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Verkehrsrecht II: „Bedeutender Fremdschaden“?, oder: Grenze in Hamburg bei 1.800 EUR

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem LG Hamburg, Beschl. v. 09.08.2023 – 612 Qs 75/23 – aus Hamburg. Gegenstand der Entscheidung ist die Frage nach einem bedeutenden Schaden an fremden Sachen i.S. des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Das LG geht von 1.800 EUR aus. Begründung:

„1. Das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist nicht verwirklicht. Danach ist von der Ungeeignetheit eines Täters zum Führen eines Kraftfahrzeugs auszugehen, wenn dieser sich unerlaubt vom Unfallort entfernt, obwohl er weiß oder wissen kann, dass bei dem Unfall ein Mensch getötet oder nicht unerheblich verletzt worden oder an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist. Entgegen der Annahme des Amtsgerichts ist am Pkw des Zeugen D. mit 1.625,25 Euro (vgl. Kfz-Haftpflichtschadensgutachten des Autotax-Expert e.K. vom 13.10.2022, Bl. 34 ff. d.A.) kein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB entstanden. Zwar haben die Verkehrsbeschwerdekammern des Landgerichts Hamburg bislang einen bedeutenden Fremdschaden ab einer Wertgrenze von 1.500,00 Euro angenommen (st. Rspr. seit dem Beschluss des LG Hamburg vom 01.02.2007 zum Az. 603 Qs 54/07, BeckRS 2008, 11566). Jedoch sind bei der Beurteilung eines Schadens als bedeutend im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB auch die fortschreitende Entwicklung der Reparaturkosten und die Einkommensentwicklung zu berücksichtigen (vgl. bereits LG Hamburg, Beschluss vom 19.07.1991, Az.: 603 Qs 607/91 Rn. 9, zitiert nach juris). Bereits aus diesem Grunde erscheint eine Anhebung der Wertgrenze mittlerweile angebracht. Zudem sollte die Wertgrenze deshalb nicht zu niedrig bemessen werden, weil sonst die Relation zu den anderen Merkmalen „Tötung oder nicht unerhebliche Verletzung eines Menschen“ nicht gewahrt wäre (von Heintschel-Heinegg/Huber in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2020, § 69 Rn. 72). Ausgehend davon haben sich sämtliche Verkehrsbeschwerdekammern des Landgerichts Hamburg darauf verständigt, den Wert, ab welchem ein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB anzunehmen ist, auf 1.800,00 Euro anzuheben. Diese moderate Erhöhung trägt der allgemeinen Preissteigerung (allein im Jahr 2022 stiegen die Verbraucherpreise im Schnitt um 7,9%, vgl. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html#:~:text=022%20vom%2017.,Januar%202023&text=WIESBADEN%20%E2%80%93%20Die%20Verbraucherpreise%20in%20Deutschland,als%20in%20den%20vorangegangenen%20Jahren, zuletzt abgerufen am 08.08.2023) Rechnung und setzt die Merkmale „Tötung oder nicht unerhebliche Verletzung eines Menschen“ und „bedeutender Schaden“ in ein dem Telos des Regelbeispiels entsprechendes Verhältnis.“

Zeuge III: Besonders kritische Würdigung der Aussage, oder: Intensive Traumatherapie nach Reddemann

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Und dann habe ich hier noch das LG Hamburg, Urt. v. 23.01.2023 – 606 KLs 9/19 -, das mir der Kollege Laudon aus Hamburg geschickt hat (Näheres zum Kollegen hier). Es handelt sich um einen Freispruch vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Den hat man einem Vater gemacht, dem man sexuelle Handlungen an und mit seinem Sohn vorgeworfen hat, begangen im Jahr 2010. Der Sohn hatte sich dazu erst im Mai 2018 geäußert. Das LG hat den Angeklagten frei gesprochen, weil es die Aussage des Sohnes einer Verurteilung nicht zugrunde legen konnte/wollte. Begründung: Beim Sohn war eine Traumatherapie nach Reddemann durchgeführt worden, zwar eins der führenden Verfahren in der Traumatherapie, aber ggf. mit suggestiver Wirkung.

Das LG führt in der Beweiswürdigung aus:

„Er hat sich zu den Tatvorwürfen nicht eingelassen. In Ermangelung sonstiger Beweismittel beruhten die Anklagevorwürfe daher allein auf den Angaben des Zeugen pp., die dieser namentlich im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung am 4. Mai 2018 gemacht hatte. In der Hauptverhandlung konnte ein Tatnachweis allein auf Grundlage der Angaben des Zeugen pp. indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit geführt werden.

