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FE-Entziehung II: Bindungswirkung an Strafurteil, oder: Wenn das Strafgericht (nur) ein Fahrverbot verhängt

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Bei der zweiten „Entziehungsentscheidung“ handelt es sich um den OVG Saarland, Beschl. v. 09.08.2023 – 1 B 75/23 – zur Bindungswirkung eines strafgerichtlichen Urteils hinsichtlich der Kraftfahreignung (§ 3 Abs. 4 Satz 1 StVG).

Folgender Sachverhalt: Der Antragsgegner hat dem Antragsteller mit für sofort vollziehbar erklärter Verfügung vom 21.11.2022 die Fahrerlaubnis unter Verweis auf § 3 Abs. 1 StVG, §§ 11 Abs. 8 und 46 FeV entzogen (Ziffer 1) und ihn unter Androhung der Ersatzvornahme aufgefordert, seinen Führerschein abzugeben (Ziffer 2). Der Antragsteller sei mit Urteil des Amtsgerichts S vom 10.09.20091 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (2,31 ‰) verurteilt worden. Die Tat sei verwertbar. Die Tilgungsfrist sei noch nicht abgelaufen (§ 29 Abs. 5 StVG). Zwar sei dem Antragsteller im Dezember 2012 nach „bestandener“ medizinisch-psychologischer Untersuchung2 die Fahrerlaubnis wieder erteilt worden. Jedoch ergebe sich aus dem Urteil des Amtsgerichts V vom 17.06.20213 (Tat vom 08.10.2019), dass er erneut unter Alkoholeinfluss (0,59 ‰) am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen habe. Das Gericht habe ihn wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und ihm zugleich die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen. Das Urteil sei nach Maßgabe des Urteils des Landgerichts S vom 17.11.20214 (das den Schuldspruch bestätigt, das amtsgerichtliche Urteil jedoch dahingehend geändert hat, dass anstelle der Entziehung der Fahrerlaubnis nebst Sperrfrist ein Fahrverbot für drei Monate nach § 44 StGB verhängt wurde) rechtskräftig. Aufgrund dieser wiederholten Auffälligkeiten habe die Fahrerlaubnisbehörde erhebliche Zweifel an der Kraftfahreignung des Antragstellers gehegt und ihn daher mit Schreiben vom 10.02.2022 unter Verweis auf § 13 Satz 1 Nr. 2 lit. b FeV aufgefordert, sich einer medizinisch-psychologischen Fahrtauglichkeitsprüfung zu unterziehen. Da der Antragsteller dieser Aufforderung nach Verlängerung der Vorlagefrist nicht nachgekommen sei, sei der Schluss nach § 11 Abs. 8 FeV auf die fehlende Kraftfahreignung angezeigt. Nachdem er zudem mit Urteil vom 09.08.20225 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt worden sei, weise „sein“ Fahrerlaubnisregister drei verkehrsbezogene Straftaten (und – Stand: 23.09.2022 – fünf Punkte) auf. Es werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Anknüpfungspunkt der Fahrerlaubnisentziehung nicht der Vorfall vom 8.10.2019 sei, sondern die Entscheidung nach § 11 Abs. 8 FeV. Da der Antragsteller als Berufskraftfahrer in größerem Umfang als ein üblicher Fahrzeugführer am Straßenverkehr teilnehme, bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse an einer zeitnahen Durchsetzung der Entscheidung.

Der Atragsteller hat Widerspruch eingelegt und Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Der hatte beim VG keinen Erfolg, beim OVG dann aber doch. Das OVG führt zur „Bindungswirkung“ aus (Achtung: Das OVG arbeitet mit Fußnoten; die sind nur im Volltext enthalten):

„4. Denn zu Recht macht die Beschwerde geltend, dass das Landgericht S die Kraftfahreignung des Antragstellers in dem wegen der Tat vom 8.10.2019 geführten Strafverfahren mit Urteil vom 17.11.2021 geprüft (und bejaht) hat. Die Bindungswirkung dieser strafgerichtlichen Beurteilung (§ 3 Abs. 4 Satz 1 StVG) schließt es fallbezogen aus, dass die Fahrerlaubnisbehörde den Vorfall vom 8.10.2019 als Anlass für die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Fahreignungsbegutachtung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 lit. b) FeV nimmt.

Nach § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG gilt: Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich (unter anderem) auf die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht.

a) Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafgericht (§ 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (§ 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass Doppelprüfungen unterbleiben und die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine Rechtfertigung darin, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Strafgericht als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafgericht übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde.

