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Haft I: Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, oder: Kranker Vorsitzender, SV-Gutachten, Terminierung

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Bei mir im Blogordner hängen drei Haftentscheidungen, also reicht es heute für einen „Hafttag“.

Den beginne ich mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 03.12.2024 – 1 Ws 17/24 H. Ergangen ist der Beschluss im besonderen Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO, also „Sechs-Monats-Haftprüfung“. Der liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Angeklagte befindet sich nach vorläufiger Festnahme am 23.052024 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Ihm wird unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain) in 219 Fällen und eine Beleidigung vorgeworfen. 216 der insgesamt 220 Tatvorwürfe haben ein identisches Tatgeschehen zum Gegenstand.

Der seinerzeit noch Beschuldigte hatte gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, die keinen Erfolg hatte. Im Anschluss hieran verfügte die Dezernentin bei der Staatsanwaltschaft am 20.06.2024 die „Fortsetzung der Ermittlungen“ durch die zuständige Kriminalpolizeistelle, ohne deren Art und Umfang zu konkretisieren. Auf ihre Sachstandsanfrage vom 08.072024 teilte ihr der sachbearbeitende Beamte mit, „dass die Ermittlungen abgeschlossen sind“. Lediglich ein Wirkstoffgutachten stehe noch aus. Hierbei handelt es sich vermutlich um ein Gutachten vom 22.07.2024. Am 17.07.2024 erstellte die Kriminalpolizeistelle ihren letzten Schlussvermerk. Die angekündigte Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft erfolgte sodann am 07.082024 auf dem Postweg und ohne Haftvermerk. Am 19.082024 erhob die Staatsanwaltschaft  schließlich Anklage zur Strafkammer, welche am 22.08.2024 die Zustellung und Übersetzung der Anklageschrift veranlasste. Am 16.09.2024 ging das seitens der Staatsanwaltschaft mit Anklageerhebung bei einer  Sachverständigen telefonisch unter Übersendung eines elektronischen Aktendoppels in Auftrag gegebene Gutachten zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB ein.

Zwischenzeitlich war der Kammervorsitzende seit dem 12.09.2024 bis zum 17.11.2024 dienstunfähig erkrankt. Die stellvertretende Kammervorsitzende hat mit Verfügung vom 25.10.2024 die Terminverfügbarkeiten des Verteidigers und der Sachverständigen abgefragt und von diesen am 04. bzw. 01.11.2024 Rückmeldungen erhalten, aus denen sich aus Sicht der Kammer ergab, dass eine beschleunigte Durchführung der Hauptverhandlungen aufgrund unzureichender Verfügbarkeiten nicht möglich sein würde. Darüber kam es zu einer fortgesetzten Korrespondenz zwischen der stellvertretenden Kammervorsitzenden und dem Verteidiger.

Am 08.11.2024 erging sodann die Eröffnungsentscheidung der Kammer. Zugleich verfügte die stellvertretende Kammervorsitzende die Ladung zur Hauptverhandlung mit Beginn am 21.11.2024 um 16 Uhr, also vier Tage vor Ablauf der nach § 43 Abs. 2 StPO zu berechnenden Sechs-Monats-Frist. Die Ladungsverfügung wurde am 11.11.2024 ausgeführt; die Zustellung an den Verteidiger erfolgte am 13.11.2024.

Aufgrund der Nichteinhaltung der Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO beantragte der Verteidiger für den Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 21.11.2024 die Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß § 217 Abs. 2 StPO und teilte auf Frage des Vorsitzenden mit, dass auch für den Beginn der Hauptverhandlung am 28.11.2024 (dem eigentlich nächsten Fortsetzungstermin) seitens des Angeklagten nicht auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichtet werde. Die Hauptverhandlung wurde sodann mit Beschluss der Kammer in der begonnenen Hauptverhandlung ausgesetzt. Von einer Terminierung auf den 28.11.2024 sah der Vorsitzende ab, da umstritten sei, ob die Ladungsfrist nach § 217 Abs. 1 StPO auch nach Aussetzung der Hauptverhandlung gelte. Dies sei nach seiner Auffassung jedenfalls dann anzunehmen, wenn – wie vorliegend – die Ladungsfrist bezüglich der ausgesetzten Hauptverhandlung nicht gewahrt gewesen sei.

