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StGB I: Vorsatz/Begriff der sexuellen Handlung, oder: Führt die Gesamtbetrachtung zu einem Sexualbezug?

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Nach den vielen OWi-Entscheidungen an den letzten Tagen setze ich heute mit materiellem Recht fort, also StGB. Ich beginne mit dem BGH, Urt. v. 05.05.2022 – 3 StR 481/21 – zur Frage der „sexuellen Handlung“.

Das LG hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen verurteilt. Das LG hatte folgende Feststellungen getroffen:

„1. Der Angeklagte lebte seit dem Jahr 2014 mit seiner Ehefrau und deren Sohn, dem am 2. Februar 2012 geborenen L. , in häuslicher Gemeinschaft. Er war in dessen Erziehung in gleicher Weise eingebunden wie in diejenige der weiteren gemeinsamen Kinder. Anlässlich häufiger Besuche der gesamten Familie des Angeklagten auf dem Hausgrundstück seines Vaters, welches über ein Schwimmbecken verfügte, tobten der Angeklagte und der – dabei des Öfteren unbekleidete – L. im Wasser herum. Hierbei übertrieb der Angeklagte regelmäßig das Untertauchen des Jungen, so dass dieser wegen Luftmangels schrie und laut weinte. Auch zu anderen Gelegenheiten schikanierte der Angeklagte den L. , etwa indem er das Einsteigen des Kindes in das Kraftfahrzeug durch gezieltes Anfahren behinderte.

An einem solchen Besuchstag im Sommer 2019 kam es unter Anwesenheit der gesamten Familie des Angeklagten und weiterer Verwandter im Anschluss an ein Bad des L. im Schwimmbecken dazu, dass dieser unbekleidet im Garten herumlief. Der Angeklagte verfolgte das Kind und spritzte es mit einem handelsüblichen Wasserschlauch ohne Aufsatz nass. Er packte den sich wehrenden Jungen und legte ihn bäuchlings über seine Knie, drückte das Schlauchende zwischen die Pobacken und spritzte ihm – wie zuvor bereits zu anderer Gelegenheit angekündigt – für wenige Sekunden Wasser in den Anus und weiter in den Enddarm. Nachdem er ihn losgelassen hatte, rannte L. weinend davon, wobei er seinen Darm unkontrolliert auf den Rasen entleerte. Der Angeklagte verspottete ihn deswegen gegenüber den weiteren anwesenden Personen.

Ein Einführen des Gartenschlauchs in den Anus des Kindes hat das Landgericht nicht feststellen können, ebenso wenig eine sexuelle Intention oder sogar Erregung des Angeklagten.“

Das LG hat das Verhalten des Angeklagten als sexuelle Handlung im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB bewertet, weil es bereits objektiv einen eindeutigen Bezug zu entsprechenden Sexualpraktiken aufweise und deshalb die Motivation des Täters unerheblich sei.

Das hat beim BGH „gehalten“.

„Die Verurteilung des Angeklagten hält sachlichrechtlicher Nachprüfung stand. Zu Recht hat das Landgericht den Angeklagten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Schutzbefohlenen schuldig gesprochen. Der näheren Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

1. Das Verhalten des Angeklagten ist als vom Vorsatz umfasste sexuelle Handlung im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB anzusehen.

a) Anerkannt ist, dass der Begriff der sexuellen Handlung bereits unter Heranziehung ausschließlich objektiver Kriterien bestimmt werden kann, wenn die Tätigkeit objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild, einen eindeutigen Sexualbezug aufweist. Darüber hinaus können äußerlich ambivalente Handlungen dann als sexuelle Handlungen eingeordnet werden, wenn diese zwar für sich betrachtet nicht ohne Weiteres sexualbezogen sind, wohl aber aus der Sicht eines objektiven Betrachters, der alle Umstände des Einzelfalls, also auch die Zielrichtung des Täters, kennt, eine solche sexuelle Intention erkennen lassen (BGH, Beschluss vom 7. April 2020 – 3 StR 44/20, StV 2021, 363 Rn. 13; Urteile vom 8. Dezember 2016 – 4 StR 389/16, juris Rn. 7; vom 10. März 2016 – 3 StR 437/15, BGHSt 61, 173 Rn. 6; vom 9. Juli 2014 – 2 StR 13/14, BGHSt 59, 263 Rn. 19 f.; vom 14. März 2012 – 2 StR 561/11, BGHR StGB § 178 Abs. 1 Sexuelle Handlung 9 Rn. 20, 22; vom 20. Dezember 2007 – 4 StR 459/07, BGHR StGB § 184 f. Sexuelle Handlung 2 Rn. 9; BeckOK StGB/Ziegler, 52. Ed., § 184h Rn. 3 ff.; LK/Laufhütte/Roggenbuck, StGB, 12. Aufl., § 184g Rn. 5 ff.; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 184h Rn. 6 ff.; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 184h Rn. 2; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 184h Rn. 5 f.; Fischer, StGB, 69. Aufl., § 184h Rn. 3 ff., jeweils mwN).

