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Zeuge III: Besonders kritische Würdigung der Aussage, oder: Intensive Traumatherapie nach Reddemann

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Und dann habe ich hier noch das LG Hamburg, Urt. v. 23.01.2023 – 606 KLs 9/19 -, das mir der Kollege Laudon aus Hamburg geschickt hat (Näheres zum Kollegen hier). Es handelt sich um einen Freispruch vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Den hat man einem Vater gemacht, dem man sexuelle Handlungen an und mit seinem Sohn vorgeworfen hat, begangen im Jahr 2010. Der Sohn hatte sich dazu erst im Mai 2018 geäußert. Das LG hat den Angeklagten frei gesprochen, weil es die Aussage des Sohnes einer Verurteilung nicht zugrunde legen konnte/wollte. Begründung: Beim Sohn war eine Traumatherapie nach Reddemann durchgeführt worden, zwar eins der führenden Verfahren in der Traumatherapie, aber ggf. mit suggestiver Wirkung.

Das LG führt in der Beweiswürdigung aus:

„Er hat sich zu den Tatvorwürfen nicht eingelassen. In Ermangelung sonstiger Beweismittel beruhten die Anklagevorwürfe daher allein auf den Angaben des Zeugen pp., die dieser namentlich im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung am 4. Mai 2018 gemacht hatte. In der Hauptverhandlung konnte ein Tatnachweis allein auf Grundlage der Angaben des Zeugen pp. indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit geführt werden.

1. Der Zeuge pp. hat die anklagegegenständlichen Tatvorwürfe in ihren Einzelheiten erstmalig im Rahmen der vorgenannten polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 – etwa acht Jahre nach dem in Rede stehenden Tatzeitraum – geschildert. Zuvor hatte er sich lediglich gegenüber seiner Mutter insoweit einmal anvertraut, als er ihr im Jahr 2010, kurze Zeit nach der letzten anklagegegenständlichen Tat, als er ein weiteres Wochenende bei dem Angeklagten verbringen sollte, berichtete, dass er dies nicht wolle, da der Angeklagte ihn „angefasst“ habe. Diesen Vorwurf hat der Zeuge pp. indes weder in diesem Gespräch mit seiner Mutter noch in der Folgezeit zunächst weiter ausgeführt oder konkretisiert. Ab Januar 2017 begab er sich sodann in psychologische Behandlung bei der Psychologin Dr. pp., wofür nach den Angaben des Zeugen pp. (auch) eine depressive .Symptomatik anlassgebend war, unter der er indes schon vor dem anklagegegenständlichen Tatzeitraum gelitten hatte. Im Rahmen der Behandlung fand insbesondere eine intensive tiefenpsychologische Traumatherapie (nach Reddemann) statt. Erst nach über 100 Therapiestunden bei der Psychologin Dr. pp. erstattete der Zeuge pp. am 20. April 2018 schließlich Strafanzeige gegen den Angeklagten und machte im Rahmen der polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 umfassende Angaben zu den einzelnen (vermeintlichen) Taten.

2. Vor dem Hintergrund der gegebenen Aussageentstehung und der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation waren die Angaben des Zeugen besonders kritisch zu würdigen. Die Kammer hat daher ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, das der Sachverständige pp. in der Hauptverhandlung erstattet hat. Der forensisch erfahrene Sachverständige, dessen Gutachten auf zutreffenden Anknüpfungstatsachen – unter anderem auf den weiteren Angaben des Zeugen pp. im Rahmen der Exploration – fußt und an dessen Fachkunde die Kammer keinerlei Zweifel hat, ist schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht auszuschließen ist, dass die Angaben des Zeugen pp. auch anders erklärbar sind als durch einen tatsächlichen Erlebnisbezug.