1. Der Zeuge pp. hat die anklagegegenständlichen Tatvorwürfe in ihren Einzelheiten erstmalig im Rahmen der vorgenannten polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 – etwa acht Jahre nach dem in Rede stehenden Tatzeitraum – geschildert. Zuvor hatte er sich lediglich gegenüber seiner Mutter insoweit einmal anvertraut, als er ihr im Jahr 2010, kurze Zeit nach der letzten anklagegegenständlichen Tat, als er ein weiteres Wochenende bei dem Angeklagten verbringen sollte, berichtete, dass er dies nicht wolle, da der Angeklagte ihn „angefasst“ habe. Diesen Vorwurf hat der Zeuge pp. indes weder in diesem Gespräch mit seiner Mutter noch in der Folgezeit zunächst weiter ausgeführt oder konkretisiert. Ab Januar 2017 begab er sich sodann in psychologische Behandlung bei der Psychologin Dr. pp., wofür nach den Angaben des Zeugen pp. (auch) eine depressive .Symptomatik anlassgebend war, unter der er indes schon vor dem anklagegegenständlichen Tatzeitraum gelitten hatte. Im Rahmen der Behandlung fand insbesondere eine intensive tiefenpsychologische Traumatherapie (nach Reddemann) statt. Erst nach über 100 Therapiestunden bei der Psychologin Dr. pp. erstattete der Zeuge pp. am 20. April 2018 schließlich Strafanzeige gegen den Angeklagten und machte im Rahmen der polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 umfassende Angaben zu den einzelnen (vermeintlichen) Taten.

2. Vor dem Hintergrund der gegebenen Aussageentstehung und der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation waren die Angaben des Zeugen besonders kritisch zu würdigen. Die Kammer hat daher ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, das der Sachverständige pp. in der Hauptverhandlung erstattet hat. Der forensisch erfahrene Sachverständige, dessen Gutachten auf zutreffenden Anknüpfungstatsachen – unter anderem auf den weiteren Angaben des Zeugen pp. im Rahmen der Exploration – fußt und an dessen Fachkunde die Kammer keinerlei Zweifel hat, ist schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht auszuschließen ist, dass die Angaben des Zeugen pp. auch anders erklärbar sind als durch einen tatsächlichen Erlebnisbezug.

Zwar bestünden keine Anhaltspunkte für eine intentionale Falschbezichtigung des Angeklagten durch den Zeugen pp. Es sei jedoch insbesondere möglich, dass es sich vorliegend um eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer vermeintlichen Erinnerung basierende Darstellung handelt, deren Inhalt jedoch keine reale Entsprechung hat (sog. „Suggestionshypothese“ als konkrete Ableitung der Nullhypothese). In den Angaben des Zeugen pp. sei insbesondere auffällig, dass dieser häufig zu Erklärungen auf der Metaebene neige. Sein Berichtsstil sei insgesamt wenig beschreibend, sondern – gerade auch bei den tatrelevanten Umständen – fast durchgängig interpretierend. Der Zeuge selbst habe sich zudem immer wieder darauf zurückgezogen, dass er sich „an ziemlich nichts mehr“ erinnere, da er fast alles aus seiner Kindheit „weggeschmissen“ habe oder sich auch nicht erinnern wolle. Andererseits habe er bekundet, er würde sich gerne genauer erinnern können, jedoch sei er, so der Sachverständige, jeweils selbst unsicher über die Quelle seiner teilweise vorhandenen Erinnerungen. Der Sachverständige hat überdies nachvollziehbar dargelegt, dass durch entsprechende Techniken – insbesondere im Rahmen einer Traumatherapie der hier angewandten Art (nach Reddemann) – solche Vorstellungen und insbesondere lebhafte mentale Vorstellungsbilder getriggert werden könnten. Die Vorgehensweise dieser Traumatherapie bestehe darin, Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und -tröstung zu erwerben, indem vorhandene traumatische Erinnerungen kognitiv durchgearbeitet würden. Der Zeuge pp. berichtete selbst, eigentlich zu wenig zu erinnern, um einen „sicheren Fall“ zu begründen, da er zu viel verdrängt habe. Ziel der Traumatherapie sei es gewesen, die im damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Erinnerungen, die der Zeuge als „Blitze“ beschreibt, durch ein „Nachgraben“ zu erweitern und – so der Sachverständige – „wie ein Puzzle“ in einen Zusammenhang zu bringen. Hierdurch solle dem Patienten Verständlichkeit und Sinngebung vermittelt werden, was therapeutisch durchaus erstrebenswert sei, jedoch eine erhebliche suggestive Wirkung für den Patienten entfalte. Vor dem Hintergrund dieses Therapieansatzes sei es mit großer Wahrscheinlichkeit zu nachträglichen Verzerrungen seiner Vorstellungen aber auch zu gänzlichen Neubewertungen vorliegender Erinnerungen gekommen. Dies habe sich auch im Rahmen der Exploration gezeigt, indem der Zeuge je versucht habe, Erinnerungslücken in der Sache mithilfe der Erinnerungen an die therapeutischen Prozesse zu füllen, anstatt sie bestehen zu lassen.

