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BGH III: Darlegungsmängel bei der Beweiswürdigung, oder: Wenn der wesentliche Inhalt der Einlassung fehlt

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Und als dritte Entscheidung stelle ich den BGH, Beschl. v. 05.12.2023 – 4 StR 421/23 – vor.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs „eines“ Kindes in 37 Fällen, verurteilt.  Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG, die weise zum Tatgeschehen weist durchgreifende Darlegungsmängel auf:

„b) Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Sachverhalt wie folgt begründet: Der Angeklagte habe die Taten so wie festgestellt gestanden. Sein Geständnis sei glaubhaft. Es stehe im Einklang mit der Zeugenaussage der Nebenklägerin. Die Feststellungen zu den Folgen der Taten für die Nebenklägerin seien anhand ihrer eigenen glaubhaften Angaben getroffen worden.

c) Diese Beweiserwägungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.

aa) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2017 – 4 StR 397/16 Rn. 4; Urteil vom 22. November 2016 – 1 StR 329/16 Rn. 18; Urteil vom 12. Februar 2015 – 4 StR 420/14 Rn. 9; jeweils mwN). Dabei verpflichten §§ 261 und 267 StPO den Tatrichter, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19 Rn. 4 mwN). Die wesentlichen Beweiserwägungen müssen daher – über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus – in den schriftlichen Urteilsgründen so dargelegt werden, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (BGH, Urteil vom 30. März 2023 – 4 StR 234/22 Rn. 12; Beschluss vom 22. November 2022 – 2 StR 262/22 Rn. 12; Beschluss vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20).

Die sachlich-rechtliche Begründungspflicht umfasst die Verpflichtung, auch die geständige Einlassung des Angeklagten jedenfalls in ihrem wesentlichen Inhalt wiederzugeben (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2015 – 2 StR 322/15 Rn. 6). Denn ein Geständnis enthebt das Tatgericht nicht seiner Pflicht, es einer kritischen Prüfung auf Plausibilität und Tragfähigkeit hin zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen. Erforderlich ist außerdem, dass das Tatgericht in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegt und begründet, weshalb es das Geständnis für glaubhaft erachtet. Hierbei hängt das Maß der gebotenen Darlegung von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2013 – 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212 Rn. 14). Es steht – wie der weitere Aufklärungsbedarf (§ 244 Abs. 2 StPO) – in einer umgekehrten Wechselbeziehung zu der inhaltlichen Qualität des Geständnisses (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 2 StR 552/19 Rn. 20; Beschluss vom 7. November 2018 – 1 StR 143/18 Rn. 7; Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 Rn. 9 ff.; MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 188 ff.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2023 – 2 BvR 2103/20 Rn. 49 ff.). Bei einem detaillierten Geständnis des Angeklagten können knappe Ausführungen genügen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2003 – 3 StR 368/02 Rn. 21; s. hingegen zum „Formalgeständnis“ etwa BGH, Urteil vom 26. Januar 2006 – 3 StR 415/02 Rn. 3). Decken sich die Angaben des Angeklagten mit sonstigen Beweisergebnissen und stützt der Tatrichter seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit des Geständnisses auch auf diese Beweisergebnisse, so ist er zu deren jedenfalls gedrängter Wiedergabe verpflichtet, da anderenfalls eine revisionsgerichtliche Überprüfung seiner Überzeugungsbildung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2015 – 2 StR 322/15 Rn. 6).

bb) Den sich hieraus ergebenden Darlegungsanforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die Strafkammer teilt schon den wesentlichen Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht mit, von dem die weiteren Anforderungen an die Überzeugungsbildung und deren Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen abhingen. Es bleibt unklar, ob er in eigenen Worten ein detailliertes Geständnis hinsichtlich der insgesamt 132 Taten, begangen im Zeitraum von 2011 bis 2019, abgelegt und Nachfragen beantwortet oder etwa pauschal – ggf. über eine von ihm bestätigte Verteidigererklärung – die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als zutreffend bezeichnet hat. Eine auch nur gedrängte Wiedergabe des Inhalts des Geständnisses ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die zusammenfassende Wertung, der Angeklagte habe die Taten „so wie festgestellt“ gestanden, genügt hierfür nicht. Denn sie lässt den inhaltlichen Gehalt der Einlassung selbst nicht erkennen. Auch eine (nachvollziehbare) Bewertung des Geständnisses für sich genommen enthalten die Urteilsgründe nicht.

An die weitere Überprüfung des Geständnisses sind zwar geringere Anforderungen zu stellen, wenn es mit Angaben des Tatopfers übereinstimmt und das Tatgericht diese Angaben nachvollziehbar für glaubhaft erachtet. Hieran fehlt es aber. Die Urteilsgründe teilen den wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin auch nicht gedrängt mit. Die Glaubhaftigkeit dieser Aussage wird zudem nur pauschal behauptet, vom Landgericht jedoch nicht mit beweiswürdigenden Erwägungen begründet. Dessen Überzeugungsbildung vermag der Senat daher nicht zu überprüfen.

