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Durchsuchung III: Und nochmals Anfangsverdacht, oder: Einmal reicht es, einmal nicht…..

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Im dritten Posting dann noch zwei Entscheidungen zur Durchsuchung, und zwar einmal hopp, einmal topp:

Zunächst hier der LG Magdeburg, Beschl. v. 04.05.2023 – 25 Qs 35/23 – ergangen in einem Ermittlungsverfahren wegen Jagdwilderei. In dem hat sich das AG bei der Anordnung einer Durchsuchung beim Beschuldigten allein auf Angaben mittelbarer Zeugen gestützt. Das hat dem LG nicht gereicht.

Zu der Entscheidung passt der Leitsatz:

Voraussetzung für die Anordnung der Durchsuchung gemäß § 102 StPO ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Straftat bereits begangen und nicht nur straflos vorbereitet worden ist. Hierfür müssen zumindest tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Ggf. ist die Vernehmung unmittelbarer Tatzeugen erforderlich.

Und dann komme ich noch einmal zurück auf den OLG Hamm, Beschl. v. 27.04.2023 – 3 RVs 16/23. Den hatte ich neulich schon wegen der materiellen Frage vorgestellt, Stichwort: Impfpassfälschung (vgl. hier: Corona I: Gefälschter Impfpass vor Kreistagssitzung, oder: Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse). Das OLG hat in der Entscheidung dann auch zur Zulässigkeit der Durchsuchung beim Angeklagten Stellung genommen und die bejaht:

2. Bei der Feststellung des Tatgeschehens hat das Landgericht kein Beweisverwertungsverbot missachtet. Die Verfahrensrüge ist unbegründet. Die durch Beschluss des Amtsgerichts Bielefeld vom 25. November 2021 angeordnete Durchsuchung bei dem Angeklagten, bei der der zur Tatausführung verwendete Impfausweis aufgefunden und sichergestellt wurde, war rechtmäßig.

a) Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden Durchsuchung beim Beschuldigten gem. § 102 StPO genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer an dieser Tat in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht (st. Rspr.; vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05 -, BGH, Beschluss vom 30. März 2023 – StB 58/22 -; Beschluss vom 26. Juni 2019 – StB 10/19 -; jeweils juris; jeweils m. w. N.).

Daran gemessen lagen sachlich zureichende Gründe für eine Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten vor. Denn der Angeklagte hatte gegenüber der Zeugin Q. angegeben, 300 bis 400 Ipfausweise des Impfzentrums Lage zu besitzen, und der Zeugin Q. einen solchen Impfausweis für 350 € zum Kauf angeboten. Die Zeugin Q. hatte dies dem Zeugen C. berichtet, der den Landrat in einem Gespräch hierüber informiert hatte. Diesen Gesprächsinhalt zeigte der Zeuge S. bei der Polizei an.

Zwar mögen die Angaben eines Zeugen, der nicht aus eigener Wahrnehmung über einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt berichten kann, weniger zuverlässig sein als die Angaben eines unmittelbaren Zeugen. Deshalb ist aber nicht umgekehrt den Angaben eines Zeugen vom Hörensagen von vornherein jeder Beweiswert abzusprechen; vielmehr können auch die Angaben eines mittelbaren Zeugen den für eine Durchsuchung ausreichenden Anfangsverdacht begründen (BGH, Beschluss vom 12. August 2015 – 5 StB 8/15 -, NStZ 2016, 370; vgl. auch Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, § 250, Rn. 10f.).

Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den Angaben um eine Falschbelastung handelt, bestanden nicht; für die Richtigkeit sprach vielmehr, dass die Information durch einen Parteifreund und Fraktionskollegen des Angeklagten weitergegeben wurde. Zudem hatten sich während der Pandemie AfD-Politiker und -Anhänger so ablehnend gegenüber den Corona-Schutzregelungen geäußert, dass ausreichend Anlass bestand, konkrete Hinweise auf die Verletzung von § 279 StGB a. F. durch Angehörige dieses Personenkreises ernst zu nehmen.

b) Die Durchsuchung war auch nicht unverhältnismäßig.