Zwar bestünden keine Anhaltspunkte für eine intentionale Falschbezichtigung des Angeklagten durch den Zeugen pp. Es sei jedoch insbesondere möglich, dass es sich vorliegend um eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer vermeintlichen Erinnerung basierende Darstellung handelt, deren Inhalt jedoch keine reale Entsprechung hat (sog. „Suggestionshypothese“ als konkrete Ableitung der Nullhypothese). In den Angaben des Zeugen pp. sei insbesondere auffällig, dass dieser häufig zu Erklärungen auf der Metaebene neige. Sein Berichtsstil sei insgesamt wenig beschreibend, sondern – gerade auch bei den tatrelevanten Umständen – fast durchgängig interpretierend. Der Zeuge selbst habe sich zudem immer wieder darauf zurückgezogen, dass er sich „an ziemlich nichts mehr“ erinnere, da er fast alles aus seiner Kindheit „weggeschmissen“ habe oder sich auch nicht erinnern wolle. Andererseits habe er bekundet, er würde sich gerne genauer erinnern können, jedoch sei er, so der Sachverständige, jeweils selbst unsicher über die Quelle seiner teilweise vorhandenen Erinnerungen. Der Sachverständige hat überdies nachvollziehbar dargelegt, dass durch entsprechende Techniken – insbesondere im Rahmen einer Traumatherapie der hier angewandten Art (nach Reddemann) – solche Vorstellungen und insbesondere lebhafte mentale Vorstellungsbilder getriggert werden könnten. Die Vorgehensweise dieser Traumatherapie bestehe darin, Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und -tröstung zu erwerben, indem vorhandene traumatische Erinnerungen kognitiv durchgearbeitet würden. Der Zeuge pp. berichtete selbst, eigentlich zu wenig zu erinnern, um einen „sicheren Fall“ zu begründen, da er zu viel verdrängt habe. Ziel der Traumatherapie sei es gewesen, die im damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Erinnerungen, die der Zeuge als „Blitze“ beschreibt, durch ein „Nachgraben“ zu erweitern und – so der Sachverständige – „wie ein Puzzle“ in einen Zusammenhang zu bringen. Hierdurch solle dem Patienten Verständlichkeit und Sinngebung vermittelt werden, was therapeutisch durchaus erstrebenswert sei, jedoch eine erhebliche suggestive Wirkung für den Patienten entfalte. Vor dem Hintergrund dieses Therapieansatzes sei es mit großer Wahrscheinlichkeit zu nachträglichen Verzerrungen seiner Vorstellungen aber auch zu gänzlichen Neubewertungen vorliegender Erinnerungen gekommen. Dies habe sich auch im Rahmen der Exploration gezeigt, indem der Zeuge je versucht habe, Erinnerungslücken in der Sache mithilfe der Erinnerungen an die therapeutischen Prozesse zu füllen, anstatt sie bestehen zu lassen.

Vor dem Hintergrund der Aussageentwicklung und namentlich der erheblichen Erweiterung der ursprünglichen Angaben des Zeugen – er sei „angefasst“ worden – (erst) im Nachgang zu der stattgefundenen Traumatherapie, könne nach alledem nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den nunmehr geschilderten Begebenheiten um Pseudoerinnerungen handelt, die durch die suggestiven Einflüsse der Traumatherapie induziert worden sind. Die aufgestellte Suggestionshypothese könne mithin nicht zurückgewiesen werden. Schon methodisch sei dies – aufgrund der von dem Patienten nicht zu unterscheidenden Pseudoerinnerungen und Erinnerungen an tatsächliche Begebenheiten – insbesondere durch eine merkmalsorientierte Inhaltsanalyse der Angaben des Zeugen pp. nicht möglich, wobei der Sachverständige ungeachtet dessen weiter überzeugend ausgeführt hat, dass und inwiefern die Aussagequalität ohnehin nicht besonders hoch sei: Die Gesamtaussage falle zwar einigermaßen umfangreich aus, sei jedoch nicht immer logisch konsistent und anschaulich, oft aber schemakonsistent und wenig detailliert. Auffällig sei zudem, dass der Zeuge pp. häufig nur aus der Perspektive der „Draufsicht“, mit zahlreichen interpretatorischen Erklärungen berichtet habe.

Die Kammer schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen pp. nach eigener Würdigung an und erachtet die Angaben des Zeugen als nicht hinreichend belastbar, um auf diese eine Verurteilung des Angeklagten zu stützen. Der Angeklagte war mithin er im Ergebnis freizusprechen.“

Ich stelle das Urteil hier ein, um Kollegen ggf. zu sensibilieren, wenn sie in einer Akte Hinweise auf diese Traumatherapie finden. Das muss sich allerdings nicht unbedingt aus der Akte ergeben. Daher kann es sich empfehlen, ggf. einen Antrag auf Beiziehung der Behandlungsunterlagen zu stellen.