Allerdings ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als das Strafgericht auszugehen hat. Die Bindungswirkung lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Fahrerlaubnisbehörde den schriftlichen Urteilsgründen sicher entnehmen kann, dass überhaupt und mit welchem Ergebnis das Strafgericht die Fahreignung beurteilt hat (vgl. § 267 Abs. 6 Satz 2 StPO). Deshalb entfällt die Bindungswirkung, wenn das Strafurteil überhaupt keine Ausführungen zur Kraftfahreignung enthält oder wenn jedenfalls in den schriftlichen Urteilsgründen unklar bleibt, ob das Strafgericht die Fahreignung eigenständig beurteilt hat. In diesen Fällen wäre es mit der Ordnungsaufgabe, die der Fahrerlaubnisbehörde im Interesse der Verkehrssicherheit übertragen wurde, nicht zu vereinbaren, ihr die Möglichkeit zu nehmen, Klarheit über die zweifelhaft gebliebene Eignung des verurteilten Kraftfahrers zu schaffen. § 3 Abs. 4 StVG darf im Ergebnis nicht dazu führen, dass in keinem der beiden Verfahren die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ordnungsgemäß überprüft und beurteilt wird.12

b) Nach diesem Maßstab entfaltet das landgerichtliche Berufungsurteil vom 17.11.2021 entgegen der erstinstanzlichen Einschätzung Bindungswirkung zugunsten der Kraftfahreignung des Antragstellers.

Zwar ist die Tatsache, dass ein Strafgericht anstelle einer in Betracht kommenden Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) ein Fahrverbot (§ 44 StGB) verhängt, regelmäßig nicht schon für sich genommen Ausdruck einer stillschweigenden Prüfung (und Bejahung) der Fahreignung, so dass nicht bereits deswegen eine Bindungswirkung entsteht.13 Es fragt sich aber, ob hier etwas anderes zu gelten hat. Denn wie sich aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils zweifelsfrei ergibt, war Ziel des Berufungsverfahrens – und Schwerpunkt der landgerichtlichen Prüfung – gerade die „Abwehr“ der erstinstanzlich verhängten Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 69 StGB. Vor diesem Hintergrund könnte einiges dafürsprechen, dass (ausnahmsweise) schon die Entscheidungsformel – Änderung der in erster Instanz ausgesprochenen Fahrerlaubnisentziehung in eine Entscheidung nach § 44 StGB – Ausdruck einer im Sinne des § 3 Abs. 4 StVG hinreichenden Prüfung der Kraftfahreignung des Antragstellers sein könnte, zumal Fahrverbot und Fahrerlaubnisentziehung sich gegenseitig grundsätzlich ausschließen,14 § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB die Entziehung der Fahrerlaubnis seinem Wortlaut nach zwingend15 vorschreibt, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen – unter anderem die fehlende Kraftfahreignung – gegeben sind16, und eine allzu „kleinteilige“ Betrachtung das Ziel des § 3 Abs. 4 StVG, Doppelprüfungen zu vermeiden, konterkarieren könnte.

Diese Frage kann aber auf sich beruhen. Denn aus der niedergelegten Begründung des Berufungsurteils vom 17.11.2021 wird hinreichend klar, dass das Landgericht die Kraftfahreignung des Antragstellers auf Grundlage der im Strafverfahren getroffenen Feststellungen eigenständig geprüft (und bejaht) hat.

Die Berufungskammer hält auf S. 3 des Urteils zunächst fest, sie habe „im Wesentlichen dieselben Feststellungen [wie das Amtsgericht] getroffen“ und führt auf dieser Grundlage aus, es sei nicht festzustellen, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Die Tat, die kein Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 StGB erfülle, sei bereits im Oktober 2019 geschehen, ohne dass es zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gekommen wäre. Seither habe der Antragsteller sich in psychologischer Beratung befunden und ohne Auffälligkeiten am Straßenverkehr teilgenommen. Unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Antragstellers sei, so das Landgericht weiter, anstelle einer Entziehung der Fahrerlaubnis ein Fahrverbot ausreichend.

Damit hat das Strafgericht die gefahrenabwehrrechtliche Dimension des § 69 StGB erkannt und – wenngleich knapp – die Kraftfahreignung des Antragstellers aufgrund der in den Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beurteilt.

Die Urteilsgründe lassen demgegenüber keinen Raum für die Annahme, das Landgericht habe die Eignungsfrage nicht hinreichend beurteilt oder gar offengelassen. Die Überlegungen, die das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang angestellt hat, überzeugen letztlich nicht. Abgesehen davon, dass das Vorliegen einer Eignungsbeurteilung und damit der Eintritt der Bindungswirkung nicht durch das isolierte „Abarbeiten“ einzelner Begründungselemente erfolgen darf, sondern vielmehr nach dem Gesamtzusammenhang der Gründe des Strafurteils festgestellt werden muss,17 greifen die Erwägungen des Erstgerichts auch in der Sache nicht durch.

Dass der angefochtene Beschluss (weitere) „Ausführungen zur körperlichen und geistigen Verfassung des Antragstellers“ vermisst, überspannt fallbezogen die Anforderungen des § 3 Abs. 4 StGB. Dass das Strafurteil die Feststellung enthält, der Antragsteller leide „psychisch sehr unter dem Vorfall“, ändert nichts an der ausdrücklich positiven Beurteilung der Kraftfahreignung durch die Berufungskammer. Unzutreffend ist es ferner, wenn das Verwaltungsgericht festhält, das Landgericht habe „maßgeblich“ auf das Nichtvorliegen eines Regelbeispiels des § 69 Abs. 2 StGB abgestellt. Richtig ist vielmehr, dass die Berufungskammer diesen Aspekt als einen unter mehreren in ihre Eignungsbeurteilung hat einfließen lassen. Das dürfte im Übrigen nicht zu beanstanden sein, nachdem Straftaten, die (wie hier) nicht zu den Indiztaten des § 69 Abs. 2 StGB gehören, nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht schon typisierend auf einen „ungeeigneten“ Kraftfahrer deuten, sondern – was das Landgericht geleistet hat – eine Gesamtwürdigung von Tat und der in der Tat hervorgetretenen Täterpersönlichkeit erforderlich machen.18