Darüber hinaus lassen die Urteilsgründe nachvollziehbare Erwägungen vermissen, aus welchen Gründen sich die Strafkammer von den Zeitpunkten und der Anzahl der abgeurteilten Taten überzeugt hat. Die Tatzeiten sind dabei mit Blick auf das jeweilige Alter der Geschädigten für die Anwendbarkeit der von der Strafkammer herangezogenen Straftatbestände der § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 und § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB aF entscheidend. Von dem Alter der Nebenklägerin hängt auch der Schuldspruch im Fall 131 der Urteilsgründe ab, in dem das Landgericht neben einer Vergewaltigung tateinheitlich den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern bejaht hat. Zu näheren Beweiserwägungen hierzu musste sich das Landgericht mit Blick auf die Vielzahl und Komplexität der Tatvorwürfe und das naheliegend nur noch eingeschränkte Erinnerungsvermögen des geständigen Angeklagten an Einzelheiten des Tatgeschehens gedrängt sehen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 2 StR 53/22 Rn. 11; Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 Rn. 9 mwN). Nach den Feststellungen beging er eine Vielzahl der abgeurteilten Taten serienhaft und vor langer Zeit. Zusätzlich überlagerten sich verschiedene sexuelle Handlungen (Berührungen, Oralverkehr) in zeitlicher Hinsicht. Ist – wie hier – eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingegrenzt hat und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten in diesem Zeitraum gründet (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 2022 – 3 StR 74/21 Rn. 13; Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 166/01 Rn. 7). Hieran fehlt es. Das Landgericht hätte näher darlegen müssen, aufgrund welcher Beweisumstände es von den festgestellten Tatzeiträumen und der in den Fällen 1-93 und 95-130 abgeurteilten Mindestanzahl von Taten überzeugt war. Zugleich hätte die Strafkammer auf diesem Hintergrund ihre Beweiserwägungen darstellen müssen, die die Einbettung der Einzelfälle 94, 131 und 132 in das Gesamtgeschehen und damit das hier jeweils festgestellte Alter der Nebenklägerin tragen.“

Ich verstehe es nicht. Wenn ich schon lese: „Die Strafkammer teilt schon den wesentlichen Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht mit, von dem die weiteren Anforderungen an die Überzeugungsbildung und deren Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen abhingen.“ Und das bei einer großen Strafkammer. Da sollte man doch davon ausgehen können, dass zumindest der Vorsitzende weiß, wie man eine vernünftige Beweiswürdigung macht. Offenbar ist das aber nicht der Fall. Zumindest hier nicht…..

BGH II: Beweisantrag nach Ablauf einer gesetzten Frist, oder: Fristsetzung muss nicht begründet werden

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Und dann die zweite Entscheidung, der BGH, Besch. v. 10.01.2024 – 6 StR 276/23 – zu der (neuen) Vorschrift des § 244 Abs. 6 Satz 3 SzPO, also Fristsetzung zur Stellung eines Beweisantrages.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem mehreren Angeklagten Diebstahl vorgeworfen worden ist. Zwei der Angeklagten haben ihre Revisonen gegen ihre Verurteilungen auch mit der Verfahrensrüge begründet und zu deren Begründung folgendes Verfahrensgeschehen beanstandet:

Der Vorsit­zende der Strafkammer hatte am 11. Hauptverhandlungstag den Verfahrensbeteiligten eine Frist bis 11.07.2022 gesetzt, um Beweisanträge zu stellen. Diese Anordnung wurde auf Initiative der Verteidigung mehrfach verlängert. Am 15. Hauptverhandlungstag, an welchem diese Frist ablief, beantragte der Verteidiger des einen Angeklagten, ein Sachverständigengutach­ten einzuholen.

Die Strafkammer lehnte den Antrag am 04.10.2022 (16. Hauptverhand­lungstag) ab. Nach Ablauf der vom Vorsitzenden gesetzten Frist stellte der Verteidiger dieses Angeklagten am 17. Hauptverhandlungstag drei Beweisanträge. Am folgenden Sitzungstag gab der Vorsitzende bekannt, dass die Straf­kammer diese Anträge erst im Urteil bescheiden werde. Dies beanstandete der Verteidiger des Angeklagten. Die Strafkammer wies die Beanstandung zurück und lehnte die Anträge in den schriftlichen Urteilsgründen wegen Bedeutungslosigkeit ab. Die Revisionen der Angeklagten blieben hinsichtlich dieses Verfahrensgeschehens erfolglos:

„3. Die Strafkammer hat durch die Bescheidung der drei nach Fristablauf gestellten Anträge in den Urteilsgründen § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO nicht verletzt.

a) Der Vorsitzende hat die Frist nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO wirksam gesetzt. Hierfür war – entgegen dem Revisionsvorbringen – der konkrete Verdacht einer Verschleppungsabsicht nicht erforderlich. Der Senat schließt sich der Ansicht und Begründung des 3. Strafsenats an (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22, Rn. 18 ff. mwN).

b) Der Beschwerdeführer beanstandet zudem ohne Erfolg, dass der Vorsitzende seine Anordnung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO nicht begründet hat.

