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Durchsuchung I: Anfangsverdacht für Besitz von KiPo?, oder: Chat bei markt.de reicht nicht

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In die 32. KW starte ich heute mit zwei beschlüssen zur Anordnung der Durchsuchung, und zwar beide in sog. „Kipo-Verfahren.

Zunächst stelle ich den schon etwas älteren LG Bremen, Beschl. v. 13.01.2023 – 6 Qs 355/22. Es geht um die Annahme zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte, aus denen auf das Vorliegen einer Straftat gemäß § 184c Abs. 3 StGB geschlossen werden kann.

Ausgangspunkt ist die Sichtung eines Chatverlaufs durch die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta auf der Onlineplattform „markt.de“, der mutmaßlich zwischen dem Beschuldigten und einem gesondert Verfolgten am 30.08.2021 stattgefunden haben soll. Der gesondert Verfolgte soll sich im Laufe des Chatverlaufs als 15-jähriger ausgegeben haben. Im Rahmen dieses Chatkontaktes tauschten sich die beiden über sexuelle Praktiken, Fantasien und körperliche Merkmale aus. Die Staatsanwaltschaft Bremen beantragte dann mit Verfügung vom 12.07.2022 den Erlass einer richterlichen Durchsuchungsanordnung für die Wohnung des Beschuldigten, welche am 15.07.2022 durch den Ermittlungsrichter des AG Bremen erlassen wurde. Die Durchsuchung der Wohnräume des Beschuldigten fand sodann am 15.08.2022 in der Zeit von 16:00 – 17:45 Uhr statt. Hierbei wurden diverse Medien- und Datenträger sichergestellt. Der Beschuldigte hat nach entsprechender Belehrung gegenüber den Polizeibeamten angegeben, sich an diesen konkreten Chatverlauf zu erinnern. Jedoch meine er, dass der Gesprächspartner angegeben habe, 16 Jahre alt zu sein.

Der Verteidiger des Beschuldigten hat der Sicherstellung der bei der Durchsuchung sichergestellten Gegenstände widersprochen und Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung erhoben. Daraufhin hat das Amtsgericht einen Bestätigungsbeschluss erlassen und der Beschwerde gegen die Durchsuchung nicht abgeholfen. Das Rechtsmittel hatte beim LG Erfolg:

„Die Anordnung der Durchsuchung war rechtswidrig, denn die Voraussetzungen einer Anordnung nach §§ 102, 105 StPO lagen nicht vor. Zwar bedarf es zu ihrer Anordnung keines hinreichenden oder gar eines dringenden Tatverdachts, ein einfacher Anfangsverdacht einer Straftat reicht aus. Einen solchen vermag die Kammer jedoch dem Akteninhalt nicht zu entnehmen. Vom Vorliegen eines Anfangsverdachts ist auszugehen, wenn konkrete Tatsachen vorliegen, die dafürsprechen, dass gerade der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat enthält (BGH NStZ 1994, 499). Bloße, nicht durch konkrete Umstände belegte Vermutungen oder reine denktheoretische Möglichkeiten reichen nicht aus, wobei den Ermittlungsbehörden bei der Beurteilung der Frage, ob zureichende Anhaltspunkte vorliegen ein gerichtlich überprüfbarer Be-urteilungsspielraum zusteht (vgl. BeckOK StPO/Beukelmann, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 152 Rn. 4 und 5 sowie KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO § 152 Rn. 8).

Gemessen daran lag hier ein Anfangsverdacht nicht vor.

Die Anordnung der Durchsuchung erfolgte unter dem Verdacht des Besitzes jugendpornographischer Schriften. Dieser soll im Kern darauf beruhen, dass nach kriminalistischer Erfahrung zu erwarten sei, dass bei Menschen mit einem auf Jungen unter achtzehn Jahren gerichteten Sexualtrieb und ausgefallener Sexualpraktiken ein Hang zum Sammeln und Aufbewahren einmal erworbenen Materials vorliege, um das Material stets zur Verfügung zu haben. Als weiteren Anhaltspunkt zieht das Amtsgericht heran, dass in Anbetracht des dem Beschuldigten gegenüber mitgeteilten Alters von 15 Jahren und des sonstigen Gesprächsinhalts sich beim Beschuldigten hätten Zweifel hinsichtlich der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung seines Gesprächspartners aufdrängen müssen. Zusätzlich sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Markt für die vom Beschuldigten präferierten Sexualpraktiken vergleichsweise gering sei, weshalb eine, wenn auch nicht sehr starke, Wahrscheinlichkeit dafür streite, dass der Beschuldigte versuche, diese sexuellen Vorlieben mit Bildern und Videos auszuleben.