Der Senat vermag sich ferner nicht der Einschätzung des Verwaltungsgerichts anzuschließen, der Hinweis im Urteil des Landgerichts vom 17.11.2021 auf eine unauffällige Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr seit der Tat vom 8.10.2019 mache deutlich, dass das Strafgericht gerade keine eigenständige Bewertung der Kraftfahreignung vorgenommen habe. Die als Beleg für diese Ansicht angeführten Entscheidungen19 zeichnen sich dadurch aus, dass die dort auf eine Bindungswirkung zu prüfenden strafgerichtlichen Entscheidungen den Zeitablauf als einziges oder doch zumindest schlagendes Argument für das Absehen von einer Entziehung der Fahrerlaubnis anführten.20 Eine solche Anwendung des § 69 Abs. 1 StGB wird den Anforderungen an eine im Lichte des § 3 Abs. 4 StVG hinreichende, die Bindungswirkung auslösende, Eignungsbeurteilung sicher nicht gerecht. So liegt der Fall hier aber nicht, nachdem das Landgericht (wie dargelegt) weitere Umstände in seine Beurteilung hat einfließen lassen. Im Übrigen hat das Landgericht mit seinem Hinweis auf eine unterbliebene vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis fallbezogen die Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass die in früheren Stadien des Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens dazu berufenen Stellen (vgl. § 162 StPO) offenbar (ebenfalls) zumindest keine „dringenden“ Gründe für die Annahme sahen, dem Antragsteller fehle die Kraftfahreignung (§ 111a Abs. 1 Satz 1 StPO, § 69 StGB).

Lediglich ergänzend sei erwähnt, dass der Umstand, dass nach dem Wortlaut des Berufungsurteils (bloß) die fehlende Eignung des Antragstellers nicht habe festgestellt werden können, keine andere Einschätzung gebietet. Eine Unterscheidung zwischen positiver Feststellung der Eignung und Verneinung der Ungeeignetheit ist jedenfalls im Entziehungsverfahren rechtlich ohne Belang. Ist die Ungeeignetheit nicht gegeben, muss der Kraftfahrer im Rechtssinn als (weiterhin) geeignet angesehen werden.21 Im Übrigen korrespondiert die Begründung, die das Landgericht für seine Entscheidung gegeben hat, mit dem Prüfauftrag, den § 69 StGB dem Strafgericht aufgibt. Tatbestandliche Voraussetzung für ein Vorgehen nach dieser Vorschrift ist nämlich (unter anderem), dass sich aus der Tat ergibt, dass der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Die Feststellung der Eignung ist der Norm hingegen fremd.

c) Anders als das Verwaltungsgericht meint, entfällt die Bindungswirkung nicht deswegen, weil der Antragsgegner fallbezogen einen umfassenderen Sachverhalt zu beurteilen hätte. Im Ansatz zu Recht geht das Gericht zwar davon aus, dass eine strafgerichtliche Eignungsbeurteilung die Fahrerlaubnisbehörde nach § 3 Abs. 4 StVG nicht bindet, wenn die strafrechtliche Untersuchung nur einen Teil des Vorgangs abdeckt, der verwaltungsrechtlich zu beurteilen ist.22 Der Hinweis, das Landgericht habe in Bezug auf die „Alkoholproblematik“ des Antragstellers als Eignungsmangel keine hinreichenden Feststellungen getroffen, geht hier indes fehl. Wie sich aus den Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils ergibt, die das Landgericht „im Wesentlichen“ gleichlautend getroffen hat, war die Alkoholisierung des Antragstellers am Tattag Gegenstand des Strafverfahrens. Zudem spricht ausweislich des Verweises auf das amtsgerichtliche Urteil nichts dafür, dass das Landgericht die frühere „Alkoholtat“ des Antragstellers – Urteil des Amtsgerichts S vom 10.9.2009 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (2,31 ‰) – unberücksichtigt gelassen hätte.23

Nach alledem ist nach den Entscheidungsgründen des Urteils vom 17.11.2021 davon auszugehen, dass die Berufungskammer in Ansehung all dieser Umstände und als Ausdruck einer hinreichenden eigenen Prüfung die Kraftfahreignung des Antragstellers bejaht hat. Darüber, ob man diese Einschätzung für „richtig“ oder „falsch“ hält, mag man streiten. Für die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 StVG ist das freilich ohne Relevanz.“

StPO III: Zusage der Verfahrenseinstellung durch StA, oder: Bindungswirkung?

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Und dann als dritte Entscheidung dann noch der BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 1 StR 380/22 – zur Bindungswirkung einer Verfahrenseinstellung gem. § 154 Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaf.