b) Nach diesen Maßstäben stellt das Verhalten des Angeklagten bereits unter Heranziehung ausschließlich objektiver Kriterien eine sexuelle Handlung dar.

In die im Einzelfall anzustellende Gesamtbetrachtung ist dabei zugunsten der Annahme eindeutigen Sexualbezugs einzustellen, dass es sich bei dem Anus des Geschädigten um einen intimen Körperbereich handelte, der zudem – wenn auch aus der Situation geschuldeten Gründen – unbekleidet war. Ebenfalls für einen eindeutigen Sexualbezug des Geschehens spricht die diesen Bereich betonende Körperhaltung des Geschädigten, der von dem Angeklagten bäuchlings über seine Knie gelegt worden war. Weiter setzte der Angeklagte den Schlauch derart fest zwischen den Pobacken an, dass Wasser in das Körperinnere eindringen konnte, was zugleich eine Penetration darstellt. Schließlich kommt die vorherige Ankündigung des Vorhabens seitens des Angeklagten hinzu („ich steck dir den mal hinten rein“). Bei dieser Sachlage bedarf es eines Rückgriffs auf eine – hier nach den Feststellungen nicht gegebene – sexuelle Intention oder sogar Erregung des Angeklagten zur Begründung eines entsprechenden Sexualbezugs nicht mehr. Dass dem im Ausgangspunkt spielerischen Geschehen auf dem Hausgrundstück etliche weitere Personen beiwohnten, darunter die Mutter und die Geschwister des geschädigten Kindes, kann auf Grundlage ausschließlich der äußeren Gegebenheiten – der Angeklagte bezog die Anwesenden von sich aus in den Vorgang ein, indem er den Geschädigten diesen gegenüber verspottete – nicht zu einer anderen Beurteilung führen.

c) Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass sich der Angeklagte des eindeutigen Sexualbezuges seines Verhaltens bewusst war. Dies genügt für den entsprechenden Vorsatz (vgl. BGH, Urteile vom 24. September 1980 – 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 10. Mai 1995 – 3 StR 150/95, BGHR StGB § 178 Abs. 1 Sexuelle Handlung 8).“

Manipulierter Verkehrsunfall: Der Besuch in der Eisdiele, oder: Ausgerutscht

entnommen wikimedia.org Urheber Mindmatrix

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Nach dem KG, Beschl. v. 05.10.2015 – (5) 161 Ss 190/15 (40/15)  (vgl. dazu: Manipulierter Verkehrsunfall mal anders, nämlich als Betrug) zum manipulierten Verkehrsunfall aus strafverfahrensrechtlicher Sicht, hier dann noch einmal eine zivilrechtliche Fragestellung, nämlich das LG Duisburg, Urt. v. 17.08.2015 – 3 O 230/13 -, auf das ich durch den Kollegen aus dem Verkehrsrechtsblog aufmerksam geworden bin. Das Urteil fällt sicherlich aus dem Rahmen, und zwar sowohl wegen der Schadenshöhe als auch wegen des beschädigten Objekts. Es ging nämlich offenbar um die Sanierung einer Eisdiele auf „kaltem Weg“. Folgendes Geschehen war dazu Gegenstand des Urteils:

„Der Beklagte zu 1) hatte sich von der Beklagten zu 2) ein Fahrzeug der Marke VW T 5 Kastenwagen mit dem amtlichen Kennzeichen pp., für das der Beklagte zu 3) Haftpflichtversicherer war, gemietet. Am 30. Oktober 2012 gegen 21.25 Uhr war der Beklagte zu 1) in H. auf dem M. platz damit unterwegs. An diesem Tag war es regnerisch, der M. platz war nass.