aa) Bei der Fristbestimmung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO handelt es sich um eine Prozesshandlung des Vorsitzenden in Ausübung seiner Sachleitungsbefugnis (§ 238 Abs. 1 StPO), für die weder Gesetzeswortlaut noch systematische Erwägungen eine Begründung verlangen. Anderes folgt auch nicht aus § 34 StPO, weil die Anordnung nicht mit einem Rechtsmittel anfechtbar ist. Schließlich ergibt die Entstehungsgeschichte der Norm keine Anhaltspunkte für eine Begründungspflicht. Die Regelungen des § 244 Abs. 6 Sätze 3 bis 5 StPO wurden mit dem Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I S. 3202) – damals als Sätze 2 bis 4 – geschaffen. Der zugrundeliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. 18/11277) enthält keine Ausführungen zu einem etwaigen Begründungserfordernis. Im Gegenteil lässt sich dem Reformgesetz die Bestrebung entnehmen, dem Vorsitzenden nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme die Bestimmung einer Frist für die Stellung weiterer Beweisanträge gerade zum Zwecke einer effizienten Verfahrensführung zu ermöglichen. Eine in jedem Fall notwendige Begründung liefe der erstrebten zügigen Verfahrensweise zuwider.

bb) Diese Auslegung korrespondiert mit der Tatsache, dass die Fristbestimmung an keine begründungsbedürftigen prozessualen Voraussetzungen oder Anlässe, etwa Anhaltspunkte für Verfahrensverschleppung, geknüpft ist (vgl. MüKo-StPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 244 Rn. 185j; aA LR/Becker, aaO, § 244 Rn. 359i; Krehl in FS Fischer, 2018, S. 705, 708; Schneider, NStZ 2019, 489, 493). Schließlich sind Ausführungen dazu, dass im Zeitpunkt der Anordnung die von Amts wegen vorgesehenen Beweiserhebungen abgeschlossen sind, ebenfalls nicht veranlasst. Denn die Fristsetzung ist erst ab diesem Verfahrensstand möglich. Mit ihr kommt stets zugleich zum Ausdruck, dass aus Sicht des Vorsitzenden der Amtsaufklärungspflicht genügt worden ist (vgl. Schneider, aaO, 492).

cc) Dies entspricht im Übrigen den für sitzungsleitende Anordnungen allgemein geltenden rechtlichen Maßgaben (§ 238 Abs. 1 StPO). Bei diesen werden Vorsitzenden vielfach Freiräume in der Gestaltung zugebilligt (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 1996 – 4 StR 737/95, BGHSt 42, 73), deren Nutzung im Interesse einer straffen Durchführung der Hauptverhandlung grundsätzlich nicht schriftlich zu begründen ist.

dd) Vor diesem Hintergrund ist eine Begründung auch aus Fairnessgründen nicht geboten. Die Verfahrensbeteiligten können mittels des Zwischenrechtsbehelfs gemäß § 238 Abs. 2 StPO jederzeit eine gerichtliche Überprüfung erwirken, die im Falle der Bestätigung der Anordnung zu begründen ist. Anders als etwa bei der Zurückweisung von Fragen nach § 241 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Mai 1975 – 5 StR 204/75, MDR 1975, 726; vom 6. März 1990 – 5 StR 71/90, BGHR StPO § 241 Abs. 2 Zurückweisung 3; LR/Becker, aaO, § 241 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 241 Rn. 17; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 241 Rn. 14), kann sich insbesondere der verteidigte Angeklagte bei § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO überdies auch ohne Begründung auf die neue Prozesslage einstellen.

ee) Aus denselben Erwägungen muss schließlich auch die Dauer der bestimmten Frist regelmäßig nicht begründet werden (aA Schlothauer, FS Fischer, 2018, S. 819, 826). Dies gilt erst recht, wenn sich diese erkennbar an der Frist des § 217 StPO oder aber, im Ausnahmefall, an der gesetzlichen Höchstdauer einer Unterbrechung nach § 229 Abs. 1 StPO orientiert.

c) Die Beschwerdeführer dringen auch mit der weiteren Beanstandung nicht durch, sie seien bei der Bestimmung der Frist nicht auf die Rechtsfolgen einer nach Fristablauf erfolgten Antragstellung hingewiesen worden. Eine Hinweis- oder gar Belehrungspflicht liegt schon mit Blick auf hierfür fehlende Anhaltspunkte in Wortlaut und Systematik der Vorschrift fern. Sie ist jedenfalls beim verteidigten Angeklagten nicht geboten. Der rechtskundige Verteidiger wird – wie hier – die entsprechende Sachleitungsverfügung des Vorsitzenden kritisch am Gesetzeswortlaut überprüfen und sie gegebenenfalls beanstanden (§ 238 Abs. 2 StPO; vgl. Basdorf, StV 1997, 489, 490; Ventzke, NStZ 2005, 396). Abgesehen davon hat der Vorsitzende den Angeklagten vor Schluss der Beweisaufnahme (§ 258 Abs. 1 Satz 1 StPO) die gerichtliche Entscheidung mitgeteilt, dass die drei nach Fristablauf gestellten Beweisanträge im Urteil beschieden werden würden.

