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StGB I: KiPO-Schrift herstellen/Aufforderung zum Kuss, oder: Sexueller Missbrauch von Kindern

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Heute stelle ich dann noch einmal den BGH, Beschl. v. 23.11.2023 – 4 StR 72/23. Der war bereits einmal Gegenstand der Berichterstattung, und zwar wegen der verfahrensrechtlichen Fragen in Zusammenhang mit den Fragen rund um den Strafantrag (vgl. hier: Strafantrag I: Schriftform als Wirksamkeitserfordernis, oder: Online-Strafanzeige).

Heute dann der Beschluss noch einmal, und zwar wegen der materiellen Fragen rund um sexuellen Missbrauch von Kindern. Insoweit war der Angeklagte verurteilt, dem BGH haben die dazu getroffenen Feststellungen des LG nicht gereicht:

„Die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. b) StGB aF in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2 StGB aF im Fall II.2 der Urteilsgründe sowie wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 StGB aF im Fall II.3 der Urteilsgründe hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Nach den hierzu getroffenen Feststellungen forderte der Angeklagte in einem Videotelefonat im Oktober 2020 die dreizehnjährige Geschädigte auf, sich auszuziehen, damit er sie nackt betrachten und dies dokumentieren könne. Die Geschädigte, die zu dieser Zeit eine Jogginghose und ein Bustier trug, kam dem Verlangen nicht nach (Fall II.1 der Urteilsgründe). Im Februar oder März 2021 rief der Angeklagte die beiden zwölfjährigen Geschädigten über Snapchat dazu auf, sich zu küssen. Die Geschädigten küssten sich daraufhin gegenseitig auf den Mund. Anschließend forderte der Angeklagte die beiden Geschädigten zu einem Zungenkuss auf, woraufhin sie das Telefonat abbrachen (Fall II.2 der Urteilsgründe). Bei einem persönlichen Treffen am folgenden Tag verlangte der Angeklagte von den Geschädigten erneut, dass sie sich küssen sollten. Die Geschädigten kamen der Aufforderung nicht nach (Fall II.3 der Urteilsgründe). In einem Videotelefonat im Mai 2021 rief der Angeklagte die zwölfjährige Geschädigte dazu auf, ihr Trikot hochzuheben, damit er ihre Brüste sehen und dies dokumentieren könne. Die Geschädigte kam der Forderung nicht nach (Fall II.4 der Urteilsgründe).

2. Die in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe jeweils erfolgten Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. b) StGB in der ab 13. März 2020 bzw. ab 1. Januar 2021 geltenden Fassung werden von den Feststellungen nicht getragen, denn diese ergeben nicht, dass die Einwirkung des Angeklagten auf die Herstellung einer kinderpornographischen Schrift bzw. (ab 1. Januar 2021) eines kinderpornographischen Inhalts gerichtet war.

a) Nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. b) StGB in den Fassungen vom 3. März 2020 (BGBl. I S. 431) und vom 30. November 2020 (BGBl. I S. 2600) wird wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern bestraft, wer auf ein Kind mittels Schriften oder mittels Informations- oder Kommunikationstechnologie (so die Fassung vom 3. März 2020) bzw. mittels eines Inhalts (so die Fassung vom 30. November 2020) einwirkt, um eine Tat nach § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB (Herstellen einer kinderpornographischen Schrift) oder nach § 184b Abs. 3 StGB (Besitz einer kinderpornographischen Schrift) zu begehen. Eine kinderpornographische Schrift (bzw. ein kinderpornographischer Inhalt) liegt vor, wenn die Schrift sexuelle Handlungen von, an oder vor einem Kind, die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich bzw. aufreizend geschlechtsbetonter Körperhaltung oder die sexuell aufreizende Wiedergabe der unbekleideten Genitalien oder des unbekleideten Gesäßes eines Kindes zum Gegenstand hat. Die Aufnahme des nur unbekleideten Körpers eines Kindes erfüllt für sich diese Voraussetzungen noch nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2014 – 4 StR 342/14 Rn. 5; Beschluss vom 1. September 2020 – 3 StR 275/20 ; Hörnle in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 184b Rn. 19; Nestler in LK-StGB, 13. Aufl., § 184b Rn. 16; Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 184b Rn. 13).

b) Daran gemessen tragen die Feststellungen in den Fällen II.1 und II.4 der Urteilsgründe die Annahme nicht, der Angeklagte habe auf ein Kind eingewirkt, um eine kinderpornographische Schrift herzustellen. Denn den Feststellungen lässt sich nicht entnehmen, dass die Geschädigten nach dem Ausziehen bzw. Hochziehen des Trikots in unnatürlich oder aufreizend geschlechtsbetonter Weise zu sehen gewesen wären oder dies vom Angeklagten beabsichtigt war.