Aus diesen und den weiteren im angefochtenen und im Beschluss vom 20.12.2022 festgehaltenen Erwägungen lässt sich kein Anfangsverdacht begründen. Es liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vor, aus denen auf das Vorliegen einer Straftat gemäß § 184c Abs. 3 StGB zu schließen wäre. Der Umstand, dass der Beschuldigte mit dem gesondert Verfolgten den aus der Beweismittelakte ersichtlichen Chat geführt hat, reicht hierfür nicht aus. Das Amtsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass das Verhalten des Beschuldigten nicht strafbar ist. Die Einschätzung, es ergäben sich aus dem Chatverlauf Anhaltspunkte dafür, dass der gesondert Verfolgte noch nicht über die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung verfüge und somit Anhaltspunkte für ein potenziell strafwürdiges Verhalten bestünden, teilt die Kammer jedoch nicht. Sofern sich aus dem Chatverlauf über die sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit des gesondert Verfolgten überhaupt etwas ableiten ließe, dann nach Auffassung der Kammer allenfalls das Gegenteil, da aus den Nachrichten des gesondert Verfolgten hervorgeht, dass ein sexuelles Grundverständnis (Sexualpraktiken, körperliche Eigenschaften) besteht. Nach dem Chatverlauf, in dem die Initiative gleichmäßig verteilt zu sein scheint und nicht etwa ein Drängen des Beschuldigten zu erkennen ist, musste sich dem Beschuldigten jedenfalls die Annahme einer fehlenden Fähigkeit seines Chatpartners zur sexuellen Selbstbestimmung nicht aufdrängen. Bereits die Initiative des damals dreizehn Jahre alten gesondert Verfolgten, sich auf der Plattform anzumelden und gezielt vermeintlich pädophile Nutzer „in die Falle zu locken“ spricht zudem gegen die Annahme, der gesondert Verfolgte sei zur Selbstbestimmung nicht in der Lage gewesen.

Die Durchsuchungsanordnung stützt den Anfangsverdacht ferner auf die mutmaßliche auf den sexuellen Kontakt zu Jugendlichen gerichtete sexuelle Neigung des Beschuldigten. Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße Vermutung, da sie nach Aktenlage keine feststellbare Stütze findet.

Aus dem Chatverlauf und den sonstigen Akteninhalten ergibt sich nicht, dass der Beschuldigte zielgerichtet auf der Suche nach unter 18-jährigen Chat- bzw. Sexualpartnern war. Die genutzte Plattform ist zudem eine im Internet frei zugängliche. Der Beschuldigte hat gerade nicht im sogenannten Darknet mit einschlägigen Begriffen nach Kindern oder Jugendlichen gesucht oder eine erkennbar für Kinder und Jugendliche gedachte Seite aufgerufen, sondern sich auf einer Plattform angemeldet, die — soweit aus der Akte erkennbar — regelmäßig von erwachsenen Nutzern frequentiert wird. Der Beschuldigte hat ausweislich des Chatverlaufs nicht auch nach dem Alter des Gesprächspartners gefragt, vielmehr ist ihm diese Information gemeinsam mit Angaben zu körperlichen Eigenschaften durch den gesondert Verfolgten aus eigener Initiative mitgeteilt worden. Die Antwort des Beschuldigten lässt auch nicht erkennen, dass ihm das Alter des potenziellen Partners besonders wichtig war. Insoweit lässt sich auch kein auf kriminalistische Erfahrungswerte gestützter Rückschluss ziehen, da dieser an eine bloß vermutete Tatsache knüpft. In diesem Zusammenhang muss auch die Einlassung des Beschuldigten im Rahmen der Durchsuchung berücksichtigt werden, wonach er sich bislang nur mit über 18-jährigen Personen getroffen habe.

Weitere Anhaltspunkte, etwa strafrechtliche Voreintragungen des Beschuldigten im Zusammenhang mit Sexualdelikten, die diese Vermutung stützten würden, liegen nicht vor.

Nach alldem lag kein Anfangsverdacht wegen Besitzes jugendpornographischer Schriften gegen den Beschuldigten vor und die Anordnung der Durchsuchung seiner Wohnung sowie die Bestätigung der Sicherstellung erfolgten zu Unrecht.“

StPO I: Entscheidungen zur Pflichtverteidigung, oder: Beiordnungsgrund, Haftentlassung und Rückwirkung

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Und heute dann ein „StPO-Tag“.