Die Strafkammer hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und verhältnismäßig gehalten und hat die Akten dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

Der Verteidiger hatte gegenüber der Kammer in der Korrespondenz im Hinblick auf die problematische Terminierung zunächst ausgeführt, die mögliche Terminierung trage „dem besonderen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen hinreichend Rechnung“. In seiner an den Senat gerichteten Stellungnahme vom 28.11.2024 hate er nunmehr eine umfassende Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes gerügt.

Das OLG hat den Haftbefehl des AG aufgehoben und die Entlassung des Angeklagten aus der U-Haft angeordnet. Das OLG hat den m.E. schleppenden Verfahrensgang mit deutlichen Worten gerügt. Wegen der Einzelheiten bitte selbst lesen. Ich veröffentliche hier nur die Leitsätze (des OLG), und zwar:

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen gilt während des gesamten Ermittlungsverfahrens. Es ist daher uneingeschränkt mit Beginn des Vollzuges der Untersuchungshaft zu beachten und nicht etwa – solange die Sechs-Monats-Frist (gerade noch) eingehalten werden kann – bis zur besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO mit geringeren Anforderungen.

2. Eine mit Haftsachen befassten Großen Strafkammer muss – anders als bei einer unvorhergesehenen und kurzen Erkrankung – dafür Sorge tragen, dass bei einem längerfristigen Ausfall eines Kammermitgliedes gleich aus welchem Grund eine angemessene Verfahrensförderung und ggf. auch die Durchführung einer Hauptverhandlung mit einer Vertretung gewährleistet ist. Ein unabsehbares Zuwarten stellt schon für sich eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar.

3. Es ist seitens der Staatsanwaltschaft grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass der Eingang von Gutachten abgewartet wird, um bei Anklageerhebung sämtliche Beweismittel anführen zu können. Verzögert sich dies aber, ist dieser Verzögerung zum einen dadurch zu begegnen, dass die Gutachtenerstellung maximal priorisiert wird und zum anderen der Abschluss der Ermittlungen soweit vorangebracht wird, dass bei Eingang der restlichen Ermittlungsergebnisse diese zeitnah eingearbeitet werden können.

4. Dass es gerade im Hinblick auf die Auslastung von Verteidigern und Sachverständigen zu Konstellationen kommt, die dem Beschleunigungsgebot bei der Terminierung zuwiderlaufen, ist ein Problem, welches in Haftsachen geradezu typischerweise besteht. Es ist daher von einem mit Haftsachen befassten Spruchkörper zu erwarten, dass dem durch frühzeitige Planung und Terminabstimmung wirksam begegnet wird.

5. Bei der Annahme der Verhinderung eines Verteidigers ist ein Maßstab zugrunde zu legen, der sich an der Vorrangigkeit von Haftsachen orientiert. In einer Haftsache kommt deshalb grundsätzlich lediglich eine Verhinderung durch andere bereits bestimmte Hauptverhandlungstermine in Haftsachen in Betracht, die von dem Verteidiger grundsätzlich auch zu belegen ist. Eine Beiordnung hat zu unterbleiben oder ist zu beenden, wenn ein Verteidiger nicht gewährleisten kann, das ihm übertragene Mandat auch tatsächlich wahrzunehmen.

SV I: Sachverständigengutachten im Urteil, oder: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

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Und heute dann drei Entscheidungen zum Sachverständigen bzw. zu Sachverständigenfragen.

Ich beginne mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.09.2024 – 1 ORs 24/24. Der verhält sich zur Unterbringung nach § 64 StGB nach neuem Recht. Insoweit hier nur mein Leitsatz:

Für die festzustellende Erfolgsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB n.F. ist es nunmehr erforderlich, dass der Behandlungserfolg „aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten“ ist. Die Anforderungen an eine günstige Behandlungsprognose sind „moderat angehoben“ worden, indem nunmehr eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ gegeben sein muss; im Übrigen bleibt es dabei, dass die Beurteilung der Erfolgsaussicht im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgebenden Umstände vorzunehmen ist.

Und zu der Sarstellung eines Sachverständigengutachtens im Urteil bekräftigt das OLG noch einmal die ständigen Rechtsprechung der Obergerichte in der Frage, nämlich:

Den Ausführungen des Landgerichts lässt sich indes die gebotene Auseinandersetzung mit den festgestellten prognoseungünstigen wie auch prognosegünstigen Faktoren nicht entnehmen.