Vor dem Hintergrund der Aussageentwicklung und namentlich der erheblichen Erweiterung der ursprünglichen Angaben des Zeugen – er sei „angefasst“ worden – (erst) im Nachgang zu der stattgefundenen Traumatherapie, könne nach alledem nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den nunmehr geschilderten Begebenheiten um Pseudoerinnerungen handelt, die durch die suggestiven Einflüsse der Traumatherapie induziert worden sind. Die aufgestellte Suggestionshypothese könne mithin nicht zurückgewiesen werden. Schon methodisch sei dies – aufgrund der von dem Patienten nicht zu unterscheidenden Pseudoerinnerungen und Erinnerungen an tatsächliche Begebenheiten – insbesondere durch eine merkmalsorientierte Inhaltsanalyse der Angaben des Zeugen pp. nicht möglich, wobei der Sachverständige ungeachtet dessen weiter überzeugend ausgeführt hat, dass und inwiefern die Aussagequalität ohnehin nicht besonders hoch sei: Die Gesamtaussage falle zwar einigermaßen umfangreich aus, sei jedoch nicht immer logisch konsistent und anschaulich, oft aber schemakonsistent und wenig detailliert. Auffällig sei zudem, dass der Zeuge pp. häufig nur aus der Perspektive der „Draufsicht“, mit zahlreichen interpretatorischen Erklärungen berichtet habe.

Die Kammer schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen pp. nach eigener Würdigung an und erachtet die Angaben des Zeugen als nicht hinreichend belastbar, um auf diese eine Verurteilung des Angeklagten zu stützen. Der Angeklagte war mithin er im Ergebnis freizusprechen.“

Ich stelle das Urteil hier ein, um Kollegen ggf. zu sensibilieren, wenn sie in einer Akte Hinweise auf diese Traumatherapie finden. Das muss sich allerdings nicht unbedingt aus der Akte ergeben. Daher kann es sich empfehlen, ggf. einen Antrag auf Beiziehung der Behandlungsunterlagen zu stellen.

StPO III: „Es handelt sich um „Verteidigerpost!“, oder: Auch Querlesen ist zur Kontrolle nicht erlaubt

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Und als dritte und letzte Entscheidung dann noch etwas zu § 148 StPO, nämlich zum Begriff der „Verteidigerpost“.

Der Beschuldigte hat als Untersuchungsgefangener das Vorgehen eines Bediensteten der JVA  bei der Kontrolle der von ihm zu einer zu Verteidigerbesprechung mitgebrachten 14 handschriftlich beschriebenen Seiten beanstandet. Der Bedienstete hatte den Beschuldigten zu einer Besprechung mit dessen Verteidiger in die Vorführabteilung gebracht. Im Rahmen der Personenkontrolle auf der Station legte der Beschuldigte die beschriebenen Seiten auf dem Tisch ab und erklärte, dass es sich um Verteidigerpost handele, die der Bedienstete nicht lesen dürfe. Der Bedienstete erklärte daraufhin, er werde kurz darüber schauen, nahm die Unterlagen, blätterte sie durch und sichtete sie dabei auszugsweise, um feststellen zu können, ob es sich um Verteidigungsunterlagen handelte. Anschließend händigte er sie dem Antragsteller aus. Ob ein „Querlesen“ durch den Bediensteten stattfand, ist streitig.

Das LG Hamburg hat im LG Hamburg, Beschl. v. 17.01.2023 – 621 Ks 14/22 – die Vorgehensweise als rechtswidrig angesehen:

„2. Der Antrag ist auch begründet. Die Durchsicht der schriftlichen Unterlagen des Antragstellers am 13.12.2022 durch den Bediensteten der Antragsgegnerin war rechtswidrig. Sie verstieß gegen den Grundsatz des unüberwachten und ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem.