Dazu der BGH:

„1. Die – zulässige – Verfahrensrüge, das Landgericht habe dadurch gegen seine Pflicht zur Wahrheitserforschung verstoßen, dass es den Zeugen Rechtsanwalt T. in Anwesenheit der Staatsanwälte R. und S. als Sitzungsvertreter sowie anschließend diese zu demselben Beweisthema, der behaupteten staatsanwaltschaftlichen Zusage der Nichtwiederaufnahme des – mit Abschlussverfügung vor Anklageerhebung im ersten Rechtsgang nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellten – Verfahrens bezüglich acht hier streitgegenständlicher bzw. der Nichtverfolgung zum Zeitpunkt der Gespräche (9. und 26. Juli 2019) bekannter weiterer ebenfalls hier geahndeter drei Steuerstraftaten, vernommen hat (§ 244 Abs. 2, § 58 Abs. 1 StPO; vgl. dazu BGH, Urteil vom 15. April 1987 – 2 StR 697/86 Rn. 18-22), ist unter einem weiteren Gesichtspunkt unbegründet:

Einer solchen staatsanwaltschaftlichen Zusicherung kommt von vornherein nicht die Bindungswirkung einer gerichtlichen Verständigung (§ 257c StPO) zu (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168 Rn. 79; vgl. auch BT-Drucks. 16/12310 S. 13). Durch das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) ist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. April 1990 – 3 StR 254/88 (BGHSt 37, 10, 13 f.), wonach die staatsanwaltschaftliche Zusage, das Verfahren bezüglich einer Straftat einzustellen bzw. diese nicht zu verfolgen, einen Vertrauenstatbestand als gewichtigen Strafmilderungsgrund (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) begründen könne, insoweit überholt (vgl. BVerfGE aaO). Bereits sein vormaliger Verteidiger, der mittlerweile verstorbene Rechtsanwalt H., wies den Angeklagten in seiner E-Mail vom 1. August 2019 (Revisionsbegründung S. 47) auf diesen Gesichtspunkt mit den Worten hin: „Eine rechtliche Bindung ergibt sich hieraus für die Staatsanwaltschaft, hierüber haben wir eingehend gesprochen, allerdings nicht. Die Festschreibung dieser Äußerung ist aber gleichwohl sinnvoll, weil sich hieraus eine psychologische Bindung ergibt.“

Das Urteil des Senats vom 11. November 2020 – 1 StR 328/19 – im ersten Rechtsgang gab wegen der gewichtigen Teilaufhebung einen sachlichen Anlass (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2022 – 2 BvR 1110/21 Rn. 50; BGH, Beschluss vom 30. April 2009 – 1 StR 745/08, BGHSt 45, 1 Rn. 15), neben den rechtskräftig gewordenen neun Einzelstrafen die (gleichgelagerten) Ertragsteuerhinterziehungsfälle wiederaufzunehmen bzw. zu verfolgen.

Ohnehin hat das Landgericht eine etwaige – freilich mit der E-Mail vom 1. August 2019 nicht zu vereinbarende – vorübergehende „Erwartung“ des Angeklagten, wegen der verfahrensgegenständlichen elf Steuerstraftaten nicht verfolgt zu werden, strafmildernd berücksichtigt (UA S. 67); nach alledem ist der Gesichtspunkt eines Vertrauensschutzes jedenfalls nicht rechtsfehlerhaft zu Lasten des Angeklagten in der Strafzumessung gewürdigt worden.

Eine Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft erzeugt keinen Vertrauenstatbestand derart, dass diese einer späteren Strafverfolgung bezüglich der hiervon umfassten Taten grundsätzlich entgegensteht. Auch erzeugt dieser Umstand bei einer späteren diesbezüglichen Verurteilung keinen gewichtigen Strafmilderungsgrund. Gleichwohl bedarf die spätere Strafverfolgung der von der Einstellung zuvor erfassten Taten eines hinreichend sachlichen Anlasses, der darin liegen kann, dass die Taten, im Hinblick auf deren Verurteilung die Einstellung nach § 154 Abs. 1 StPO erfolgte, nicht zur (rechtskräftigen) Verurteilung gelangen.“

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem StVG, oder: Bindungswirkung

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So am heutigen ersten Samstag im April – also Vorsicht es kann also zu Scherzen kommen 🙂 – stelle ich hier zwei verkehrsverwaltungsrechtliche Entscheidungen vor.

Ich beginne mit dem VG Hamburg, Beschl. v. 09.03.2023 – 5 E 970/23 – zur Bindungswirkung nach § 3 Abs. 4 Satz 1 Var. 3 StV. Ergangen ist der Beschluss im vorläufigen Rechtsschutzverfahren.

Das AG hatte die Antragstellerin wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 2 StGB) zu einer Gelstrafe von 20 Tagessätzen und ein Fahrverbot für die Dauer von sechs Monaten verhängt. In den Urteilsgründen hat das AG u.a. ausgeführt:

„Gegen die Angeklagte ist ein Fahrverbot in Höhe von 6 Monaten verhängt worden. Aufgrund ihr reuiges Verhalten und des Umstandes, dass sie seit einiger Zeit auf ihre Fahrerlaubnis verzichtet hat, war nämlich die Verhängung einer Sperre nach §§ 69, 69a StGB nicht mehr verhältnismäßig.