„Das Landgericht hat insoweit der „grundsätzlich vorhandenen Therapiewilligkeit des Angeklagten“ als (einzigem) prognosegünstigen Umstand „insbesondere die zahlreichen erfolglosen Therapieversuche in den letzten Jahren“ sowie den Umstand, dass „selbst im hochstrukturierten Setting der stationären Therapie kein konkreter Behandlungserfolg habe erzielt werden können“ als gegen eine günstige Behandlungsprognose sprechenden Umstände gegenübergestellt. Im Übrigen hat die Kammer zu der fehlenden Erfolgsaussicht (nur) ausgeführt, dass nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen, denen sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung anschließe, keine tatsächlich begründete Erwartung eines Behandlungserfolgs einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gern. § 64 StGB bestehe (UA S. 16). Schließt sich der Tatrichter – wie hier – den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Januar 2017, 4 StR 595/16, juris, Rn. 8; vom 28. Januar 2016, 3 StR 521/15, juris, Rn. 4.; vom 27. Januar 2016, 2 StR 314/15, juris, Rn. 6; vom 17. Juni 2014, 4 StR 171/14, juris, Rn. 7). Daran fehlt es hier.“

 

 

OWi III: Prozessverschleppungsabsicht und Kostenrisiko, oder: Das OLG Hamm hält, was kaum zu halten ist

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Als dritte Entscheidung dann der OLG Hamm, Beschl. v. 28.05.2024 – III-4 ORbs 94/24. Das OLG nimmt zu Verfahrensrügen des Verteidigers Stellung, na ja, wenn man die weitgehende Bezugnahme auf die Stellungnahme der GStA so sehen will. Ich habe mit der Entscheidung erhebliche Probleme.

Folgender Sachverhalt: Das AG hat den Betroffenen wegen einer fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 320,- EUR verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Die Messung erfolgte durch Nachfahren mittels ProVida 2000 Modular.

Im Verfahren ist unstreitig geblieben, dass das Inaugenschein genommene Messvideo ein „Ruckeln“ beim Abspielen aufwies. Gestritten hat man darüber, ob aufgrund des Abspielfehlers die unzulässige Annäherung an das gemessene Fahrzeug nicht nachprüfbar ist und ggf. durch Bedienungsfehler kein standardisiertes Messverfahren mehr gegeben ist oder ob das „Ruckeln“ den Nachweis der ordnungsgemäßen Messung nicht beeinträchtigt habe. Einen Beweisantrag auf Vernehmung eines technischen Sachverständigen hat das AG  gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurück. Dies ist nur damit begründet worden, dass die Einholung des Sachverständigengutachten „zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich“ sei.

Der Betroffene beantragte darauf hin, Aussetzung der Hauptverhandlung, um einen Privatsachverständigen zu beauftragen. Den Aussetzungsantrag hat er insbesondere mit der kostenrechtlichen Rechtsprechung zur Erstattung von Privatsachverständigenkosten begründet, die eine vorherige Ausschöpfung des Prozessrechts verlange. Das AG hat die Aussetzung ebenfalls nur damit abgelehnt, dass die „zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich“ sei.

Der Betroffene hat den Amtsrichter daraufhin wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Auch die zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch berufene Richterin ist wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden, nachdem sie angekündigt hatte, sie werde über das Ablehnungsgesuch binnen 20 Minuten entscheiden. Das Ablehnungsgesuch gegen sich selbst verwarf die Richterin als unzulässig wegen beabsichtigter Prozessverschleppung.

Die Rechtsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Ich will hier nur auf die Ausführungen des OLG zu den Verfahrensrüge eingehen, die Ausführungen zur Sachrüge kann man sich schenken. Das ist das Übliche, was OLgs so schreiben. Das OLG führt aus:

„Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift vom 25. April 2024 zu der Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Paderborn vom 11. Januar 2024 Folgendes ausgeführt:

….

„(1) Es liegt nicht der Revisionsgrund des § 338 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO durch die Mitwirkung der Richterin am Amtsgericht R 1 an der Entscheidung. über das Ablehnungsgesuch gegen Richter R 2 vor. Soweit Richterin am Amtsgericht R 1 das gegen sie gerichtete Ablehnungsgesuch gemäß § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO als unzulässig jedenfalls nicht auf einer willkürlichen oder die Anforderung des Artikel 101 Abs. 1 S. 2 / GG grundlegend verkennenden Rechtsanwendung beruht (zu vgl. BGH St 50, 216). Mit Blick auf das vorangegangene prozessuale Verhalten des Betroffenen, der erklärterweise eine Aussetzung des Verfahrens erstrebte, erscheint die durch die abgelehnte Richterin angenommene Verschleppungsabsicht jedenfalls nicht fernliegend. Darüber ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass das von dem Betroffenen angestrebte Privafsachverständigengutachten bereits mit Schriftsatz vom 23.02.2023 (BI. 48 d. A.), mithin ein Jahr zuvor, angekündigt wurde.