d) Es bedarf keiner Entscheidung, ob die von Amts wegen vorgesehene Beweisaufnahme (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO) im Zeitpunkt der Fristbestimmung abgeschlossen war, weil dies nicht beanstandet wurde. Eingedenk der im Übrigen präzise bezeichneten Verfahrensbeanstandungen und des insoweit vollständigen Vortrags der rügebegründenden Tatsachen schließt der Senat aus, dass die Beschwerdeführer auch eine Rüge mit der bezeichneten Angriffsrichtung erheben wollten. Ihm wäre im Übrigen eine dahingehende Prüfung deshalb unmöglich, weil nicht mit der notwendigen Bestimmtheit (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) ausgeführt wird, dass die Beweisaufnahme zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich nicht abgeschlossen gewesen wäre. Unabhängig davon könnte der Senat der überwiegenden Ansicht im Schrifttum nicht beitreten, die dafür auch die Bescheidung sämtlicher gestellter Beweisanträge als notwendig ansieht (vgl. BeckOK-StPO/Bachler, 49. Ed., § 244 Rn. 30; LR/Becker, aaO, § 244 Rn. 358g; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO, 9244 Rn. 185i; KK-StPO/Krehl, aaO, § 244 Rn. 87b; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 95b; Mosbacher, NStZ 2018, 9, 10; Schneider, aaO, 493).

aa) Bereits der Gesetzeswortlaut gibt Anlass zu einer zumindest differenzierten Sichtweise. Anders als bei § 258 Abs. 1 StPO (vgl. Schlothauer, aaO, S. 823) ist nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO der Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme maßgeblich. Damit ist gesetzlich ein tragfähiger Anhalt dafür gegeben, hierfür allein den durch § 244 Abs. 2 StPO verlangten gerichtlichen Beweis zu verstehen. Verdeutlicht wird dies überdies durch das Partizip „vorgesehen“; hierdurch wird die Erledigung des durch den Vorsitzenden bereits zu Beginn des Hauptverfahrens (vgl. § 214 Abs. 1 und 2, §§ 221, 222 StPO) geplanten und strukturierten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96, 99), oder aber in späterer Prozesslage modifizierten Beweisprogramms (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22 Rn. 9; Krehl in FS Fischer, 2018, S. 705, 708; Schlothauer, aaO, S. 824; Schneider, aaO, 491) in Bezug genommen.

bb) Dieses restriktive Begriffsverständnis wird durch das Ergebnis einer gesetzessystematischen Betrachtung bestätigt. Im Anschluss an § 243 StPO regelt § 244 Abs. 1 StPO den weiteren Ablauf der Hauptverhandlung, in der das Gericht – in den Grenzen des § 244 Abs. 2 StPO – mit den zulässigen Beweismitteln des Strengbeweises die tatsächlichen Grundlagen seiner Entscheidung schafft. Hingegen behandelt § 244 Abs. 3 bis 5 StPO, auf welche Art und Weise und in welchem Umfang die Verfahrensbeteiligten auf das gerichtliche Beweisprogramm Einfluss nehmen und einen geltend gemachten Beweiserhebungsanspruch durchsetzen können. Ein Antrag nach § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO kann als Prozesserklärung eines Verfahrensbeteiligten eine Beweiserhebung über das vom Gericht für erforderlich und ausreichend Gehaltene (§ 244 Abs. 2 StPO) hinaus erzwingen. Der noch nicht beschiedene oder abgelehnte Antrag selbst ist allerdings weder in formeller noch in materieller Hinsicht Teil der Beweisaufnahme.

cc) Für dieses Verständnis der Norm sprechen auch ihr Sinn und Zweck. Bei der teleologischen Auslegung ist zu berücksichtigen, dass die Fristsetzung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO dem Tatgericht ermöglichen soll, nach Durchführung der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme den Abschluss des Verfahrens zügig herbeizuführen (vgl. BT-Drucks. 18/11277 S. 34; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22 Rn. 33). Dieser Zweck würde konterkariert, wenn die Verfahrensbeteiligten die Fristbestimmung durch sukzessives Anbringen von Beweisanträgen (vgl. Niemöller, JR 2010, 332; Tully, ZRP 2014, 45, 46) vereiteln könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22 Rn. 27, 33). Dass diese Besorgnis eines verzögerten Verfahrensabschlusses in einer vorangerückten Prozesslage nicht etwa fernliegt, vermag der Senat auch den hier von der Revision mitgeteilten Tatsachen zu entnehmen. In ihrem Beschluss vom 29. Juli 2022 stellte die Strafkammer dar, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers S.          auf Nachfrage angegeben habe, „er könnte bereits vorbereitete Beweisanträge stellen, werde dies aber ggf. auch erst später tun“.

e) Das Landgericht ist schließlich auch ohne Rechtsfehler zu der Auffassung gelangt, dass eine fristgerechte Antragstellung nicht gemäß § 244 Abs. 6 Satz 4 Halbsatz 2 StPO unmöglich war.

aa) Stellt ein Verfahrensbeteiligter nach Fristablauf einen Beweisantrag, sind mit diesem die Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, welche die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben (§ 244 Abs. 6 Satz 5 StPO).

bb) Dem wird der in den Beweisanträgen enthaltene Tatsachenvortrag nicht gerecht.