StGB III: Sexueller Missbrauch durch einen Arzt, oder: Missbrauch auch bei Einverständnis der Patientin?

entnommen wikimedi.org
Urheber Rieser Bauernmuseum Maihingen

Und als dritte Entscheidung stelle ich das OLG Hamm, Urt. v. 27.09.2022 – 5 RVs 60/22 – vor. Es geht noch einmal um sexuellen Missbrauch, und zwar der sexuelle Missbrauch eines Arztes – also § 174c StGB -, allerdings in der „Sonderform“: Mit Einverständnis der Patientin.

Das AG hatte den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte Rechtsmittel und die Staatsanwaltschaft Berufung zu seinen Ungunsten eingelegt. Im Berufungshauptverhandlungstermin hat die Staatsanwaltschaft die Berufung zurückgenommen. Das LG hat dann das AG-Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen. Dagegen nun die Revisionen der Nebenklägerin und der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatten.

Die Feststellungen des LG lassen sich in etwa wie folgt zusammenfassen – wegen der Einzelheiten verweise ich auf den verlinkten Volltext: Die Nebenklägerin befand sich wegen eines Frozen-Shoulder-Syndroms sowie diffuser Schmerzen im linken Oberschenkel in der Behandlung des Angeklagten, welcher als Orthopäde und Osteopath eine Privatpraxis betreibt. Die ganzheitlich ausgerichtete Behandlung fand an über 30 Terminen statt und umfasste in etwa zur Hälfte der Behandlungseinheiten auch ein Persönlichkeitscoaching der Nebenklägerin. Nach Besserung der Beschwerden brachte die Nebenklägerin dem Angeklagten immer mehr Zuneigung entgegen; es entstand zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin eine sexuelle Anziehung. Bei einer Behandlung griff der Angeklagte unter dem Slip der Nebenklägerin mit deren Einverständnis an deren Vagina. Bei zwei weiteren Terminen führte er seinen erigierten Penis in ihren Mund, wobei in einem Fall die Nebenklägerin nach einer Nachricht mit sexuellem Kontext sich zu der mittlerweile geschlossen Praxis des Angeklagten begab. Bei nächster Gelegenheit küssten sich beide in Form eines Zungenkusses, nachdem sich die Nebenklägerin beschwert hatte, er küsse sie nicht.

Die getroffenen Feststellungen hat das Landgericht vor allem auf die geständige Einlassung des Angeklagten gestützt. Der Aussage der Nebenklägerin, dass sie sich bei der ersten Behandlung lediglich wegen Schmerzen an das Bein des Angeklagten gekrallt habe und weder ihre eigenen Handlungen eine sexuelle Komponente besessen hätten noch das weitere Vorgehen mit ihr abgesprochen gewesen sei, hat das Landgericht keinen Glauben geschenkt.

In rechtlicher Hinsicht liege – so das LG – kein Missbrauch eines Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses nach § 174c StGB vor, da der Angeklagte nach der vorzunehmenden Gesamtwürdigung nicht seine Autoritäts- und Vertrauensstellung ausgenutzt habe. Die Annäherung an den Angeklagten sei von der Nebenklägerin ausgegangen. Diese sei nicht von seiner Autorität als behandelndem Orthopäden eingeschüchtert und eingenommen gewesen, sondern habe selbstbestimmt eine weitergehende Vertiefung der Beziehung gesucht.

Das OLG hat aufgehoben. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den Volltext. Zu der Entscheidung gibt es folgende Leitsätze:

    1. Auch wenn die Patientin oder der Patient mit den sexuellen Handlungen im Rahmen des Behandlungsverhältnisses ausdrücklich einverstanden ist, versteht es sich in den meisten Fällen von selbst, dass ein Arzt, der sexuelle Handlungen an einer Patientin oder einem Patienten im Rahmen eines Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsverhältnisses vornimmt, dieses besondere Verhältnis i.S.v. § 174c StGB missbraucht. An einem Missbrauch fehlt es hingegen ausnahmsweise dann, wenn der Täter im konkreten Fall nicht eine aufgrund des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses bestehende Autoritäts- oder Vertrauensstellung gegenüber dem Opfer zur Vornahme der sexuellen Handlung ausgenutzt hat.
    2. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung der den jeweiligen Einzelfall kennzeichnenden Umstände festzustellen. Wesentlicher Maßstab ist, ob sich Art und Patient/Patientin auf „Augenhöhe“ begegnet sind. Hierzu ist ggf. eine umfassende Darstellung der Kommunikation und der Beziehung der Beteiligten innerhalb und außerhalb von Behandlungsvorgängen, der Initiative zu sexuellen Handlungen und der Hintergründe der Fortsetzung der Behandlung nachdem es zu ersten sexuellen Handlungen gekommen ist, erforderlich.