Auch hinsichtlich des abgelehnten Richters R 2 erfolgte die Zurückweisung des Ablehnungsgesuches des Betroffenen zu Recht. Ein Ablehnungsgrund kommt dem Betracht, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, in den Augen eines vernünftigen Angeklagten Misstrauen in die Unparteilichkeit bestimmter Richter zu rechtfertigen (zu vgl BGH St 4, 264). Vor diesem Hintergrund war allein die aus Sicht des Betroffenen zu kurze Bedenkzeit des erkennenden Richters über seinem Beweisantrag nicht der Fall. Die kurze Bedenkzeit über einen regelmäßig in Hauptverhandlungen gestellten Beweisantrag ist ohne weiteres auf eine entsprechende Sitzungsvorbereitung zurückzuführen und nicht auf eine eventuelle Unparteilichkeit. Entsprechendes gilt auch für die behauptete kurze Bedenkzeit hinsichtlich des gestellten Aussetzungsantrages, zumal den Akten zu entnehmen ist, dass das angestrebte Privatgutachten bereits ein Jahr vor der Hauptverhandlung dem Betroffenen in Erwägung gezogen worden ist.

(2) In der Zurückweisung der Befangenheitsanträge liegt keine Verletzung des verfassungsrechtlich verwirkten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ist nur dann gegeben, wenn die erlassene Entscheidung des Tatrichters auf einem Verfahrensmangel beruht, der seinen Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigen des Sachvortrages der Partei hat (zu vgl. BVerfG NJW 1992, 2811; OLG Hamm, NZV 2008, 417). Der Betroffene hat in einem gerichtlichen Bußgeldverfahren ein Anspruch darauf, Befangenheitsanträge gegen die amtierenden Richter anbringen zu können, sowie darauf, dass diese zur Kenntnis genommen, in Erwägung gezogen und nach Recht und Gesetz beschieden werden. Das rechtliche Gehör ist verletzt, wenn die erlassene Entscheidung auf einem Verfahrensfehler beruht, der seinen Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigen solcher- Ausführungen des Betroffenen hat. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Zwar ist das Amtsgericht Paderborn der grundsätzlich bestehenden Verpflichtung, die gemäß § 26 Abs. 3 StPO abgegebene dienstliche Äußerung der abgelehnten Richterin R 1 vor Zurückweisung des Ablehnungsgesuches dem Betroffenen zur Kenntnis zu geben und ihm nach § 33 Abs. 2 und 3 StPO Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (zu vgl. BVerfG 24, 56, 62; BGH St 21, 85, 87), nicht nachgekommen. Das Urteil beruht jedoch auf diesem Fehler nicht. Die dienstliche Äußerung der abgelehnten Richterin war hier entbehrlich, da die dem Ablehnungsgesuch zugrundeliegenden Tatsachen eindeutig feststanden (zu vgl. BGH, NStZ 2008, 117 m. w. N.). Da die dienstliche Äußerung gemäß § 26 Abs. 3 StPO allein der weiteren Sachaufklärung dient, ist sie verzichtbar, wenn der Sachverhalt bereits geklärt ist.

(3) Soweit der Betroffene in seiner Beschwerdeschrift die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung erhoben hat, liegt eine solche ebenfalls nicht vor.