(1) Die Beschwerdeführer machen geltend, dass mit den drei verspäteten Beweisanträgen auf den Beschluss vom 4. Oktober 2022 reagiert worden sei, mit dem der – vor Fristablauf gestellte – Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens abgelehnt worden war. Erst die Begründung des Ablehnungsbeschlusses habe sie in die Lage versetzt, Beweisanträge im Hinblick auf die Konkretisierung des Tatzeitraums, des genauen Standortes des Lkw sowie zu den örtlichen Begebenheiten zu stellen.

(2) Der damit allein vorgetragene Hinweis auf die Begründung des Ablehnungsbeschlusses (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) erweist sich zum Beleg der Unmöglichkeit einer Antragstellung vor Fristablauf als unzureichend.

Es bleibt schon offen, warum die Beschwerdeführer nicht bereits mit dem fristgerecht gestellten Beweisantrag die Anknüpfungstatsachen für das Sachverständigengutachten entweder – als Ergebnis eigener Nachforschungen – mitgeteilt oder aber unter Beweis gestellt haben. Dass die nunmehr vorgebrachten Tatsachen für die begehrte Tatrekonstruktion von Bedeutung sein würden, lag bereits im Zeitpunkt der Antragstellung auf der Hand.

Im Übrigen ist die hiesige Konstellation entgegen dem Revisionsvorbringen auch mit einem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme (vgl. BT-Drucks. 18/11277 S. 35; BVerfG, StV 2020, 805; BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96, 97, 102; BeckOK-StPO/Bachler, aaO, § 244 Rn. 30; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO, 9244 Rn. 185y mwN) nicht vergleichbar. Die Strafkammer hat mit ihrem Ablehnungsbeschluss nach § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO lediglich eine durch Prozesserklärung der Beschwerdeführer erwirkte Entscheidung getroffen. Der durch den fristgerecht gestellten Antrag ausgelösten Begründungspflicht (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) hat die Strafkammer entsprochen, nicht aber dadurch die Frist nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO nachträglich teilweise desavouiert. Dem vom Beschwerdeführer im Kern geltend gemachten Anspruch auf die Fortführung des „formalisierten Dialogs“ steht die wirksam gesetzte Frist des Vorsitzenden gerade entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96, Rn. 16).

(3) Soweit das Revisionsvorbringen überdies auf eine den Beweisanträgen an einem der folgenden Sitzungstage im Rahmen einer unstatthaften Beanstandung (§ 238 Abs. 2 StPO; vgl. aber auch BVerfG, aaO) nachgeschobene Erklärung Bezug nimmt, durfte die Strafkammer deren Inhalt unberücksichtigt lassen, weil diese Tatsachen nicht zugleich mit den Beweisanträgen, sondern verspätet vorgebracht wurden (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO). Bereits der Gesetzeswortlaut legt nahe, dass ein Nachschieben von Gründen im Rahmen des § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO nicht zulässig ist (vgl. zu den anderslautenden Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO LR/Stuckenberg, aaO, § 244 Rn. 359r; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 98; Mosbacher, NStZ 2018, 9, 12; Schneider, NStZ 2019, aaO, 500).

Ungeachtet dessen war dieses Vorbringen auch in der Sache ungeeignet, die Unmöglichkeit der Fristeinhaltung zu belegen. Zum einen wird damit kein tragfähiger prozessualer Anlass für die Unmöglichkeit einer fristgerechten Antragstellung vorgebracht; insbesondere begründete die vom Landgericht in seinem Ablehnungsbeschluss erwähnte Möglichkeit eines auch im Fall II.2 eingesetzten weiteren Lkw keine Hinweispflicht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. August 2022 – 5 StR 153/22 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 97; nachstehend 5.). Zum anderen zielen die drei Beweisbegehren nicht auf diesen Umstand ab, sondern auf das Verschaffen weiterer, von der Anzahl eingesetzter Fahrzeuge unabhängiger Beweistatsachen.

f) Durch dieses Ergebnis wird der Anspruch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren nicht verletzt (vgl. zu etwaigen Bedenken BverfG, StV 2020, 805). Den Verfahrensbeteiligten wird durch die Fristsetzung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO die Möglichkeit nicht genommen, Beweisanträge zu stellen, über die das Gericht befinden muss. Beschränkt wird allein der Anspruch, etwaige Ablehnungsgründe noch vor Abschluss der Beweisaufnahme zu erfahren. Vor dieser Begrenzung erhalten die Beteiligten angesichts der Fristsetzung Gelegenheit, in der Hauptverhandlung zu bescheidende Beweisanträge zu stellen. Machen sie hiervon nicht Gebrauch, liegt dies in ihrem Verantwortungsbereich. Ergibt sich allerdings aus erneuten Beweiserhebungen oder gerichtlichen Hinweisen nach Fristablauf das Bedürfnis weiterer Beweisanträge, ist gewährleistet, dass darüber wie sonst auch noch während der Hauptverhandlung befunden wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96 Rn. 23; vom 30. August 2022 – 5 StR 153/22 Rn. 5).