StPO I: Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, oder: War das Mädchen „möglicherweise“ 14 Jahre alt?

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Ich stelle heute dann noch einmal StGB-Entscheidungen vor.

Den Opener mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 27.09.2022 – 5 StR 261/22 – zur Frage des Vorsatzes beim sexuellen Missbrauch. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten hatte weitgehend Erfolg:

„1. Nach den Feststellungen vollzog der 36-jährige Angeklagte an der damals 13-jährigen Geschädigten den ungeschützten Oral- und Vaginalverkehr, wobei er es – ungeachtet ihrer Angabe, 15 Jahre alt zu sein – für möglich hielt, dass sie noch keine 14 Jahre alt war. Nach Auffassung des Landgerichts „konnte“ sich der Angeklagte auf die Altersangabe der Geschädigten wegen ihres (kindlichen) Gesamteindrucks nicht verlassen. Als Tätowierer sei ihm bekannt gewesen, dass junge Mädchen sich häufig älter darstellten, als sie sind. Er habe daher, als er den Geschlechtsverkehr mit ihr ausübte, zumindest billigend in Kauf genommen, dass sie noch ein Kind war.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern kann keinen Bestand haben. Die Annahme bedingten Vorsatzes des Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Feststellung, dass er das kindliche Alter der Geschädigten im Tatzeitpunkt billigend in Kauf genommen hat, ist nicht beweiswürdigend unterlegt (vgl. BGH, Urteil vom 27. November 1952 – 4 StR 440/52, NJW 1953, 152 f.; Beschluss vom 29. Oktober 2002 – 3 StR 358/02 Rn. 4).

a) Zwar obliegt die Würdigung der Beweise dem Tatgericht. Seine tatsächlichen Schlüsse müssen nicht zwingend sein; es genügt, dass sie möglich sind und das Tatgericht von ihrer Richtigkeit überzeugt ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2020 – 5 StR 14/20, NJW 2020, 2741 f. mwN). Ein Rechtsfehler liegt jedoch vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, unklar oder widersprüchlich ist, mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht, sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen (vgl. BGH aaO), oder wenn sie sich auf nicht existierende Erfahrungssätze stützt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2017 – 2 StR 270/16 Rn. 15 mwN).

b) Solche Rechtsfehler liegen hier in Bezug auf die Feststellungen zum Vorsatz vor.

Den Urteilsgründen lassen sich keine Belege entnehmen, wonach der Angeklagte das kindliche Alter der Geschädigten billigend in Kauf nahm. Auch wenn die Strafkammer sich selbst vom kindlichen Aussehen der Geschädigten zur Tatzeit auf der Grundlage eines Lichtbildes und des persönlichen Eindrucks in der Hauptverhandlung überzeugt haben mag, besagt dieser Umstand für sich genommen nichts zur Vorstellung des Angeklagten bei Tatausführung. Er hatte die Geschädigte vor der Tat nach ihrem Alter gefragt, woraufhin sie ihm „15“ geantwortet hatte. Dass damit mögliche Zweifel an einem jüngeren Alter der Geschädigten nach Auffassung der Strafkammer nicht auszuräumen waren, weil der Angeklagte sich auf die Altersangabe der Geschädigten nicht habe verlassen können, begründet nicht den Vorwurf eines (bedingten) Vorsatzes, sondern lediglich den der Fahrlässigkeit.

Soweit die Strafkammer zudem darauf abgestellt hat, dem Angeklagten sei „als Tätowierer (…) bekannt (gewesen), dass junge Mädchen sich häufig älter darstellen, als sie sind“, stützt sie sich auf einen Erfahrungssatz, der weder allgemein gültig noch durch eine etwaige dahingehende persönliche Erfahrung des Angeklagten belegt ist.“

Strafzumessung I: Sexueller Missbrauch von Kindern, oder: Berücksichtigung der psychischen Belastungen?

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Und heute dann Strafzumessungsentscheidungen.

Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 18.05.2022 – 6 StR 169/22. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Dagegen die Revision, die hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg hatte:

„a) Das Landgericht hat bei der Bemessung der Strafen in den drei Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF) zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt, „dass sexuelle Missbrauchshandlungen erfahrungsgemäß und in der Regel mit psychischen Beeinträchtigungen bei den Opfern einhergehen“, und dazu weiter ausgeführt: „Dass sich derzeit bei der Geschädigten solche psychische Tatauswirkungen nur in sehr abgeschwächter Form, wie dem bislang gezeigten Verdrängen der gesamten Situation, zeigen, schließt nach der langjährigen Erfahrung der Kammer nicht aus, dass sich insoweit noch später Beeinträchtigungen zeigen werden, die auf die Taten des Angeklagten zurückzuführen sein werden.“ Bei der Bemessung der Strafen in den fünf Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 Abs. 1 StGB aF) hat es „die damit regelmäßig einhergehenden psychischen Belastungen auf Seiten des Geschädigten“ zu Lasten des Angeklagten gewertet und dazu weiter ausgeführt: „Obwohl der Geschädigte bislang noch versucht, diese Auswirkungen der Taten zu verdrängen, und sich gegen eine psychologische Betreuung sperrt, geht die Kammer auf Grund ihrer langjährigen Erfahrung mit Missbrauchsdelikten davon aus, dass auch bei dem Geschädigten über kurz oder lang therapeutische Hilfe nötig sein wird, um das Tatgeschehen aufarbeiten zu können.“

Diese Ausführungen stoßen auf durchgreifende rechtliche Bedenken. Sie lassen besorgen, dass das Landgericht dem Angeklagten unter Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB den Strafzweck der §§ 176, 176a aF StGB strafschärfend angelastet hat, der in dem Schutz der ungestörten sexuellen Entwicklung des Kindes liegt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. August 2003 – 2 StR 285/03, NStZ-RR 2004, 41, 42 mwN). Im Übrigen dürfen bei Delikten des (schweren) sexuellen Missbrauchs von Kindern zwar solche Tatfolgen beim Opfer als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB strafschärfend gewertet werden, die über die tatbestandlich vorausgesetzte abstrakte Gefährdung des Kindeswohls hinausgehen. Dies setzt aber voraus, dass die Folgewirkungen der Tat konkret festgestellt sind. Das ist hier nicht der Fall. Eine zum Nachteil des Angeklagten auf bloße Vermutungen gestützte Strafzumessung ist indes unzulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2018 – 4 StR 192/18Rn. 4 mwN).“

Im Grunde ein Klassiker 🙂 :

StGB II: Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, oder: Kann der Stiefgroßvater tauglicher Täter sein?

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Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 22.06.2021 – 2 StR 131/21 – auch vom BGH. Sie befasst sich mit dem Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB und beantwortet die Frage, ob sog. „Stiefkinder“ des eigenen Abkömmlings von ihm erfasst werden.

Ausgangspunkt der Entscheidung ist ein Urteil des LG Darmstadt, Das hatte den Angeklagten u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sechs Fällen verurteilt. Nach den landgerichtlichen Feststellungen übernahm der Angeklagte über einem Zeitraum von 1,5 Jahren alle zwei Wochen nachmittags für ein bis zwei Stunden die Betreuung seiner Stiefenkelin. Der Sohn des Angeklagten war mit der Mutter des Mädchens verheiratet, ohne dessen Vater zu sein. Von Anfang 2018 bis zum September 2019 nutzte der Angeklagte die Zeit mit dem damals 15- bzw. 16-jährige Mädchen, um dieses, begleitet von anzüglichen Bemerkungen, an den Armen und Schultern, später auch an Gesäß und an Brust zu streicheln, um sich sexuell zu erregen. Dabei erlitt das Mädchen immer wieder blaue Flecken.

Der BGH hat das Urteil aufgehoben:

„2. Der Schuldspruch hat keinen Bestand. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen diesen nicht, soweit das Landgericht den Angeklagten in sämtlichen Fällen auch wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt hat.

a) Nach § 174 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB in der unverändert gebliebenen Fassung vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10) wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter 18 Jahren vornimmt oder an sich von dieser vornehmen lässt, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person ist, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft lebt.

aa) Die Nebenklägerin ist kein leiblicher Abkömmling des Angeklagten.