In der Ablehnung des Beweisantrages liegt keine Verletzung des verfassungsrechtlich verwirkten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Zwar kann in der vorliegend als rechtfehlerhaft gerügten Ablehnung eines Beweisantrages durch das Amtsgericht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegen. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn ein Beweisantrag durch das Tatgericht ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückführbare Begründung zurückgewiesen wird und die Entscheidung unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und als willkürlich angesehen werden muss (zu vgl. BVerfG, NJB, 1992, 2811). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Das Amtsgericht Paderborn hat den in Rede stehenden Beweisantrag der Verteidigung zur Kenntnis genommen und mit nachvollziehbaren Erwägungen im Rahmen seiner bestehenden, gemäß § 77 OWiG modifizierten Aufklärungspflicht beschieden. Das Amtsgehöht Paderborn hat nach der durchgeführten Beweisaufnahme den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Ordnungsgemäßheit der Anwendung des verwendeten standardisierten Messverfahrens rechtsfehlerfrei gemäß § 77 Abs. 2 OWiG i. V. m. § 244 Abs. 3 S. 2 StPO abgelehnt. Das Amtsgericht hat zu den Umständen und zur Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung bereits die Zeugen PHK L. und PHK K. vernommen und die wesentlichen Inhalte des Eichscheins, des Auswertefeldes und der Schulungsnachweise bekannt gegeben und das Messvideo in Augenschein genommen, ohne das sich – auch unter Berücksichtigung der in den Urteilgründen dargestellten „ruckeln“ des Messvideos – durchgreifende Anhaltpunkte für eine fehlerhafte Eichung, fehlerhafte Bedienung oder sonstige Fehlerhaftigkeit des eingesetzten standardisierten Messverfahrens ergeben hätten. Für die Frage, ob eine weitere Beweiserhebung erforderlich war, ist es nicht zu entscheiden, welche Vorstellung der Betroffene vom bisherigen Beweisergebnis hat, sondern wie sich dieses den Tatrichter darstellen musste (zu vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 13.09.2012, III- 1 Ss OWi 112/12, BeckRS 2012, 20462).“

Der Rechtsbeschwerde ist daher der Erfolg zu versagen.“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung an und macht sie zum Gegenstand seiner Entscheidung. Die Gegenerklärung des Betroffenen vom 13. Mai 2024 gibt keinen Anlass zu einer abweichenden Beurteilung.

Lediglich ergänzend ist Folgendes anzumerken:

(1) Es verbleibt auch unter Berücksichtigung der neuerlichen Ausführungen des Betroffenen dabei, dass der Revisionsgrund des § 338 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO durch die Mitwirkung der Richterin am Amtsgericht R 1 an der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch gegen Richter R 2 nicht vorliegt. Auch bei strenger Beachtung der tatbestandlichen Voraussetzungen hat die abgelehnte Richterin am Amtsgericht R 1 die Grenzen des § 26a StPO (i.V.m. § 46 OWiG) nicht überschritten. Diese hat ihre Überzeugung von der dem weiteren Befangenheitsantrag zugrundeliegenden Verschleppungsabsicht rechtsfehlerfrei aus dem Befangenheitsantrag selbst sowie der Verfahrenssituation gewonnen. Zur Richterin „in eigener Sache“ ist sie dadurch nicht geworden. Dabei kam sie zur Begründung der Prozessverschleppungsabsicht nicht umhin, das dem Befangenheitsantrag vorausgegangene Geschehen und damit auch eigenes Verhalten seit ihrer Befassung mit dem ersten Ablehnungsgesuch gegen Richter R 2 zu schildern. Selbst wenn man dies anders bewerten wollte, wäre jedenfalls der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO nicht gegeben, weil jedenfalls —wie bereits die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend angeführt hat — eine willkürliche oder offensichtlich unhaltbare Anwendung des § 26a StPO nicht gegeben ist (vgl. dazu BGH, Beschluss v. 08.07.2009 – 1 StR 289/09 -, juris). Auch nach den dann anzuwendenden Beschwerdegrundsätzen ist die Entscheidung sodann rechtlich nicht zu beanstanden, weil angesichts des Prozessgeschehens und der Verfahrenssituation offensichtlich ist, dass durch das weitere Ablehnungsgesuch gegen die zur Entscheidung über das erste Ablehnungsgesuch gegen Richter R 2 berufene Richterin am Amtsgericht R 1 das Verfahren nur verschleppt werden sollte. Dabei war für den Verteidiger klar erkennbar, dass sich die Richterin den gesetzlichen Vorgaben entsprechend mit dem Ablehnungsgesuch gegen Richter R 2, dessen dienstlicher Stellungnahme sowie der Gegenerklärung auseinandergesetzt hat und ihm lediglich einen möglichen Entscheidungszeitpunkt in Aussicht gestellt hat. Angesichts dessen ist auch vor dem Hintergrund des gesamten Prozessverhaltens offensichtlich, dass durch das maßgeblich auf den kurzfristig angekündigten möglichen Entscheidungszeitpunkt gestützte Ablehnungsgesuch nur das Verfahren verschleppt werden sollte.