3. In den Fällen II.2 und II.3 der Urteilsgründe ist ein (versuchtes) Bestimmen gemäß § 176 Abs. 2 StGB zur Vornahme sexueller Handlungen in der von § 184h Nr. 1 StGB geforderten Erheblichkeit nicht festgestellt.

a) Gemäß § 176 Abs. 2 StGB in der ab 13. März 2020 geltenden Fassung macht sich strafbar, wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt. Sexuelle Handlungen sind nur solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind ( § 184h Nr. 1 StGB ). Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 2 StR 490/18 Rn. 4; Urteil vom 24. September 1980 – 3 StR 255/80 , BGHSt 29, 336 Rn. 5 ). Dazu bedarf es regelmäßig einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. BGH, Urteil vom 10. März 2016 – 3 StR 437/15 , BGHSt 61, 173 Rn. 8 ). Bei Tatbeständen, die dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit der sexuellen Handlung zwar geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener (vgl. BGH, Urteil vom 21. September 2016 – 2 StR 558/15 Rn. 15; Urteil vom 14. August 2007 – 1 StR 201/07 Rn. 12). Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen für das geschützte Rechtsgut unbedeutende Berührungen genügen jedoch auch hier regelmäßig nicht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 2017 – 3 StR 122/17 Rn. 6; Urteil vom 26. April 2017 – 2 StR 574/16 Rn. 7 mwN). Die Schwelle zur Erheblichkeit kann jedoch überschritten sein, wenn über die bloße kurze Berührung hinaus weitere Umstände hinzukommen, die das Gewicht des Übergriffes erhöhen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Mai 2017 – 3 StR 122/17 Rn. 6).

b) Gemessen hieran kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass ein einfacher Kuss auf den Mund zwischen zwei 12-Jährigen seiner Art nach eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit darstellt (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 19. August 2015 – 5 StR 275/15 Rn. 9 [kurzer Kuss eines Erwachsenen auf Stirn und Mund eines vierjährigen Kindes]). Feststellungen zu einer besonderen Intensität oder Dauer, die eine andere Bewertung rechtfertigen könnten, lassen sich dem Urteil nicht entnehmen.

c) Auch die Voraussetzungen eines versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 2 , Abs. 6 Satz 1 StGB in der ab 13. März 2020 geltenden Fassung, §§ 22 , 23 StGB durch die Aufforderung zu einem Zungenkuss sind nicht festgestellt.

aa) Zwar kommt ein Zungenkuss als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 14. April 2011 – 2 StR 65/11 , BGHSt 56, 223 Rn. 7 ). Die Feststellungen tragen jedoch nicht die Annahme eines unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung im Sinne des § 22 StGB . Ein unmittelbares Ansetzen besteht in einem Verhalten des Täters, das nach seinem Tatplan in ungestörtem Fortgang ohne weitere Zwischenschritte zur Tatbestandsverwirklichung führen oder in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen soll (vgl. BGH, Beschluss vom 28. April 2020 – 5 StR 15/20 Rn. 4; Beschluss vom 14. Januar 2020 – 4 StR 397/19 , jeweils mwN).

bb) Hieran gemessen hat der Angeklagte noch nicht im Sinne des § 22 StGB unmittelbar zur Verwirklichung des § 176 Abs. 2 StGB angesetzt. Die Vornahme des Zungenkusses war nach der Vorstellung des Angeklagten ersichtlich von der Bereitschaft der Geschädigten, sich auf das sexuelle Ansinnen des Angeklagten einzulassen, und damit von einem wesentlichen Zwischenakt abhängig (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2021 – 5 StR 42/21 Rn. 4; Urteil vom 10. Oktober 2013 – 4 StR 258/13 Rn. 17).“