Das Fahrverbot ist allerdings nach § 51 Abs. 5 StGB wegen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis abgegolten.“

Die Antragsgegnerin hat dann mit Bescheid vom 20.02.2023 der Antragstellerin ihre Fahrerlaubnis und die sofortige Vollziehung des Bescheids angeordnet. Dagegen der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, der Erfolg hatte:

„Rechtsgrundlage der Entziehung ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c StVG und § 46 Abs. 1 FeV. Danach ist die Fahrerlaubnisbehörde verpflichtet, eine Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn der Inhaber sich als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet erweist, wobei es nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann an der Kraftfahreignung fehlt, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen.

Nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dürfte die Antragsgegnerin eine mangelnde Fahreignung der Antragstellerin unter Missachtung der Bindungswirkung von § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG angenommen haben.

Will die Fahrerlaubnisbehörde in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, so kann sie nach § 3 Abs. 4 Satz 1 Var. 3 StVG zu dessen Nachteil vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. Mit dieser Vorschrift soll die sowohl dem Strafrichter (durch § 69 StGB) als auch der Verwaltungsbehörde (durch § 3 Abs. 1 StVG) eingeräumte Befugnis, bei fehlender Kraftfahreignung die Fahrerlaubnis zu entziehen, so aufeinander abgestimmt werden, dass erstens überflüssige und aufwendige Doppelprüfungen unterbleiben und dass zweitens die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschaltet wird. Der Vorrang der strafrichterlichen vor der behördlichen Entscheidung findet seine innere Rechtfertigung darin, dass auch die Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Strafrichter als Maßregel der Besserung und Sicherung keine Nebenstrafe, sondern eine in die Zukunft gerichtete, aufgrund der Sachlage zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Gefährlichkeit des Kraftfahrers für den öffentlichen Straßenverkehr ist. Insofern deckt sich die dem Strafrichter übertragene Befugnis mit der Ordnungsaufgabe der Fahrerlaubnisbehörde. Während die Behörde allerdings die Kraftfahreignung aufgrund einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen hat, darf der Strafrichter nur eine Würdigung der Persönlichkeit vornehmen, soweit sie in der jeweiligen Straftat zum Ausdruck gekommen ist. Deshalb ist die Verwaltungsbehörde an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung auch nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn die Behörde von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Um den Eintritt einer Bindung überprüfen zu können, verpflichtet die Vorschrift des § 267 Abs. 6 StPO den Strafrichter zu einer besonderen Begründung, wenn er entweder entgegen einem in der Verhandlung gestellten Antrag oder aber in solchen Fällen von einer Entziehung der Fahrerlaubnis absieht, in denen diese Maß-regel nach der Art der Straftat in Betracht gekommen wäre (grundlegend mit zahlreichen weiteren Nachweisen BVerwG, Urt. v. 15.7.1988, 7 C 46/87, BVerwGE 80, 43, juris Rn. 11).

Nach diesen Maßstäben dürfte die Antragsgegnerin an die Feststellung des Amtsgerichts Hamburg-Harburg gebunden sein, dass die Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist.

Das Amtsgericht Hamburg-Harburg dürfte die Fahreignung der Antragstellerin zu prüfen gehabt haben. Wird jemand wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt, so entzieht ihm das Gericht gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB die Fahrerlaubnis, wenn sich aus der Tat ergibt, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen, wenn die rechtswidrige Tat ein Ver-gehen der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) ist. Entgegen der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB kann von der Entziehung der Fahrerlaubnis nur dann abgesehen werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die den seiner allgemeinen Natur nach schweren und gefährlichen Verstoß in einem anderen Licht erscheinen lassen als den Regelfall, oder die nach der Tat die Eignung günstig beeinflusst haben (v. Heintschel-Heinegg/Huber, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2020, § 69 Rn. 75). Nachdem das Amtsgericht Hamburg-Harburg die Antragstellerin wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 2 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt hat, war das Regelbeispiel des § 316 Abs. 2 Nr. 3 StGB verwirklicht, so dass das Absehen von der Entziehung der Fahrerlaubnis das Vorliegen besonderer Umstände erforderte.

Die strafgerichtliche Beurteilung der Fahreignung dürfte sich dabei zweifelsfrei aus den schriftlichen Urteilsgründen ergeben. Das Vorliegen einer Eignungsbeurteilung und damit der Eintritt der Bindungswirkung muss dabei nicht auf der Grundlage einer einzigen Formulierung, sondern nach dem Gesamtzusammenhang der Gründe des Strafurteils festgestellt werden (BVerwG, Beschl. v. 20.12.1988, 7 B 199/88, juris Rn. 6). Das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Harburg differenziert auf S. 3 schon mit Blick auf die zitierten Vorschriften ausdrücklich zwischen der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB und der Verhängung einer Sperrfrist § 69a StGB. Auch wenn in dem Urteil untechnisch davon gesprochen wird, dass die „Verhängung einer Sperre“ nach §§ 69, 69a StGB nicht mehr verhältnismäßig sei, so wird doch hinreichend deutlich, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB und nicht die Verhängung einer Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis nach § 69a StGB Prüfungsgegenstand war. Denn die Verhängung einer Sperre setzt nach § 69a Abs. 1 Satz 1 StGB die Entziehung einer Fahrerlaubnis nach § 69 StGB überhaupt erst voraus. Auch dürfte der angewendete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den Tatbestand-voraussetzungen des § 69 Abs. 1 StGB zum Ausdruck kommen und damit die Fahreignung selbst Prüfungsgegenstand gewesen sein. In diesem Zusammenhang dürfte auch zu berücksichtigen sein, dass es sich um ein nach § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO abgekürztes Urteil handelt, bei dem nach dessen Halbsatz 2 sogar bei Entziehung der Fahrerlaubnis auf den Anklagesatz oder die Anklage verwiesen werden dürfte. Schließlich begnügen sich die Urteilsgründe auch nicht mit dem („schlichten“) Hinweis auf einen bloßen Zeitablauf zur Begründung der Feststellung der Fahreignung, ohne überhaupt auf die möglichen Auswirkungen der Straftat auf die Kraftfahreignung und auf die Persönlichkeit der Antragstellerin einzugehen (zu diesem Maßstab BVerwG, Beschl. v. 20.12.1988, a.a.O., Rn. 5). Ausweislich der Gründe auf S.3 der Urteilsausfertigung hat das Amtsgericht Hamburg-Harburg die Fahreignung auch mit dem reuigen Verhalten der Antragstellerin innerhalb des strafgerichtlichen Verfahrens und damit ihre Persönlichkeit begründet. Darin dürfte zugleich ein impliziter Verweis auf die Erwägungen des Gerichts im Rahmen der Strafzumessung zu erblicken sein.