(2) In der Ablehnung des Beweisantrags des Betroffenen auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Ordnungsmäßigkeit der Geschwindigkeitsmessung liegt keine Verletzung des verfassungsrechtlich verwirkten Anspruchs auf rechtliches Gehör und keine Aufklärungspflichtverletzung des Amtsgerichts. Insoweit wird vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat in der Folge auch den Aussetzungsantrag des Betroffenen zum Zwecke der Einholung eines Privatgutachtens rechtsfehlerfrei zurückgewiesen. Dabei ist in den Urteilsgründen ausführlich dargelegt, dass sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch unter Berücksichtigung des kurzzeitigen „ruckelns“ des in Augenschein genommenen Messvideos keinerlei konkrete Anhaltspunkte für Messfehler im Rahmen des standardisierten Messverfahrens ergeben haben. Soweit der Betroffene hinsichtlich des Aussetzungsantrags darauf verweist, ihm bliebe bei Einhaltung entsprechender Vorgaben des Kostenrechts, wonach er zuerst einen Beweisantrag bei Gericht zu stellen habe, der Weg ins Privatgutachten prozessual verwehrt, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Es ist Sache des verteidigungswilligen Betroffenen, die bereitstehenden Daten vor der Hauptverhandlung sachverständig überprüfen zu lassen. Das Kostenrisiko in Bezug auf das Privatgutachten trägt der Betroffene dabei selbst. Nur im Fall des Freispruchs kann etwas Anderes gelten, soweit etwa die Beauftragung eines Privatsachverständigen bereits mit Zustellung des Bußgeldbescheides zur Begründung konkreter Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit einer Messanlage notwendig erscheinen durfte (vgl. KG Berlin, Beschluss v. 12.11.2020 – 3VVs 275/20 – juris; LG Wuppertal, Beschluss v 06 11 2018 – 26 Qs 210/18 juris).“

Das ist in meinen Augen mal wieder eine dieser Entscheidungen, bei denen man den Eindruck hat, dass „gehalten“ werden soll, was an sich nicht zu halten ist. Die „Prozessverschleppungsabsicht ist nicht fernliegend“. Ach so. Das ist mir allerdings neu, dass die bloße Vermutung – „nicht fernliegend“ – reicht. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass diese Absicht sicher vorliegen muss, Denn immerhin macht man den Verteidiger ja den Vorwurf der „Prozesssabotage“. Und dann eine ganz hurtige Richterin, die in 20 Minuten entscheidet, aber natürlich „vergisst“ man, die dienstlichen Äußerungen zur Kenntnis zu geben. Alles nicht so schlimm.

Und über die Ausführungen des OLG zum Kostenrisiko beim Privatsachverständigen decken wir mal das „Mäntelchen des Schweigens“. Ob das alles so richtig ist, wage ich zu bezweifeln. Zumal das OLG auch keine Lösung anbietet, wie der Verteidiger das Dilemma lösen soll, dass ihm doch in den Fällen später gern entgegen gehalten wird, dass er ja zunächst mal entsprechenden Anträge bei Gericht hätte stellen können/müssen. Jetzt tut er es und dann setzt man aber nicht aus, sondern verhandelt und sagt dann: Alles viel zu spät, du hättest das Gutachten längst selbst einholen können.

Und was das AG sonst alles noch falsch gemacht hat: Nicht schlimm. Darauf beruht das Urteil nicht. Man kann  nur den Kopf schütteln, wenn man das alles liest, zum Teil nur in der in Bezug genommenen Stellungnahme der GStA.

StPO I: „die Schilderungen … sind nicht erlebnisbasiert, oder: Das ist das Beweisziel, nicht die Behauptung

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Und in die (kurze) Restwoche geht es heute mit StPO-Entscheidungen.

Die erste Entscheidung kommt vom BGH. Der hat im BGH, Beschl. v. 02.08.2023 – 5 StR 137/23 – noch einmal zu den Voraussetzungen eines ordnungsgemäßen Beweisantrages Stellung genommen. Nichts Dolles, aber zur Erinnerung an die Voraussetzungen „ganz nett“:

Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:

Der Verfahrensrüge des Angeklagten, ein in der Hauptverhandlung gestellter Hilfsbeweisantrag auf Einholung eines weiteren aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens sei im Urteil zu Unrecht nach § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO abgelehnt worden, bleibt schon deshalb der Erfolg versagt, weil das zugrundeliegende Beweisersuchen nicht die Voraussetzungen eines Beweisantrages nach § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO erfüllt. Dieses teilt lediglich das Beweisziel („dass die Schilderungen … nicht erlebnisbasiert sind“) mit und enthält weder eine konkrete Tatsachenbehauptung noch die für die begehrte weitere Begutachtung erforderlichen zureichenden Anknüpfungstatsachen. Zudem zeigt das Beweisanliegen keine konkreten methodischen Mängel des Erstgutachtens auf (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 166), sondern erschöpft sich in dem wiederholt pauschal angeführten Vorbringen, das Gutachten sei „ungenügend“.