Gemäß § 23 Abs. 3 HmbUVollzG dürfen beim Besuch von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten mitgeführte Schriftstücke und sonstige Unterlagen übergeben werden, ihre inhaltliche Überprüfung ist nicht zulässig. Darüber hinaus wird der Schriftwechsel mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, soweit sie von den Untersuchungsgefangenen mit der Vertretung einer Rechtsangelegenheit nachweislich beauftragt wurden, gemäß § 25 Abs. 2 HmbUVollzG nicht überwacht. Auch der in § 148 Abs. 1 StPO niedergelegte Grundsatz des ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem beinhaltet, dass der Schriftverkehr des Beschuldigten mit dem Verteidiger inhaltlich nicht überwacht werden darf. Unter Anwendung dieses Grundsatzes beschränkt sich die Briefkontrolle der Haftanstalt darauf, ob sie nach den äußeren Kennzeichen eine Korrespondenz zwischen Mandanten und Verteidiger betrifft. Liegen diese Voraussetzungen vor, so ist die Post ohne inhaltliche Prüfung weiterzuleiten (OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.11.2004 —3 VAs 20/04 —, juris; Willnow in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 148 Rn. 8).

Allenfalls bei gewichtigen Anhaltspunkten für einen Missbrauch des Schutzes des ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem kann eine Durchsicht der Schriftstücke zulässig sein (OLG Frankfurt, a.a.O.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 148 Rn. 7).

Unter Anlegung dieser Maßstäbe war das Vorgehen der Antragsgegnerin bei der Kontrolle der Unterlagen rechtswidrig. Bei einer umfassenden Würdigung der Angaben des Antragstellers, der Antragsgegnerin und der Stellungnahme des Bediensteten hat die Kammer vorliegend keine Zweifel daran, dass der Bedienstete pp, die beschriebenen Seiten im Wege des „Überfliegens“ oder „Querlesens“ inhaltlich daraufhin überprüfte, ob es sich um Verteidigerpoet handelte, und die Schriftstücke nicht lediglich — ohne Kenntnisnahme von ihrem Inhalt — daraufhin überprüfte, ob sich dazwischen oder darunter auch gefährliche oder verbotene Gegenstände befanden. Soweit die Antragsgegnerin ein solches „Querlesen“ bestreitet, setzt sie sich dabei zu ihrem eigenen Vortrag in Widerspruch:

Die Angabe des Bediensteten pp  in seiner Stellungnahme vom 20.12.2022, er habe die Unterlagen angeschaut, da sie nicht als Verteidigerunterlagen deklariert gewesen seien, bestätigt gerade die Darstellung des Antragstellers, wonach der Bedienstete die Unterlagen mit Blick auf deren Inhalt überprüfte. Dies ergibt sich auch unmissverständlich aus der Stellungnahme der Antragsgegnerin, wonach der Bedienstete gezwungen gewesen sei, die Unterlagen kurz zu sichten, um sicher feststellen zu können, dass es sich um Verteidigungsunterlagen handelte: „Dem Bediensteten wäre es nicht möglich gewesen zu entscheiden, ob die mitgeführten Unterlagen tatsächlich Verteidigungsunterlagen waren, ohne diese wenigstens auszugsweise zu sichten.“ Nahezu identisch lautete der Antragsschrift zufolge auch die Erklärung des  Bediensteten gegenüber dem Verteidiger, Rechtsanwalt pp., noch am 13.12.2022. Ein solches Vorgehen setzt aber gerade das „Querlesen“ der Unterlagen voraus, das nach Angaben der Antragsgegnerin dennoch nicht stattgefunden haben soll. Die Angabe des Bediensteten in seiner Stellungnahme vom 20.12.2022, er habe die Unterlagen nur auf gefährliche und verbotene Gegenstände durchsucht, ist vor diesem Hintergrund mit dem übrigen Vortrag der Antragsgegnerin ebenso wie mit seinen übrigen Angaben nicht vereinbar. Insofern geht die Kammer davon aus, dass der Bedienstete, wie von dem Antragsteller vorgetragen, diese Unterlagen tatsächlich mindestens auszugsweise „querlas“ und dieses Vorgehen auch gegenüber dem Verteidiger, Rechtsanwalt pp., wie im Antrag dargestellt auf Nachfrage bestätigte.