(1) Leibliche Abkömmlinge sind Personen, die biologisch vom Täter abstammen (vgl. Palandt/Siede, BGB, 80. Aufl., Einf. v. § 1591 Rn. 1 mwN; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 174 Rn. 13), sodass neben leiblichen Kindern auch die gemäß § 1589 Satz 1 BGB in gerader Linie absteigenden Verwandten (Enkel und Urenkel) umfasst sind (vgl. Senat, Urteil vom 29. Oktober 1980 ? 2 StR 508/80, BGHSt 29, 387 f.; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 174 Rn. 37 f.; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, 2. Aufl., § 174 Rn. 23).

(2) Ein derartiges Abstammungsverhältnis ist zwischen dem Angeklagten und seiner „Stiefenkelin“ nicht festgestellt.

bb) Die Nebenklägerin unterfällt auch nicht als rechtlicher Abkömmling des Angeklagten dem Schutzbereich der Norm.

(1) Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes sind adoptierte Kinder, die nach § 1754 BGB die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die nach § 1592 Nr. 1 bis Nr. 3 BGB rechtlich einem Mann zugeordnet werden, ohne von diesem abzustammen (vgl. BT-Drucks. 18/3202 (neu), S. 26; BeckOK-StGB/Ziegler, 50. Ed., § 174 Rn. 9; MüKo-StGB/Renzikowski, aaO, Rn. 37).

(2) Hieran gemessen ist nicht festgestellt, dass die Nebenklägerin ein rechtlicher Abkömmling des Angeklagten ist. Den Feststellungen lässt sich – auch unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe – nicht entnehmen, dass der Sohn des Angeklagten bereits zum Zeitpunkt der Geburt der Nebenklägerin im Jahr 2003 mit deren Mutter verheiratet war (§ 1592 Nr. 1 BGB) oder die minderjährige Nebenklägerin adoptiert hat (§ 1754 Abs. 1, Abs. 2 BGB) und dadurch ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin begründet wurde (vgl. MüKo-BGB/Maurer, 8. Aufl., § 1754 Rn. 12).

cc) Die Feststellung des Landgerichts, der Angeklagte sei der „Stiefgroßvater“ der Nebenklägerin, eröffnet nicht den Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB.

(1) Zwar hat der Gesetzgeber den Täterkreis mit der Neufassung des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB durch das 49. StRÄndG vom 21. Januar 2015 erweitert, indem er den Schutz der Vorschrift auch auf leibliche und rechtliche Abkömmlinge des Ehegatten, Lebenspartners oder der Person, mit der der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, erstreckt hat. Er hat damit die – leiblichen und rechtlichen ? Kinder des Ehe- oder Lebenspartners (Stiefkinder) und deren Abkömmlinge (Stiefenkel des Täters) sowie von derjenigen Person, mit der der Täter in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Beziehung zusammenlebt (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 – 1 StR 625/17, juris Rn. 5 ff.), in den Schutzbereich der Vorschrift einbezogen (BT-Drucks. 18/2601, S. 26; MüKo-StGB/Renzikowski, aaO Rn. 38; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 174 Rn. 4). Der Gesetzgeber wollte hierdurch den Schutz von Jugendlichen gegenüber sexuellen Übergriffen in ihrem engsten sozialen und verwandtschaftlichen Umfeld verbessern (BT-Drucks. 18/2601, aaO), da § 174 Abs. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003 für eine Strafbarkeit von Stiefeltern oder (Stief-)Großeltern deren Übernahme von Erziehungsverantwortung voraussetzte (vgl. BT-Drucks. 18/2601, aaO).

„Stiefenkel“ sind daher nur insoweit vom Schutzbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfasst, als es sich um Abkömmlinge des Ehe- oder Lebenspartners des Täters beziehungsweise einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt, handelt. Stiefkinder der eigenen Abkömmlinge fallen danach nicht unter die Vorschrift. Dieses – am eindeutigen Wortlaut orientierte – Verständnis der Vorschrift entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der ihren Schutzbereich auf „leibliche und angenommene Abkömmlinge sowie diejenigen des Ehegatten oder Lebenspartners (Enkel, Stiefkinder und Stiefenkel) …“ erstrecken wollte (BT-Drucks. 18/2601, aaO).

(2) Danach unterfällt die Nebenklägerin im Verhältnis zu dem Angeklagten nicht dem von § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF geschützten Personenkreis.

b) Die bisherigen Feststellungen belegen, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat, auch nicht, dass hinsichtlich des Falles II.1 der Urteilsgründe eine Strafbarkeit nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB aF beziehungsweise hinsichtlich der Fälle II.2 bis II.6 der Urteilsgründe nach § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB aF gegeben ist.“