Die Maßnahme war geeignet, zur Klärung des Tatverdachts beizutragen. Gegenüber der Durchsuchung stand kein gleichwirksames milderes Mittel zur Verfügung. Denn auch eine Vernehmung der weiteren Zeugen hätte zu diesem Zeitpunkt keine abschließende Klärung herbeigeführt, ob der Angeklagte unwahre Impfausweise besitzt.

Die Durchsuchung war auch angemessen. Soweit mit § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 5 CoronaSchVO NRW in der seinerzeit gültigen Fassung der Zugang zu Veranstaltungen bzw. Angeboten von einer Immunisierung oder Testung abhängig gemacht wurde, diente dies dem Gesundheitsschutz der anderen Nutzer bzw. Besucher der betreffenden Einrichtungen oder Veranstaltungen (OVG NRW, Beschluss vom 30. September 2021 – 15 B 1529/21 -, juris, m. w. N.). Zur Erreichung dieses Zwecks war der Schutz des Rechtsverkehrs vor unwahren Impfzeugnissen unabdingbar. Die Verletzung des Vertrauens in die Richtigkeit von Gesundheitszeugnissen konnte in diesem Fall über die unmittelbare rechtliche Beziehung zwischen dem Angeklagten und dem Landrat weit hinausreichende, im Einzelfall für Dritte auch sehr ernsthafte gesundheitliche, schlimmstenfalls tödliche Folgen haben.“

Pflichti I: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: OLG Stuttgart, willkommen im Club

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Und am ersten Tag des neuen Monats dann gleich ein paar Entscheidungen zur Pflichtverteidigungsfragen.

Ich beginne mit dem verfahrensrechtlichen Dauerbrenner aus dem Bereich, nämlich der Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers. Und da gibt es dann heute mal etwas richtig Positives zu melden, nämlich nicht „nur“ einen weiteren LG- oder AG-Beschluss, der die zutreffende Ansicht vertritt, dass die rückwirkende Bestellung zulässig ist, sondern endlich auch mal wieder eine OLG-Entscheidung, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 Ws 529/22.

In der Sache ging es um einen der typischen § 154-er-Fälle. Das OLG hat dann – entgegen der Auffassung des LG Stuttgart – den Pflichtverteidiger nachträglich bestellt und begründet das wie folgt:

„2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg:

a) Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung auf seinen Antrag hin unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Vorliegend lag zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Denn der Beschwerdeführer befand sich seit 21. März 2022 in anderer Sache in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt.

bb) Er war auch unverteidigt im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO. Nach dem Wortlaut dieser Norm wird ein Pflichtverteidiger grundsätzlich nur bestellt, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. In Fällen wie diesem, in denen sich bereits ein Wahlverteidiger legitimiert hat, reicht es aus, wenn dieser ankündigt, im Moment der Bestellung als Pflichtverteidiger sein Wahlmandat niederzulegen (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 141 Rn. 4). Zwar enthält der Schriftsatz von Rechtsanwalt pp. vom 14. April 2022 eine solche Ankündigung nicht, dies steht der Beiordnung aber nicht entgegen. Denn auch der bloße Antrag des Wahlverteidigers, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger enden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.1982 – VI 5/82, StV 1983, 190; OLG München, Beschluss vom 06.03.1992 – 1 Ws 161/92, StV 1993, 65; Kämpfer/Travers in: MüKo, StPO, 2. Auflage, § 141 Rn. 4; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 141 Rn. 9).

cc) Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO war entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht möglich. Nach dieser Vorschrift kann eine Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden soll. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich aber auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen, § 141 Abs. 2 StPO. Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gemäß § 141 Abs. 1 ist sie nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Gegen eine unmittelbare Anwendung sprechen sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung innerhalb des § 141 StPO. Eine entsprechende Anwendung kommt mangels einer Regelungslücke nicht in Betracht (Krawczyk in: BeckOK StPO, § 141 Rn. 23 mwN).