Die Klägerin behauptet, der Beklagte zu 1) habe beabsichtigt, Campingutensilien seines Vaters, die in seinem Keller untergestellt waren, zu einem Bekannten des Vaters zu transportieren. Daher sei er mit dem Fahrzeug mit leicht erhöhter Schrittgeschwindigkeit auf dem M. platz gefahren. Plötzlich habe der Beklagte zu 1) beabsichtigt, rückwärts in Richtung der Häuserzeile M. platz 3 zu fahren, um mit dem Heck des Fahrzeugs vor dieser Häuserzeile zum Stehen zu kommen. Auf diesem Wege habe der Beklagte zu 1) erreichen wollen, dass er die in seinem Keller gelagerten Gegenstände nicht weitertragen müsse. Der Beklagte zu 1) habe dann das Fahrzeug zurückgesetzt. Um die Geschwindigkeit zu kontrollieren, habe er dies durch Gas und Kupplung gemacht. Als er bereits ein gutes Stück zurückgesetzt habe, sei er mit dem linken Fuß von der leicht getretenen Kupplung abgerutscht. Das Fahrzeug habe hierdurch beschleunigt und stieß mit dem Heck in die Schaufensterscheibentür des Eiscafés. Die Klägerin behauptet, insgesamt seien Schäden in Höhe von 163.634,27 Euro entstanden. Wegen des weiteren Vorbringens bezüglich der Schäden wird auf die Klageschrift verwiesen.

Das LG sagt: Manipuliert, und zwar aufgrund einer Gesamtschau folgender Indizien:

  • „Die Art des behaupteten Unfallhergangs, nämlich das Rückwärtssetzen gegen die Eisdiele, ist leicht und ohne nennenswertes Verletzungsrisiko von den Beteiligten inszeniert worden. Außerdem ist bei einer derartigen Unfallkonstellation die Schuldfrage eindeutig und es muss nicht mit Einwendungen eines Mitverschuldens gerechnet werden. Eine solche eindeutige Haftungslage ist bei einem manipulierten Unfall ein häufig anzutreffender Umstand (vgl. Urteil des OLG Köln vom 2. März 2010, Aktenzeichen: 9 U 122/09).
  • Als weiteres Indiz ist hinzuzufügen, dass sich die Beteiligten gut kannten. Hier hat der Beklagte zu 1) im Rahmen seiner Anhörung selbst ausgeführt, dass er den Kläger seit über 30 Jahren kennt und das Verhältnis als freundschaftlich zu bezeichnen ist. Dieser Umstand ist sicherlich auch als Indiz dafür zu werten, dass der Beklagte sich bereit erklärt hat, an einem manipulierten Unfallereignis mitzuwirken, um der Klägerin wirtschaftlich zu helfen.
  • Darüber hinaus ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen T. und auch seiner Anhörung, dass das behauptete Fahrmanöver technisch zwar unter extremen Gesichtspunkten nachvollziehbar ist, dies aber nicht mehr dem normalen Fahrverhalten entspricht…… Damit liegt natürlich ein ganz erhebliche Indiz dafür vor, dass der Beklagte zu 1) mit der Klägerin, welche sich seit langen Jahren kennen, diesen Unfall abgesprochen haben.
  • Als weiteres typisches Indiz für einen manipulierten Unfall ist der Umstand anzusehen, dass der Beklagte zu 1) das Fahrzeug zuvor bei der Beklagten zu 2) angemietet hat. Damit konnte er umgehen, dass sein eigenes Fahrzeug in Mitleidenschaft gezogen wird odermöglicherweise auch eigene Versicherungsrabatte in Mitleidenschaft gezogen werden. Das Anmieten eines Fahrzeugs und dann einen manipulierten Unfall durchzuführen, stellt auch ein weiteres klares Kriterium für ein solches manipuliertes Unfallereignis dar.“