4. Die Verfahrensrügen, mit denen die Ablehnung der drei nach Fristablauf gestellten Beweisanträge in den Urteilsgründen als bedeutungslos beanstandet wird (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), bleiben – auch aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts – ebenfalls ohne Erfolg. Das Landgericht hat sämtliche Beweisanträge rechtsfehlerfrei beschieden.

BGH I: Hat die Hauptverhandlung schon begonnen?, oder: Wer ist „gesetzlicher Richter“?

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Ich stelle heute drei BGH-Entscheidungen vor. Die beiden ersten sind zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt.

Hier dann zunächst das BGH, Urt. v. 17.01.2024 – 2 StR 459/22 – zum Begriff des Beginns der Hauptverhandlung und zum gesetzlichen Richter.

Der Angeklagte ist vom LG wegen eines Verstoßes gegen das BtMG verurteilt worden. Dagegen die Revision des Angeklagten, mit der Verfahrensrüge und Sachrüge erhoben hat. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Bei der Verfahrensrüge ging es um folgendes Verfahrensgeschehen: Der Vorsitzende der Strafkammer hatte den mit den Verfahrensbeteiligten abgesprochenen Beginn der Hauptverhandlung auf den 08.04.2022 und weiteren Fortsetzungstermine festgesetzt. Da der 08.04.2022 kein regulärer Sitzungstag der Strafkammer war, wurden ihr die Ersatzschöf­fen D und B zugewiesen. Die Gerichtsbesetzung wurde den Be­teiligten mit Verfügung vom 31.03.2022 mitgeteilt.

Der Verteidiger eines Mit­angeklagten teilte dem Vorsitzenden am 05.04.2022 mit, sein Mandant sei mittels PCR-Test positiv auf das Coronavirus getestet wor­den; eine Vorführung könne deshalb nicht erfolgen. Der Vorsitzende benachrichtigte die Verfahrensbeteiligten per E-Mail da­raufhin, dass die Sache dennoch aufgerufen werden solle; ggf. könne ein Rechtsgespräch geführt werden.

Am 08.04.2022 rief der Vorsitzende dann die Sache auf. Als Schöffen wirkten die ehrenamtlichen Richter D und B mit. Der Vorsitzende gab nach der Bestellung von Pflichtverteidigern be­kannt, dass das Verfahren nicht abgetrennt, sondern abgewartet werden solle, wie die COVID-19-Erkrankung ver­laufe. Die Hauptverhandlung wurde sodann bis zur Fortsetzung am 26.04.2022 unterbrochen. Im Anschluss führte die Strafkammer einschließlich der Schöffen außer­halb der Hauptverhandlung mit den weiteren Verfahrensbeteiligten ein nichtöf­fentliches Rechtsgespräch. Am 26.04.2022 rief der Vorsitzende die Sache in unveränderter Besetzung auf und setzte die Verhandlung fort. Einen förmlichen Einwand gegen die Gerichtsbesetzung oder das Vorgehen des Vorsitzenden er­hob keiner der Verfahrensbeteiligten. Die Revision des Angeklagten beanstandet, die Hauptverhandlung habe erst am 26.04. 2022 begonnen. Deshalb hätten auch die für diesen Tag  als ordentlichen Sitzungstag der Strafkammer bestimmten Schöf­fen Z  und Bä am Urteil mitwirken müssen.

Ich stelle hier nur die Leitsätze des BGH ein. Wegen der Einzelheiten der doch recht umfangreichen Begründung verweise ich auf den verlinkten Volltext:

    1. Die Hauptverhandlung beginnt gemäß § 243 Abs. 1 Satz 1 StPO mit demAufruf der Sache; damit sind die für diesen Sitzungstag bestimmten Schöffen zur Verhandlung und Entscheidung in der Sache berufen.
    2. Das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann durch den Aufruf der Sache im Einzelfall verletzt werden, wenn sich der Vorsitzende dafür mit missbräuchlichen Erwägungen entscheidet.

Missbrauch hat der BGH hier im Übrigen verneint.

Strafantrag I: Schriftform als Wirksamkeitserfordernis, oder: Online-Strafanzeige

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Und dann auf die 16. KW., allerdings womit 🙂 ?. Ich habe im Moment kein „Klima“, kein „beA“. Also gibt es StPO – das geht immer 🙂 -, und daraus zwei Entscheidungen zum Thema Strafantrag, und zwar einmal vom BGH und einmal vom KG.

Hier zunächst der BGH, Beschl. v. 21.11.2023 – 4 StR 72/23 -, also schon etwas älter und inzwsichen auch schon veröffentlicht. Aber dennoch..

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Übergriff verurteilt. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die teilweise Erfolg hatte. Der BGH hat das Urteil in drei Fällen der Verurteilung aufgehoben und eingestellt:

„In den Fällen II.5, II.7 und II.8 der Urteilsgründe war das Urteil aufzuheben und das Verfahren gemäß § 206a StPO einzustellen, weil der Verurteilung wegen Verleumdung in drei Fällen gemäß § 187 StGB ein Verfahrenshindernis entgegensteht. Es fehlt an dem nach § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 158 Abs. 2 StPO erforderlichen schriftlichen Strafantrag der Verletzten.

