine Tätigkeit vor dem Zeitpunkt seiner Bestellung. Es war lange Zeit umstritten, ob ein anwaltlicher Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in Verfahren, die vor der Beiordnung hinzuverbunden wurden, bereits unmittelbar aus § 48 Abs. 6 S. 1 RVG folgt oder es hierzu eines Gerichtsbeschlusses gemäß § 48 Abs. 6 S. 3 RVG bedurfte (vgl. BeckOK RVG/K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt, 62. Ed. 01.12.2023, RVG § 48 Rn. 128).

Mit der zum 01.01.2021 erfolgten Ergänzung von § 48 Abs. 6 S. 3 RVG mit dem KostRÄG vom 21.12.2020 (BGBl. 1 3229) hat der Gesetzgeber nun klargestellt, dass der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG auf die Fälle der nach der Beiordnung oder Bestellung erfolgten Verfahrensverbindungen beschränkt ist. Damit ist zugleich klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil § 48 Abs. 6 S. 1 StPO unmittelbar gilt (vgl. BeckOK RVG a. a. O. Rn. 129).

So liegt der Fall hier. Denn die Beiordnung erfolgte am 15.08.2023 und somit zeitlich nach der Verfahrensverbindung vom 10.08.2023. Aus anwaltlicher Vorsicht ist ein Antrag auf deklaratorische Feststellung der Erstreckung, wie er hier gestellt worden ist, jedoch zulässig, weil auf diese Weise ein etwaiger Streit im Kostenfestsetzungsverfahren um die Notwendigkeit eines Gerichtsbeschlusses vermieden wird.

Inwieweit dem Verteidiger eine Vergütung der Höhe nach zusteht, muss der Prüfung im Kostenfestsetzungsverfahren vorbehalten bleiben. Denn Voraussetzung dafür, dass der Anwalt neben den Gebühren im führenden Verfahren auch weitere Gebühren für seine Tätigkeiten in dem hinzuverbundenen Verfahren erhalten kann, ist, dass er in dem hinzuverbundenen Verfahren vor der Verbindung tatsächlich tätig geworden ist (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 16.05.2017 — 1 Ws 95/17, BeckRS 2017, 122061 Rn. 20, beck-online).“

Alles richtig gemacht, und zwar sowohl der einsendende Kollege als auch das LG Osnabrück, was da ja nicht unbedingt selbstverständlich ist :-). Denn:

Mit dem KostRÄndG v. 21.12.2020 hat sich ab 01.01.2021 der Streit um die Anwendung und Auslegung von § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG erledigt (s. meine Beiträge u.a. in RVGreport 2020, 402, 403 f.; und in StraFo 2021, 8, 10). Man muss also darauf achten, dass zunächst verbunden wird und dann die Bestellung zum Pflichtverteidiger erfolgt. Dann ist ein besonderer Erstreckungsantrag nicht erforderlich. Etwas anderes gilt in den Fällen, in denen nach der Bestellung erst (hinzu)verbunden wird.

Zutreffend ist auch die Art und Weise des Vorgehens des Kollegen, der auf deklaratorischer Feststellung bestanden hat. Liegt die vor, erspart das ggf. lange und unnütze Diskussionen und Streit mit dem Festsetzungsbeamten im Festsetzungsverfahren.

Und: Zutreffend ist auch der Hinweis des LG darauf, dass die Höhe der dem Rechtsanwalt zustehenden Vergütung erst im Kostenfestsetzungsverfahren geklärt wird. Denn Voraussetzung für das Entstehen der anwaltlichen Gebühren in allen verbundenen Verfahren über § 48 Abs. 6 Satz 1 RVG ist, dass der Rechtsanwalt in den jeweiligen Verfahren auch tätig geworden ist. Es werden keine Gebühren ohne Tätigkeit verdient. Insoweit reichen aber minimale Tätigkeiten für das Entstehen von im Zweifel zumindest Grundgebühr Nr. 4104 VV RVG und Verfahrensgebühr aus. Ausreichend ist insoweit aber schon ein Antrag des Rechtsanwalts im ursprünglichen Verfahren auf Akteneinsicht, aber auch (nur) der Antrag, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen. Damit dürften hier Grundgebühr und Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG auch im Verfahren Az_2 entstanden sein.