b) Obwohl zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorlagen, hat das Landgericht dem Beschwerdeführer nicht unverzüglich (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO) Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet, sondern bis zum 9. November 2022 zugewartet, um dann das Verfahren einzustellen und den Beiordnungsantrag abzulehnen. In Fällen, in denen wie vorliegend die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde, ist es nach Auffassung des Senats ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung hat eine rückwirkende Beiordnung bislang mit dem Argument ausgeschlossen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Sie erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interessen eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Auch aus der Regelung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) folge nichts anderes, denn die Richtlinie sehe nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von Kosten freizuhalten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestehe gemäß Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie nur, wenn die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ein solches Erfordernis bestehe aber in rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr (OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268 Rn. 9-11; OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 – 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625; KG, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 Ws 30/20, BeckRS 2020, 9383 Rn. 13; OLG Hamburg Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077 Rn. 14; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, NStZ 2021, 253 (offengelassen für den Fall rechtzeitiger Antragstellung)).

bb) Teilweise wird die Ansicht vertreten, die rückwirkende Beiordnung sei jedenfalls dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt werde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO gegeben seien und die Entscheidung aus allein in der Sphäre der Justiz liegenden Gründen nicht vor Verfahrensabschluss erfolge. Dies ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie, wonach Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügten, ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zustehe, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Prozesskostenhilfe bedeute in diesem Zusammenhang die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden könne (Art. 3 PKH-Richtlinie). Geregelt sei nunmehr also, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden solle. Ziel und Zweck der Regelung sei eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil über den Antrag nicht vor Abschluss des Verfahrens entschieden werde. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO das Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. In der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sehe. Auch ein Vergleich mit den Regelungen bzgl. der Bewilligung von Prozesskostenhilfe spreche für die Möglichkeit einer rückwirkenden Beiordnung. So komme nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz grundsätzlich nicht in Betracht, etwas anderes gelte aber für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt worden sei, der nicht bzw. nicht vorab verbeschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20, BeckRS 2021, 8406 Rn. 4). Gründe, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers anders zu behandeln als einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, seien nicht ersichtlich (OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711 Rn. 14-19; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193 Rn. 22-26).

cc) Der Senat schließt sich der letztgenannten Ansicht an. Soweit von der gegenteiligen Auffassung eingewandt wird, Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie mache den Anspruch auf Prozesskostenhilfe davon abhängig, dass die Bewilligung im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei und eine solche Erforderlichkeit bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr bestehe, überzeugt dies insbesondere im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und damit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt (Kämpfer/Travers in: MüKOStPO, 2. Auflage, § 142 Rn. 14). Auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK wird das Recht einer angeklagten Person, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, davon abhängig gemacht, dass dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die „Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege“ wird in diesem Zusammenhang aber im Anschluss an die englische Sprachfassung („interests of justice“) nicht auf die Gesichtspunkte der Rechtspflege im Sinne objektiv-organisatorischer Erfordernisse reduziert, sondern vielmehr im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Angeklagten verstanden (Gaede in: MüKoStPO, 1. Auflage, EMRK Art. 6 Rn. 209). Ein Anlass, den Begriff der „Erforderlichkeit der Rechtspflege“ in der PKH-Richtlinie anders zu interpretieren besteht nicht, zumal in den Vorbemerkungen der Richtlinie ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Bezug genommen wird. Zur Verfahrensgerechtigkeit in diesem Sinne gehört es aber, die Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers danach zu treffen, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und ein entsprechender Antrag rechtzeitig gestellt wurde.“

Damit sind es dann insgesamt drei OLG, die die Frage zutreffend entscheiden.

Aus der übrigen, also der LG und AG-Rechtsprechung habe ich dann noch den LG Magdeburg, Beschl. v. 11.01.2023 – 25 Qs 712 Js 39489/22 (91/22). Das LG Magdeburg hat es schon immer richtig gemacht.

Pflichti I: Zweimal zu den Beiordnungsgründen, oder: Persönlichkeitsstörung/Borderline und schwieriges IfSG

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Am letzten Tag des Monats Januar – ich bin dann doch erstaunt, wie schnell die zeit an uns – zumindest an mir 🙂 – vorbeirauscht – dann noch einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigung.