Der Umstand, dass es sich bei den Unterlagen – wie die Antragsgegnerin vorträgt -„nicht um offiziell gekennzeichnete ‚Verteidigerpost‘ handelte, sondern um ein Konvolut von handschriftlich beschriebenen Blättern, vermag nichts an der Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens zu ändern. Denn der Antragsteller hatte diese Schriftstücke unmissverständlich zu Beginn der Kontrolle — wenn auch nur mündlich — als solche Verteidigerpost deklariert. Vor dem Hintergrund, dass er sich, wie der Bedienstete wusste, gerade auf dem Weg zum Verteidigergespräch befind, konnte somit über die Zuordnung der Schriftstücke keinerlei begründeter Zweifel bestehen. Der Schutz des ungehinderten Schriftverkehrs mit dem Verteidiger kann nicht geringer ausfallen, wenn der Untersuchungsgefangene (sogar) darauf verzichtet, die entsprechenden Schriftstücke in einem verschlossenen, mit „Verteidigerpost“ beschriebenen Umschlag zu verwahren, sofern wie hier die Zuordnung als Verteidigerpost dennoch eindeutig ist.“

Pflichti II: Entpflichtung des Pflichtverteidigers, oder: häufige Verhinderung, gestörtes Vertrauen, Ermessen

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Im zweiten Posting stelle ich drei Entscheidungen zur Entpflichtung vor, und zwar einmal BGH, einmal OLG Köln und einmal LG Hamburg. Ich stelle hier aber nur die Leitsätze der Entscheidungen ein. Die genauen Einzelhieten dann bitte ggf. in den verlinkten Volltexten nachlesen. Hier kommen dann.

Es ist aus einem „sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet, wenn der Pflichtverteidiger an acht von 16 Hauptverhandlungstagen verhindert ist. Bei der Prüfung der insoweit maßgeblichen Grundsätze ist das Interesse des Angeklagten an der Beibehaltung des bisherigen, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers gegenüber der insbesondere in Haftsachen gebotenen Verfahrensbeschleunigung abzuwägen.

    1. Das Strafverfahren im Sinne von § 143 Abs. 1 StPO umfasst auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen, die den Inhalt des rechtskräftigen Urteils zu ändern oder zu ergänzen vermögen. Hierzu gehören auch Entscheidungen nach § 57 JGG.
    2. Liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese grundsätzlich gemäß § 143 a Abs: 1 Satz 1 StPO vorzunehmen. Ein Ermessen des Vorsitzenden des Gerichts, die Bestellung eines Verteidigers gleichwohl fortdauern zu lassen, besteht schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht.
    1. Der Beschuldigte muss die für eine etwaige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses sprechenden Umstände, die zu einer Entpflichtung des Pflichtverteidigers führen soll,  hinreichend konkret vorbringen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen, eine Entpflichtung nicht.
    2. Hinsichtlich des Entpflichtungsantrag eines Verteidigers gilt, dass die Frage, ob das Vertrauensverhältnis endgültig gestört ist, vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten aus zu beurteilen ist. Der Beschuldigte soll die Entpflichtung nicht durch eigenes Verhalten erzwingen können. Ein im Verhältnis des Beschuldigten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund ist deshalb regelmäßig nicht anzuerkennen, wenn dieser Grund allein vom Beschuldigten verschuldet ist.

 

Einziehung III: Ist der Verurteilte entreichert = pleite? oder: Tatsachengrundlage und Verhältnismäßigkeit

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Die dritte Entscheidung befasst sich mit einer vollstreckungsrechtlichen Frage bei einer angeordneten Einziehung. Es geht im LG Hamburg, Beschl. v. 24.08.2022 – 607 StVK 395/22 – um die Frage des sog. Vermögensabflusses und damit um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 459g Abs. 5 StPO.

Der Angeklagte war vom LG wegen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden, zudem hatte man die Einziehung des Wertersatzes des Taterlangten in Höhe von 70.815,00 Euro angeordnet. Dem lag zugrunde, dass der Verurteilte zwischen dem 04.04.2020 und dem 10.06.2020 unter Verwendung der „Encrochat“-Verschlüsselungssoftware (sic!) gewinnbringend mit Betäubungsmitteln gehandelt hatte. Mit Blick auf die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten hatte das LG festgestellt, dass der Verurteilte Geld für Alkohol, Kokain und Onlineglücksspiele ausgegeben hatte, jedoch zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung auch private Schulden mit monatlichen Raten in Höhe von 50 EUR bediente.