StGB III: Verkauf von Hanfblütentee mit THC-Gehalt, oder: Verbotener Handel mit BtM?

Hanfblüte

Und dann zum Tagesschluss eine Entscheidung aus dem BTM-Bereich. Der BayObLG, Beschl. v. 24.08.2023 – 202 StRR 52/23 – nimmt Stellung zum Handel mit Hanfblütentee und der Anwendbarkeit der BtMG.

Im Revisionsverfahren ist wegen der Beschränkung der Revision nur noch die Frage des vorsätzlichen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln im Streit. Dazu hatte das LG folgende Feststellungen getroffen:

„Die Angeklagten waren seit dem 26.01.2019 Geschäftsführer der H.-UG (haftungsbeschränkt) und nach deren Umwandlung in eine GmbH zum 16.09.2019 der H.-GmbH, die unter anderem Hanfblütentee in den von ihr betriebenen Ladenlokalen in Würzburg oder über Franchiseunternehmen vertrieb. Der Hanfblütentee enthielt neben Cannabidiol (CBD) auch Tetrahydrocannabinol (THC). Im Zeitraum bis zur staatsanwaltschaftlichen Durchsuchung am 05.11.2019 gaben die Angeklagten mindestens sechs Bestellungen von jeweils mindestens vier Kilogramm CBD-Blüten auf. Die Lieferungen enthielten CBD-Blüten mit einem Gehalt von mindestens 0,10 % und höchstens 0,20 % THC mit einer Gesamtmenge an THC in Höhe von 20,864 Gramm.

Die sachverständig beratene Strafkammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass bei einem Konsum des Hanfblütentees ein Rausch erzeugt werden kann, der durch das Rauchen von zwei dicken Joints (bei einem THC-Gehalt des Tees von 0,20 %) oder vier dicken Joints (bei einem THC-Gehalt des Tees von 0,10 % THC) erreicht werden könne. Dies entspreche jeweils einer zugeführten Menge an THC von 2 mg. Nach der Überzeugung der Strafkammer handelten die Angeklagten mit bedingtem Vorsatz. Sie rechneten zumindest damit, dass durch den Konsum von Hanfblütentee mit einem THC-Gehalt von unter 0,20 % ein Rausch erzielt werden kann und somit ein Missbrauch zu Rauschzwecken im Sinne der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG nicht ausgeschlossen ist.“

Das BayObLG hat aufgehoben, weil ihm die Beweiswürdigung betreffend die Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, isnbesondere, dass ein Missbrauch des Hanftees durch Abnehmer zu Rauschzwecken nicht ausgeschlossen ist, nicht rechtsfehlerfrei erschient. Die Darstellung der Ausführungen der Sachverständigen sei unklar und lückenhaft.

Ich stelle hier mal nur die beiden Leitsätze zu der Entscheidung ein. Die umfangreiche Begründung des BayObLG bitte im verlinkten Volltext selbst lesen:

  1. Hanfblütentee, der Tetrahydrocannabinol (THC) enthält, unterfällt grundsätzlich dem Betäubungsmittelgesetz. Eine Ausnahme hiervon besteht nur dann, wenn der THC-Gehalt 0,2 % (ab 01.01.2023: 0,3 %) nicht übersteigt und der Verkehr ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen (Anlage I zu § 1 BtMG).

  2. Gelangt ein Sachverständigengutachten in Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die ihrerseits auf wissenschaftlichen Studien beruht, zu dem Ergebnis, dass bereits bei einem Konsum von 2 mg THC durch Inhalation ein Rausch erzielt werden könne, ist es rechtsfehlerhaft, wenn eine nähere Darlegung unterbleibt, aufgrund welcher Erkenntnisse die Sachverständige zu ihrer Einschätzung gelangt und aus welchen Gründen der Gegenansicht nicht zu folgen ist.