1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Am 8. Juli 2021 erstattete die Zeugin G. online auf dem Portal des Polizeipräsidiums Anzeige und schilderte, dass ein ihr unbekannter Mann am Vortag an ihrer Arbeitsstelle, in der Personalabteilung und in einer anderen Filiale ihres Arbeitgebers angerufen und behauptet habe, die Zeugin habe seinen Sohn sexuell belästigt und missbraucht. Zur Vorgeschichte schildert die Zeugin in der Online-Anzeige, dass dieser Mann ihre Cousine zwei Monate zuvor auf Snapchat kontaktiert und sie aufgefordert habe, ihr Trikot hochzuheben. Nach dem Telefonat habe sie den Mann aufgefordert damit aufzuhören und mit dem Gang zur Polizei gedroht. In der Folge wurde die Zeugin am 27. August 2021 in dem daraufhin eingeleiteten Verfahren wegen versuchten sexuellen Missbrauchs zum Nachteil ihrer Cousine polizeilich vernommen. Dabei machte sie auch Angaben zu der Verleumdung an ihrer Arbeitsstelle, die Anlass für ihre Anzeige war. Das Vernehmungsprotokoll wurde von der Zeugin unterschrieben. In dem weiteren Ermittlungsverfahren wegen Verleumdung zu ihrem Nachteil erschien die Zeugin dann nicht mehr zur Vernehmung.

2. Damit ist dem sich aus § 158 Abs. 2 StPO ergebenden Schriftformerfordernis für einen Strafantrag nicht genügt.

a) § 158 Abs. 2 StPO verlangt grundsätzlich die Unterschrift des Antragsstellers (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – 4 StR 168/20 Rn. 6 mwN). Dazu kann auch ein unterschriebenes Vernehmungsprotokoll ausreichen, sofern dadurch der Verfolgungswille unmissverständlich und schriftlich zum Ausdruck gebracht wird (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 1995 – 2 StR 462/94 Rn. 6). Für eine vergleichbare zweckorientierte Abschwächung des Formerfordernisses, wie sie für die Einreichung in Papierform anerkannt ist, lässt die für die Einreichung elektronischer Dokumente allein maßgebliche Vorschrift des § 32a StPO keinen Raum (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Mai 2022 – 5 StR 398/21, BGHSt 67, 69 Rn. 9).

b) Daran gemessen genügen weder die online auf dem Portal des Polizeipräsidiums erstattete Anzeige noch das unterschriebene Vernehmungsprotokoll den Formerfordernissen eines Strafantrags.

Die Anzeige, die die Geschädigte am 8. Juli 2021 online auf dem Portal des Polizeipräsidiums erstattet hat, enthält keine Unterschrift. Auch das unterschriebene Vernehmungsprotokoll genügt den Anforderungen nicht, denn ein unmissverständlicher Verfolgungswille hinsichtlich des Antragsdelikts der Verleumdung lässt sich dem Protokoll nicht entnehmen. Soweit sich die Zeugin bei dieser Vernehmung zu den Verleumdungen äußert, beschreibt sie lediglich den Grund für ihre Anzeige; dass sie aber auch hinsichtlich dieser Delikte zu ihrem Nachteil eine Strafverfolgung erstrebt, ergibt sich daraus nicht.“

Die richtige Form des Strafantrages ist ja derzeit ggf. noch ein Verteidigungsansatz. Durch das „Gesetz zur weiteren Digitalisierung der Justiz“  sind aber Änderungen beim Schriftformerfordernis betreffend den Strafantrag geplant. Ich habe darüber berichtet. Das macht es demnächst ggf. schwieriger.

StGB II: Hat der Angeklagte „heimtückisch“ gehandelt?, oder: Überraschen in einer hilflosen Lage

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Und dann als zweite Entscheidung des Tages das BGH, Urt. v. 01.02.2024 – 4 StR 287/23 – zum Mordmerkmal „Heimtücke“.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die sich u.a. gegen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke wendet. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Feststellungen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Zusammengefasst geht es um die Geschehnisse in Zusammenhang mit einem Cannabisankauf. Der Angeklagte war wegen des Ankaufs von dem Geschädigten angesprochen worden. Diese hatte ihn gebeten, ihm ein Gramm Cannabis zu verkaufen. Der Angeklagte sagte die spätere Lieferung des Rauschgifts durch einen Dritten zu. Der Geschädigte, der das Cannabis sofort konsumieren wollte und die Reaktion des Angeklagten als überheblich empfand, geriet in Wut. Es entwickelte sich ein auch handgreiflicher Streit, der damit endete, dass der Geschädigte In dem Bewusstsein, aus dem inzwischen von Passanten beobachteten „Kräftemessen“ mit dem Angeklagten als Sieger hervorgegangen zu sein, erklärte, der Angeklagte sei schon immer ein räudiger Hund gewesen und werde dies auch bleiben; dabei trat er abschließend demonstrativ die geöffnete Fahrertür mit dem Fuß zu, wandte sich um und entfernte sich.

Der Angeklagte folgte dem Geschädigten mit seinem Pkw. Dieses sah das. Er  hielt es für möglich, dass der Angeklagte ihm mit dem Fahrzeug folgen könnte, um ihn zur Rede zu stellen oder ihm Angst einzujagen. Da er sich nicht einschüchtern lassen und keine Blöße zeigen wollte, setzte seinen Weg fort; mit einer körperlichen Auseinandersetzung oder gar dem Einsatz des Kraftfahrzeugs als Waffe rechnete er aber nicht.