Schließlich liegt der Beurteilung der Fahreignung der Antragstellerin in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Februar 2023 der identische Sachverhalt wie dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 6. Juli 2021, namentlich das Führen eines Kraftfahrzeuges am 2. September 2020 unter dem Einfluss von Amphetaminen, zugrunde.“

StPO II: AG meint, seine Strafgewalt reicht nicht aus, oder: Vorschnelle Verweisung bindet nicht

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 25.04.2022 – 1 AR 10/22. Es geht um die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses des AG an das LG, der auf nicht ausreichende Strafgewalt des AG gestützt ist.

Dem Angeklagten werden mit der Anklage mehrere Vergehen, unter anderem des Verstoßes gegen Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht, der Beleidigung, der Bedrohung, der gefährlichen Körperverletzung und des Diebstahls, zur Last. Das AG – Schöffengericht – hat die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, das Verfahren eröffnet und am 18.11., 02.12. Und 21.12.2021 Hauptverhandlungstermine durchgeführt.g des Angeklagten, um diesen erneut zu hören. Am Ende des ersten Hauptverhandlungstages verkündete der vorsitzende Richter des Schöffengerichts den Beschluss, dass das Verfahren gem. § 270 StPO an das Landgericht Zweibrücken verwiesen wird. In der Begründung führt das Amtsgericht aus, es halte sich nach Durchführung der Beweisaufnahme für unzuständig und schildert zunächst den Anklagevorwurf betreffend den 29.07.2020 wie in der Anklageschrift ausgeführt. Nach Durchführung der Beweisaufnahme komme nach Auffassung des Amtsgerichts eine Strafbarkeit nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB in Betracht und es bestehe ein hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO. Mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz reiche es für die Verweisung aus, wenn feststehe, dass im Falle eines Schuldspruchs die Straf- bzw. Rechtsfolgengewalt des Gerichts nicht ausreicht, auch wenn die Schuldfrage nicht hinreichend geklärt sei.

Die Strafkammer beim LG sieht das anders und hat die Sache dem OLG zur Bestimmung der Zuständigkeit vorgelegt. Das hat entschieden, dass das AG zustänig bleibt:

„2. Das Amtsgericht Pirmasens – Schöffengericht – ist das für die weitere Durchführung des Verfahrens sachlich zuständige Gericht.

An eine nach Beginn der Hauptverhandlung gemäß § 270 StPO ergangene Verweisung ist das Gericht höherer Ordnung grundsätzlich gebunden, selbst wenn der diesbezügliche Beschluss formell oder sachlich fehlerhaft sein sollte. Die Bindungswirkung entfällt jedoch ausnahmsweise dann, wenn die Verweisung mit dem Grundprinzip der rechtsstaatlichen Ordnung in Widerspruch steht, der Mangel für einen verständigen Betrachter offenkundig ist und die Entscheidung nicht mehr vertretbar erscheint (OLG Köln, Beschluss vom 13.09.2010 – 2 Ws 561/10, juris; KG Berlin, Beschluss vom 13.03.2009 – 4 ARs 11/09, 1 AR 273/09, juris; jew. m. w. N.). Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob sich das verweisende Gericht so weit von dem durch Art. 101 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz vorgegebenen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass die Entscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Die Grenze zum Verfassungsverstoß ist überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist (BVerfG, Beschluss vom 20.06.2012 – 2 BvR 1048/11, juris Rn.129).