Den eröffne ich mit einigen Pflichtverteidigungsentscheidungen. Die habe ich dieses Mal in einem Posting zusammengefasst, weil es letztlich alles Fragen sind, zu denen ich schon häufig(er) hier Entscheidungen vorgestellt habe.

Zunächst zwei Entscheidungen zu den Gründen der Beiordnung, und zwar:

Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem Verfahren mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, wenn dem ausländischen Beschuldigten mit dem derzeitigen Status der Duldung im Fall der Verurteilung ggf. die Ausweisung droht.

Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn dem Beschuldigten drei Fälle der Leistungserschleichung vorgeworfen werden und im Fall der Verurteilung  eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden ist.

Beides nichts Besonderes, aber kann man zur „Abrundung“ vielleicht mal ganz gut gebrauchen.

Und dann ein Beschluss zur der ebenfalls schon häufiger behandelten Frage der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, wenn der (zunächst) inhaftierte Beschulidgte rechtzeitig vor dem Hauptverhandlungstermin entlassen wird, und zwar:

Die Bestellung des Pflichtverteidigers wegen Inhaftierung des Beschuldigten fällt nicht automatisch weg, wenn der Angeklagte mindestens zwei Wochen vor der  Hauptverhandlung aus der Verwahrung entlassen wird und die Verteidigung nicht aus einem anderen Grund notwendig ist. Das Gericht muss vielmehr stets prüfen, ob die Beiordnung des Verteidigers aufrechtzuerhalten ist, weil die auf der Freiheitsentziehung beruhende Behinderung trotz der Freilassung nachwirken kann.

Und dann noch etwas zum Dauerbrenner: Rückwirkung.

    1. Unter besonderen Umständen ist eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Beiordnung zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO im Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und der Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde.
    2. Unverzüglich im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet zwar nicht, dass die Pflichtverteidigerbestellung sofort zu erfolgen hat; vielmehr ist der Staatsanwaltschaft eine gewisse Überlegungsfrist zuzugestehen. Bei einem Zeitablauf von zehn Wochen zwischen der Stellung des Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers und der Einstellung des Verfahrens verstößt die Staatsanwaltschaft allerdings gegen ihre Pflicht zur Herbeiführung einer unverzüglichen Entscheidung.
    3. § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO, bezieht sich ausdrücklich nur auf die in § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 bezeichneten Fälle, nicht aber auf Abs. 1 der Vorschrift.

Und dann habe ich zur Rückwirkung noch zwei AG-Entscheidung: Und zwar einmal AG Verden (Aller), Beschl. v. 11.03.2024 – 9a Gs 2875 Js 43559/23 (874/24), wonach die rückwirkende Bestellung zulässig ist, was zutreffend ist. Anders sieht es dann das AG Frankfurt, Beschl. v. 19.2.2024 – 4831 Ls 204532/24 – 931 Gs -, was m.E. nicht zutreffend ist. Das AG meint außerdem, die Beiordnung komme auch deshlab nicht in Betracht, weil die Verteidigerin das Wahlmandat nicht niedergelegt habe. Ich empfehle dazu, dass das AG mal in einem gängigen StPO-Kommentar nachschauen sollte, wo es dann – vielleicht überrascht – feststellt, dass das nach überwiegender Meinung nicht erforderlich ist für die Bestellung. Warum tun AG das eigentlich nicht sofort?

Klima I: Straßenschilder besteigen und Abseilen, oder: Man muss das Gesamtgeschehen bewerten

Klima

Und zum Wochenanfang dann „Klima-Entscheidungen“.

Zunächst hier zwei schon etwas ältere Entscheidungen aus Bremen, auf die ich im Zusammenhang mit der Recherche wegen einer anderen Frage gestoßen bin. Ich stelle sie trotz ihres Alters noch vor.

Folgender Sachverhalt: Die Staatsanwaltschaft Bremen hat dem Beschuldigten vier Nötigungen in Bremen vorgeworfen. Der Beschuldigte soll als Kontaktstelle und Sprecher der mindestens ca. 120-130 Mitglieder umfassenden Gruppe „Extinction Rebellion“ (?) an der Planung, Vorbereitung und Organisation einer im Stadtgebiet Bremen durchgeführten Aktion beteiligt, gewesen sein, in deren Zuge Aktivisten der Gruppe u. a. Straßenschilder bestiegen, um darauf Plakate für den Klimawandel und die Verkehrswende zu befestigen, was teilweise mit einem Abseilen von den Schildern in Richtung der Straße verbunden war. Dabei kam es zu Verkehrsbehinderungen. Der Beschuldigte selber soll persönlich bei einer Aktion beteiligt gewesen sein.

