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Rasen = mehr als 100 km/h in der Innenstadt, oder: Alleinhaftung

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Die zweite zivilrechtliche Entscheidung kommt heute vom KG. Im KG, Urt. v. 22.08.2019 – 22 U 33/18 – geht es um die Haftungsfragen in Zusammenhang mit „Rasen“ in der Innenstadt.

Der Kläger verlangte Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall vom 28. Oktober 2015 auf einer Kreuzung. Dort war der Kläger mit einem Linksabbieger zusammengestoßen. Der Kläger erlitt infolgedessen eine HWS-Distorsion, ein stumpfes Thoraxtrauma, ein stumpfes Bauchtrauma und eine Femurschaftsfraktur links mit Weichteilschaden ersten Grades und befand sich deshalb vom 28. Oktober 2015 bis zum 06. November 2015 in stationärer Behandlung.

Das LG hatte Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen und durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Dieses Unfallrekonstruktionsgutachten kommt zu dem Ergebnis, dass sich das Klägerfahrzeug im Kollisionszeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 85 km/h bis 105 km/h bewegt habe, während das Beklagtenfahrzeug zu diesem Zeitpunkt mit etwa 5 km/h bis 10 km/h gefahren sei.  Der Kläger habe sich der Unfallstelle zuvor mit mindestens 103 km/h genähert, bevor er 44 m und 1,6s vor der Kollision das Beklagtenfahrzeug als gefahrdrohend erkannt habe. Bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h sei die Kollision für den Kläger mit hoher Sicherheit räumlich und wahrscheinlich auch zeitlich vermeidbar gewesen.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Der Kläger hat dann mit seiner Berufung seine Ansprüche nur noch nach einer Haftungsquote von 33% weiterverfolgt. Er meint, das LG habe die Verursachungsanteile im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung unzutreffend gewürdigt und das grobe Verschulden der Beklagten zu Unrecht hinter dem Verkehrsverstoß des Klägers zurücktreten lassen.

Die Berufung hatte beim KG keinen Erfolg.Das KG geht davon aus, dass der Beklagten zu 1) ein (schwerer) Verstoß gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO und dem Kläger ein Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO unfallverursachend vorzuwerfen war.

„Zur Abwägung führt es dann aus:

Der danach weiter bestehende Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung beim Linksabbiegen führt hier gleichwohl aber nicht zu einer Haftung der Beklagten.

Dem Landgericht ist darin zuzustimmen, dass der Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1) ebenso wie die Betriebsgefahr ihres Kraftfahrzeugs (§ 7 Abs. 1 StVG) hinter dem besonders schweren Verkehrsverstoß des Klägers zurücktreten, so dass dieser für seinen Schaden allein einzustehen hat.

a) Nach den Feststellungen des Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Snnn vom 19. Oktober 2017, denen die Berufung insoweit nicht mehr entgegentritt, befuhr der Kläger die Pasewalker Straße in Berlin, die vor der Unfallstelle keine Fahrstreifenmarkierungen aufweist und deren rechter Fahrbahnrand als Parkstreifen benutzt wird, in nördlicher Richtung bei Dunkelheit und trockenen Straßenverhältnissen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 103 km/h und damit mit einer Geschwindigkeit, die um mehr als das Doppelte über der unter günstigsten Umständen zulässigen Höchstgeschwindigkeit in geschlossenen Ortschaften (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO) lag.

b) Wenn – wie hier – innerorts das Doppelte der maximal zulässigen Geschwindigkeit überschritten wird und wenn die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit gleichzeitig auch absolut 100 km/h überschreitet, ist nach Auffassung des Senats regelmäßig davon auszugehen, dass leichte Verkehrsverstöße Dritter – wie hier – hinter einem solchen besonders schwerwiegenden erheblichen Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO regelmäßig zurücktreten.

Dem steht nicht entgegen, dass bislang teilweise in ähnlichen Fällen bei einem Zusammentreffen eines Verstoßes gegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO bzw. gegen § 8 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 StVO und eines erheblichen Verstoßes gegen § 3 Abs. 3 StVO in der Rechtsprechung regelmäßig eine Abwägung der Verursachungsanteile nur dann zu einer Alleinhaftung des Vorfahrtsberechtigten führte, wenn die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 100% mit weiteren, besonderen Umständen zusammentraf (vgl. etwa KG, Urteil vom 04. September 2000 –  12 U 4373/99 -, juris Rdn. 12; OLG Stuttgart, Urteil vom 16. November 1993 – 10 U 13/93 -, juris=NZV 1994, 194; KG, Urteil vom 11. März 1982 – 12 U 2669/81 -, juris=VerkMitt 1982, 94; KG, Urteil vom 22. Juni 1992 –  12 U 7008/91 -, juris=VRS Bd. 83, 407; OLG Hamm, Urteil vom 14. August 1996 – 3 U 150/95 -, juris=VRS Bd. 93, 253).

Zwar lassen sich keine allgemeingültigen Richtwerte in Bezug auf das berechtigte Vertrauen eines Wartepflichtigen dahingehend, dass der Bevorrechtigte die Geschwindigkeit nicht in grober und außergewöhnlicher Weise überschreiten werde, aufstellen (BGH, Urteil vom 14. Februar 1984 – VI ZR 229/82 -, juris Rdn. 15). Im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG ist aber dann regelmäßig von einer Alleinhaftung des Bevorrechtigten auszugehen, wenn dieser sowohl die maximal zulässige Geschwindigkeit um das Doppelte und gleichzeitig absolut 100 km/h überschreitet.

In Innenstadtlagen mit dem dort typischen komplexen Verkehrsgeschehen ist bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h davon auszugehen, dass sich der Kraftfahrer bewusst außerstande setzt, unfallverhütend zu reagieren (KG, Urteil vom 31. Januar 1994 – 12 U 3121/92 -, juris Rdn. 28, dort mind. 72 km/h statt 50 km/h mit hälftiger Schadensteilung) und damit entgegen § 1 Abs. 1 StVO für ihn keine hinreichende Möglichkeit mehr besteht, bei entsprechendem Anlass auf das Fehlverhalten Dritter zu reagieren. Ebensowenig bestehen bei einer für Innenstadtlagen außergewöhnlich hohen Geschwindigkeit von absolut mehr als 100 km/h noch hinreichende zeitliche und räumliche Möglichkeiten, unvorhergesehen auftretende Veranlassungen zur Anpassung der eigenen Fahrweise außerhalb von Verkehrsverstößen Dritter gefahrverhütend wahrzunehmen (beispielsweise Kinder am Fahrbahnrand, vgl. BGH, Urteil vom 02. Juli 1985 – VI ZR 22/84 -, juris Rdn. 10), so dass ein besonders hohes abstraktes Gefährdungspotential für Dritte geschaffen wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass eine derart hohe Geschwindigkeitsüberschreitung nicht mehr mit Fahrlässigkeit erklärbar ist, sondern regelmäßig vorsätzliches Handeln angenommen werden muss (vgl. dazu KG, Beschluss vom 31. Mai 2019 – 3 Ws (B) 161/19 -, juris Rdn. 4).

c) Entgegen der Ansicht der Berufung ist damit hier nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge davon auszugehen, dass der Kläger für den ihm entstandenen Schaden allein haftet.“