Eine Verweisung wegen unzureichender Rechtsfolgenkompetenz (§ 24 Abs. 2 GVG) darf dabei vom Amtsgericht erst dann vorgenommen werden, wenn es die Verhandlung soweit geführt hat, dass der Schuldspruch feststeht, und sich die Straferwartung bei veränderter Sach- und Rechtslage so weit verfestigt hat, dass nicht mehr zu erwarten ist, eine mildere Beurteilung werde noch eine Strafe im Rahmen seiner Strafgewalt als ausreichend erscheinen lassen (h. M. vgl. BGH, Urteil vom 22.04.1999 – 4 StR 19/99, juris Rn.5; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.09.2011 – 3 Ws 912/11, juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 18.11.2013 – 2 Ws 610/13, juris). Bei unveränderter Sach- und Rechtslage bleibt das Gericht zunächst an seine der Eröffnungsentscheidung zugrundeliegende Straferwartung gebunden, weil sonst die für eine geordnete Verfahrensabwicklung notwendige Kontinuität der einmal – im Interesse der Verfahrensbeschleunigung gemäß §§ 210, 336 Satz 2 StPO grundsätzlich unanfechtbar – begründeten Zuständigkeit ständig in Frage gestellt werden könnte (BGH aaO). Dabei muss für die Straferwartung auch geklärt werden, ob die Voraussetzungen für einen minder schweren Fall vorliegen und ob so noch eine Strafe innerhalb der Strafgewalt des Amtsgerichts in Betracht kommt. Eine dem hinreichenden Tatverdacht entsprechende „hinreichende Straferwartung“ existiert gerade nicht (BGH aaO).

Diesen Grundsätzen wird der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts nicht gerecht. Er weicht in einem solchen Maße von den erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen ab, dass er eine die Strafkammer bindende Verweisung nicht mehr vertretbar erscheinen lässt.

Im Rahmen der Beweisaufnahme wurde bereits der Sachverhalt nicht dahingehend hinreichend aufgeklärt, ob ein Schuldspruch wegen (schweren) Raubes überhaupt zu erfolgen hat. Darauf, dass sich das Amtsgericht in der Folge auch nicht dazu verhalten hat, ob tat- oder täterbezogene Umstände für das Vorliegen eines minder schweren Falles gem. § 250 Abs. 3 StGB vorhanden sind, kommt es deshalb nicht mehr an. In diesem Zusammenhang hat das Landgericht in seinem Beschluss jedoch zu Recht auch auf § 46a StGB hingewiesen.

Hinsichtlich des Schuldspruchs hat es das Amtsgericht einerseits versäumt, die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse an dem Handy – dem möglichen Tatobjekt – aufzuklären, andererseits hat es sich in keiner Weise mit der subjektiven Komponente des Raubtatbestandes auseinandergesetzt. Die auch von Seiten der Verteidigung beantragte Vernehmung der Zeugin J., die nach Auskunft des Angeklagten ebenso wie der Zeuge K. Angaben über die Eigentumsverhältnisse des Handys hätte machen können, hat das Amtsgericht nicht durchgeführt. Damit ist nicht hinreichend aufgeklärt, ob es sich objektiv um eine für den Angeklagten fremde bewegliche Sache – durch Schenkung und Eigentumsübertragung an den Zeugen B. – im Sinne der §§ 249, 242 StGB handelte, oder ob das Handy – wie von dem Angeklagten zunächst angegeben – noch in seinem Eigentum stand. Ebenso wenig hat das Amtsgericht den Angeklagten, der während der Aussage des ihn wesentlich belastenden Zeugen B. nicht anwesend war, erneut geladen und ihn zu den Angaben des Zeugen B. befragt. Dies wäre insbesondere mit Blick auf den für die Tatbestandsverwirklichung des schweren Raubes gem. § 250 StGB erforderlichen Vorsatz, der sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale und damit insbesondere auf die Fremdheit der Sache beziehen muss, veranlasst gewesen. Ebenso hat das Amtsgericht nicht geklärt, ob der Angeklagte das Raubmittel (hier die Gewalteinwirkung mithilfe des Baseballschlägers) nach seiner Vorstellung gerade einsetzte, um die Entwendung des Handys zu ermöglichen (spezifischer Zusammenhang zwischen qualifizierter Nötigung und Diebstahl). Hierzu verhalten sich die Ausführungen des Amtsgerichts nicht, und dies erscheint aufgrund der bislang durchgeführten Beweisaufnahme – entnommen aus dem Hauptverhandlungsprotokoll – auch keineswegs offenkundig. Gleiches gilt für die erforderliche Absicht rechtswidriger Zueignung des Tatobjektes. Das subjektive Vorstellungsbild des Angeklagten bleibt im derzeitigen Verfahrensstand offen. Ihm wurde weder Gelegenheit zur Äußerung nach § 257 Abs. 1 StPO gegeben noch wurde er zum Inhalt der Angaben des Zeugen B. und seinem Vorstellungsbild zum Tatzeitpunkt befragt. Das Amtsgericht hat seine Verweisung allein auf die Angaben des Zeugen B. gestützt, der jedoch selbst nur ausführte, er habe gedacht, der Angeklagte habe ihm das Handy geschenkt; es hätte sich jedoch bei den aufgezeigten Zweifeln, die sich bereits durch die Anträge sowohl der Vertreterin der Staatsanwaltschaft als auch der Verteidigung auch dem Gericht hätten aufdrängen müssen, zur erneuten Anhörung des Angeklagten und zur Vernehmung der Zeugin J. veranlasst sehen müssen.