Der Angeklagte gab dann Vollgas und beschleunigte sein Fahrzeug massiv mit dem Ziel, den Geschädigten auf dem Gehweg mit einer möglichst hohen Geschwindigkeit zu erfassen. Dabei rechnete er damit, den Geschädigten durch die Wucht des Aufpralls tödlich zu verletzen; er fand sich jedoch angesichts der vorangegangenen Kränkung mit einem tödlichen Ausgang ab. In diesem Zusammenhang nahm er auch wahr, dass der Geschädigte den Gehweg in seiner Fahrtrichtung beschritt, ihm den Rücken zuwandte und keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Diese Situation nutzte der Angeklagte bewusst aus, um den Geschädigten von hinten zu überfahren. Er lenkte sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h gezielt nach rechts auf den Gehweg. Tatplangemäß erfasste der Angeklagte den Geschädigten dort mit der vorderen rechten Motorhaube im Bereich der rechten Körperpartie rückseitig. Der Geschädigte wurde durch den Aufprall erheblich verletzt. Der Angeklagte nahm an, ihn getötet zu haben, lenkte sein Fahrzeug auf die Straße zurück und floh.

Das Schwurgericht hat die Tat ‒ auch ‒ als versuchten Mord im Sinne der § 211 Abs. 2, §§ 22, 23 StGB gewertet. Es ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz und unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten handelte. Der BGh hat das „gehalten“.

„Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Das Urteil weist weder zum Schuld- noch zum Straf- oder Maßregelausspruch einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:

1. Die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB.

a) Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365; Beschluss vom 10. Januar 1989 ‒ 1 StR 732/88, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 7). Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Opfer aber gleichwohl in der Tatsituation nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 2005 ‒ 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691; Urteil vom 12. Februar 2003 ‒ 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207, 210; siehe auch BGH, Urteil vom 30. August 2012 ‒ 4 StR 84/12, NStZ 2013, 337, 338 mwN). Entscheidend ist auch hier, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn zumindest zu erschweren (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 30. März 2023 ‒ 4 StR 234/22, NStZ-RR 2023, 245, 246; Urteil vom 4. Februar 2021 − 4 StR 403/20, NStZ 2023, 232, 234; Urteil vom 20. Oktober 1993 – 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 368 f.; Urteil vom 26. November 1986 – 3 StR 372/86, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 mwN). Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2023 – 1 StR 104/23; Urteil vom 16. August 2005 – 4 StR 168/05, NStZ 2006, 167, 169; Urteil vom 4. Juni 1991 – 5 StR 122/91, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 15 mwN). Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist schließlich, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365; Urteil vom 23. Juli 2020 ‒ 3 StR 77/20 Rn. 9).

b) Gemessen hieran ist heimtückisches Handeln des Angeklagten festgestellt und tragfähig belegt.

aa) Zwar ging dem Tatgeschehen eine verbal und körperlich geführte Auseinandersetzung voraus; im Rahmen dieser Auseinandersetzung verhielt sich der Angeklagte aber zurückhaltend, passiv und ängstlich. Der Geschädigte erwartete nach der aus seiner Sicht beendeten Auseinandersetzung keinen erheblichen Angriff gegen seine körperliche Integrität, sondern rechnete allenfalls damit, dass der ihm körperlich unterlegene Angeklagte ihn angesichts seines vorangegangenen Verhaltens zur Rede stellen oder ihm „Angst einjagen“ könne. Den Urteilsfeststellungen ist daher mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, dass das Tatopfer nicht mit einem Angriff auf sein Leben oder mit einem erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnete. Dass es sich unmittelbar vor der Kollision umwandte und den Angriff daher in letzter Minute wahrnahm, stellt ‒ worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat ‒ seine Arglosigkeit nicht in Frage, weil die verbleibende Zeitspanne zu kurz war, um der nunmehr erkannten Gefahr zu begegnen.

bb) Die Feststellungen sind auch tragfähig belegt. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang rechtsfehlerfrei darauf abgestellt, dass der Geschädigte dem Angeklagten den Rücken zuwandte und seinen Weg unbeirrt fortsetzte, ohne die Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen. Einen rechtlich erheblichen Erörterungsmangel (zum revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstab vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2023 ‒ 4 StR 234/22, NStZ-RR 2023, 245, 246) zeigt die Revision nicht auf. Die tatgerichtlichen Schlussfolgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein.

cc) Auch die Annahme eines Ausnutzungsbewusstseins beruht auf einer tragfähigen Beweisgrundlage. Dabei hat das Landgericht neben der anschaulichen Höchstgefährlichkeit der Angriffsweise auch die Umstände, die indiziell gegen ein Ausnutzungsbewusstsein sprechen können (vorangegangene Auseinandersetzung, spontaner Tatentschluss, Erregung und Wut des Angeklagten), ausdrücklich in den Blick genommen. Seine Überzeugung beruht auf einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen und ist daher rechtsfehlerfrei.