Im Rahmen der Vollstreckung hatte der Verurteilte dann beantragt, das Unterbleiben der Vollstreckung der Einziehung anzuordnen. Er habe sein gesamtes Vermögen verspielt, zudem eine stationäre Entzugsbehandlung durchgeführt und befinde sich nun auf einem guten Weg. Er sei entreichert und die Vollstreckung auch im Übrigen unverhältnismäßig, da sie seine Resozialisierung wesentlich erschweren würde.

Mit dem Antrag hatte er beim LG keinen Erfolg. Das hat die Frage, ob altes oder neues Recht anzuwenden ist, offen gelassen. Zur Frage des Vermögensabflusses führt es u.a. aus, dass der entsprechende Vortrag nicht konkret genug sei – insoweit bitte selbst lesen. Und dann schließt es zur Frage der Verhältnismäßigkeit an:

„3. Die Vollstreckung der Einziehung des Wertersatzes des Taterlangten ist auch nicht sonst unverhältnismäßig. An die Unverhältnismäßigkeit sind mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel der effektiven Vermögensabschöpfung hohe Anforderungen zu stellen, sie kann nur angenommen werden, wenn die Resozialisierung des Einziehungsadressaten wesentlich erschwert würde, die Vollstreckung eine erdrückende Wirkung zur Folge hat oder das Übermaßverbot verletzt ist.

Das grundrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Verurteilten steht einer Vollstreckung der Wertersatzeinziehung vorliegend nicht entgegen. Die Vollstreckungsbehörde ist grundsätzlich gehalten, die Nutznießung von Verbrechensgewinnen zu unterbinden, so dass die typischerweise mit jeder Einziehung verbundene Belastung für den Adressaten für sich genommen nicht zum Unterbleiben der Vollstreckung führen kann. Vielmehr müssen im Einzelfall besondere Gründe hinzutreten, die eine Gefährdung der Resozialisierungsmöglichkeiten durch die Vollstreckung der Einziehungsentscheidung konkret befürchten lassen und denen nicht durch Maßnahmen nach § 459g Abs. 2 StPO i.V.m. § 459a StPO begegnet werden kann (vgl. hierzu auch: KG Berlin, Beschluss vom 07.09.2020, 161 AR 146/19, BeckRS 2020, 39454). Dafür ist hier nichts ersichtlich. Die pauschale Behauptung des Verurteilten, die Vollstreckung der Einziehung würde ihn wieder in die Gefahr der Drogen- und Spielsucht bringen, genügt nicht, um die Unverhältnismäßigkeit der Vollstreckung zu begründen. Der Verurteilte hat selbst bereits berufliche Pläne skizziert, mit denen er seinen Lebensunterhalt künftig decken möchte. Aufgrund seines noch jungen Lebensalters ist auch nicht ersichtlich, warum er nicht in der Lage sein sollte, längerfristig Einkommen zu generieren, das über der Pfändungsfreigrenze liegt. Darüber hinaus hat er bereits eine Entzugsbehandlung erfolgreich absolviert und ein Hang zum übermäßigen Konsum sowie die Gefahr darauf zurückgehender Straftaten liegt nach sachverständiger Einschätzung bei dem Verurteilten nicht vor. Eine soziale Gefährdung durch sein Konsumverhalten wurde ausdrücklich nicht angenommen (S. 44 des Urteils vom 15.07.2021). Auch eine Verschlechterung der finanziellen Situation der Familie des Verurteilten gegenüber deren Lebenssituation bei Begehung der Taten ist mit Blick auf die auch bei der Vollstreckung geltenden Pfändungsfreigrenzen nicht zu befürchten.

Eine erdrückende Wirkung oder die Verletzung des Übermaßverbotes sind ebenso wenig dargelegt und auch nicht ersichtlich. Hierbei ist insbesondere in den Blick zu nehmen, dass neben den ohnehin greifenden Pfändungsschutzvorschriften nach §§ 459g Abs. 2, 459a StPO Zahlungserleichterungen vereinbart werden können. Darüber hinaus kann auch die Vollstreckungsbehörde gemäß §§ 459g Abs. 2, 459c Abs. 2 StPO von der Vollstreckung absehen, wenn zu erwarten ist, dass sie in absehbarer Zeit zu keinem Erfolg führen wird, etwa weil keine Vermögenswerte auffindbar sind.