Nach alledem steht ein Schuldspruch wegen schweren Raubes weder fest (so h. M. BGH aaO) noch ist er in diesem Verfahrensstadium auch nur zu erwarten (KG, Beschluss vom 13.11.1998 – 1 AR 1314-98/4 ARs 19/98, beckonline; Beschluss vom 13.03.2009 – 4 ARs 11/09, 1 AR 273/09, juris Rn.6: es soll genügen, dass der Schuldspruch „zu erwarten“ ist). In der Gesamtschau beruht die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen eines schweren Raubes gem. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB letztlich auf Vermutungen des Amtsgerichts, das sich damit so weit von dem durch Art. 101 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz vorgegebenen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass die Verweisung nicht mehr vertretbar ist und die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses entfällt.“

Wiedereinsetzung III: AG gewährt Wiedereinsetzung, oder: Bindung des OLG?

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In der dritten Entscheidung des Tages, dem OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.05.2022 – IV-2 RBs 75/22 –, geht es auch noch einmal um die Nachholung von Verfahrensrüge, allerdings im Rechtsbeschwerdeverfahren. Aber da ist die Problematik ähnlich wie in der Revision.

Hier hatte das AG Wiedereinsetzung zur Nachholung von Verfahrensrügen gewährt. Das OLG untersucht u.a. die Frage, ob es als Rechtsbeschwerdegericht daran gebunden ist. Der Verteidiger hatte bei Einlegung der Rechtsbeschwerde beantragt, ihm nach Fertigstellung des Protokolls (erneut) Akteneinsicht zu gewähren. Die richterliche Verfügung zur Gewährung der Akteneinsicht wurde nicht ausgeführt. Am letzten Tag der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist hat der Verteidiger dann die Begründungsschrift eingereicht. Zugleich hat er auf den nicht erledigten Antrag auf Akteneinsicht hingewiesen und „bereits jetzt um Wiedereinsetzung im Hinblick auf die Frist zur Rechtsbeschwerdebegründung und Fristerstreckung von 4 Wochen nach Erhalt der Akteneinsicht“ gebeten.

Das AG hat Wiedereinsetzung gewährt, sich dabei aber ohne nähere Bestimmung und Begründung auf folgende Beschlussformel beschränkt:

„Dem Betroffenen wird auf seine Kosten (§§ 46 OWiG, 473 Abs. 7 StPO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.“

Das OLG untersucht u.a., ob es daran gebunden ist. Die Antwort – eie häufig: Ja, aber:

„Der Beschluss des Amtsgerichts Duisburg vom 7. März 2022 hat keinen bestimmten Regelungsgehalt und ist gegenstandslos.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass über einen Wiedereinsetzungsantrag das Gericht entscheidet, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 46 Abs. 1 StPO), hier also das Rechtsbeschwerdegericht. Denn der Wiedereinsetzungsantrag betrifft die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde.

Das Rechtsbeschwerdegericht ist allerdings an die Entscheidung gebunden, wenn das (insoweit unzuständige) Amtsgericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffend die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 49; OLG Hamm BeckRS 2011, 29517; Cremer in: BeckOK, StPO, 42. Edition 2022, § 46 Rdn. 5).

Vorliegend enthält der Beschluss über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand indes keine bestimmte Regelung, so dass die Entscheidung ins Leere geht und inhaltlich keine Bindungswirkung entfaltet.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Nachholung einzelner Verfahrensrügen kann ausnahmsweise dann erfolgen, wenn dem Verteidiger trotz angemessener Bemühungen vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist keine Akteneinsicht gewährt wurde und nach Fristablauf Verfahrensrügen nachgeschoben werden, die ohne Aktenkenntnis nicht begründet werden konnten. In einem solchen Ausnahmefall ist für jede Verfahrensrüge darzulegen, dass der Verteidiger durch die fehlende Akteneinsicht an einer ordnungsgemäßen Begründung gehindert war (vgl. BGH NStZ 1997, 45; OLG Zweibrücken wistra 2001, 277).

Zudem ist die Nachholung der versäumten Handlung gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BGH BeckRS 1988, 3434 = wistra 1989, 68 ; OLG Düsseldorf [1. Senat für Bußgeldsachen] VRS 67, 53 = JMBl NW 1984, 95; BayObLG BeckRS 1995, 11028; OLG Jena BeckRS 2018, 42958; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 45 Rdn. 11).

Daran fehlte es hier. Das (unzuständige) Amtsgericht hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf den verfrühten Antrag des Verteidigers vorab ohne jeglichen Bezug auf eine bestimmte Verfahrensrüge gewährt. Zum Zeitpunkt des Beschlusses vom 7. März 2022 war schon ungewiss, ob die danach gewährte Akteneinsicht dem Verteidiger überhaupt Anlass zur Nachholung einer oder mehrerer Verfahrensrügen geben würde. Erst recht war deren Inhalt nicht absehbar, so dass sich nicht beurteilen ließ, ob der Verteidiger durch die fehlende Akteneinsicht an einer ordnungsgemäßen Begründung gehindert war.

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die ohne konkreten Bezug auf eine gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 StPO nachgeholte Handlung vorab ins Ungewisse gewährt wird und sich gleichsam als „Blankoscheck“ für die künftige Nachholung beliebiger Verfahrensrügen darstellt, ist dem Gesetz fremd und mangels Bestimmtheit gegenstandslos.“