Hier stelle ich zunächst zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen vor, und zwar:

Ist beim Beschuldigten eine Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ, im Sinne der Ziffer F60.31G nach ICD-10-Klassifikation, attestiert ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO zu bejahen. Insofern kommt es nicht darauf an, ob konkret kognitive Einschränkungen vorliegen, die im Sinne einer verminderten Aufnahmefähigkeit die Verteidigungsfähigkeit einschränken. Vielmehr genügt, dass die Prädisposition keine positive Prognose für ihre fortdauernde Verteidigungsfähigkeit zulässt.

Der Begriff der schwierigen Rechtslage ist weit auszulegen, da entscheidend ist, ob die Rechtslage für einen Laien schwierig ist. Dies ist sie zumindest dann der Fall, wenn eine Rechtsfrage in Rechtsprechung und Literatur streitig ist oder wenn sie Abgrenzungs- oder Subsumtionsprobleme bereitet, so bei ungeklärten Fragen des materiellen oder formellen Rechts. Die Rechtslage rund um die neuen Strafvorschriften des IfSG ist danach nicht einfach.

Pflichti III: Potpourri von Beiordnungsgründen, oder: Ausländer, Steuer, „ungeimpft“, Betreuung, Beweislage

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Und zum Tagesschluss dann noch einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen – also i.d.R. §3 140 Abs. 2 StPO. Hier stelle ich aber nur die Leitsätze vor, sonst wird es zu viel. Den Volltext muss man dann ggf. selbst lesen 🙂 . Und da sind dann.

Zur (verneinten) Bestellung eines Pflichtverteidigers für ein ukrainische Beschuldigte, der ein Vergehen gem. § 235 StGB vorgeworfen wird, deren Sprachdefizite durch die Zuziehung eines Dolmetschers ausgeglichen werden können.

Steht der Beschuldigte unter Betreuung und zählt zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden, ist insoweit stets von einer notwendigen Verteidigung wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung auszugehen.

Es liegt eine schwierige Beweislage, die die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordert vor, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen.

1. Es besteht schon eine schwierige Rechtslage, wenn divergierende obergerichtliche zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat (im Hinblick auf die Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist.
2. Eine schwierige Rechtslage besteht wohl auch, wenn eine Verständigung erörtert wird.
3. Bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsfolge sind in die Beurteilung ggf. durch eine Verurteilung drohende Nebenfolgen einzubeziehen.

In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (§ 140 Abs. 2 StPO).

Pflichti II: Nochmals/wieder Beiordnungsgründe, oder: § 35 BtMG, Gesamtstrafe, schwierige Beweislage

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Im zweiten „Pflichtverteidigungs-Posting“ dann einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

    1. Für das behördliche Verfahren über die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 BtMG kann dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger nicht bestellt werden; insoweit findet § 140 Abs. 2 StPO keine entsprechende Anwendung (entgegen Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. Oktober 2008 – 1 Ws 431/08, Rn. 18, juris).
    2. Stattdessen ist dem Verurteilten unter den Voraussetzungen des § 1 BerHG auf Antrag Beratungshilfe zu gewähren.

Mir ist bei der Entscheidung allerdings nicht ganz klar, warum man sich zu der Frage äußert, wenn es nicht darauf ankommt 🙂 .

Die Bestellung eines Verteidigers ist bei einer Straferwartung von um ein Jahr Freiheitsstrafe naheliegend. Das gilt vor allem dann, wenn das Verfahren einen gesteigerten Schwierigkeitsgrad aufweist, weil maßgebliche Bedeutung für die Überführung des bestreitenden Angeklagten ein Vergleich der vom Täter getragenen Kleidung,. wovon Bildaufnahmen einer Überwachungskameras vorhanden sind, mit bei dem Ange klagten sichergestellten Kleidungsstücken hat.

Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn gegen den Beschuldigten mehrere gesamtstrafenfähige Verfahren anhängig sind.