Die Staatsanwaltschaft hat die Durchsuchung beim Beschuldigten beantragt. Das AG Bremen hat das im AG Bremen, Beschl. v. 18.05 – 92b Gs 448/21 (225 Js 25762/21) – abgelehnt:

„Die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten Anordnung liegen nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht vor, da die Tat nicht als verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB anzusehen ist. Demnach ist die Tat rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Verwerflichkeit meint einen erhöhten Grad sittlicher Missbilligung, vgl. Fischer, StGB-Kommentar, 68. Aufl. 2021, § 240, Rn. 40. Nach der vierten Blockadeentscheidung des BVerfG aus dem Jahre 2001 muss im Rahmen des § 240 Abs. 2 StGB auch das Grundrecht aus Art. 8 GG Berücksichtigung finden. Dabei ist die Strafzumessungslösung praktisch verworfen und der Weg der praktischen Konkordanz im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel gewählt worden. Bei der vorzunehmenden Gesamtbewertung des Geschehens und der Frage, ob die Tathandlung als verwerflich anzusehen ist, ist die soziale Gewichtigkeit des Blockadeanliegens ausschlaggebend, vgl. für Vorstehendes MüKo § 240, Rn. 143 f. Dabei ist nicht jede Gewaltanwendung, die darauf ausgelegt ist, die Bewegungsfreiheit Dritter zu beeinträchtigen, als verwerflich anzusehen. Die Handlungen des Beschuldigten fallen solange unter den Schutz von Art. 8 GG, als dass sie nicht unfriedlich sind. Unfriedlichkeit ist erst bei Handlungen von einiger Gefährlichkeit anzunehmen (Eisele, in Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, § 240, 30. Aufl. 2019, Rn. 28).  Auch daraus, dass eine Handlung nicht mehr verwaltungsmäßig ist, folgt nicht die Strafrechtswidrigkeit, so dass auch eine fortgesetzte Versammlung nach erfolgter Auflösung nicht per se verwerflich ist (Eisele, a.a.O. Rn. 28). Daneben ist bei der erforderlichen Gesamtabwägung auf die soziale Gewichtigkeit des verfolgten Anliegens abzustellen, wobei existenziellen Fragen der Allgemeinheit grundsätzlich größeres Gewicht zukommt als Eigeninteressen. Im Ergebnis ist der Grad der Beeinträchtigung einerseits und die Art der Demonstrationsmotive zu berücksichtigen (Eisele, a.a.O. Rn. 29).

Bei der Frage der Verwerflichkeit der Tathandlung ist somit der Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit der stehenden Autofahrer und das Ziel der Demonstranten gegeneinander abzuwägen. Dabei kommt dem Ziel, auf die Notwendigkeit des Klimaschutzes hinzuweisen, erhebliches Gewicht zu, wobei nach Auffassung des Gerichts die Fortbewegungsfreiheit der im Stau stehenden Autofahrer nicht erheblich beeinträchtigt ist, zumal es insbesondere auf Autobahnen und insbesondere auf der Lesumbrücke schon aufgrund der nunmehr mehrere Jahre andauernden Bauarbeiten stets zu verkehrsbedingten Behinderungen kommen kann. Bei der Frage der Verwerflichkeit ist hier auch zu berücksichtigen, dass eine Gefährlichkeit für Dritte bislang nicht festgestellt worden ist. Ein erhöhter Grad sittlicher Missbilligung kann in diesem Fall nach Auffassung des Gerichts nicht angenommen werden, so dass die dem Beschuldigten vorgeworfenen Handlungen nicht als verwerflich anzusehen sind. Trotz zielgerichteter Blockade des Verkehrs ist den Demonstrant:innen ein Akt der auf das Ziel hinweisenden Kommunikation zuzugestehen, der in diesem Fall noch nicht derart tief in die Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer eingreift, als dass er eine Strafbarkeit gem. § 240 StGB begründen und die Anordnung einer Durchsuchung rechtfertigen würde.“

Die Staatsanwaltsschaft hat dann dagegen Beschwerde eingelegt. Die hat das LG Bremen mit dem LG Bremen, Beschl. v. 22.06.2021 – 2 Qs 213/21 – zurückgewiesen. Zur Abwäging führt das LG u.a. noch aus:

„Ein gewichtiger Umstand im Rahmen der Abwägung ist der Sachbezug der von der Blockade betroffenen Personen – nämlich die Teilnehmer des Individualverkehrs. Stehen die äußere Gestaltung der Blockademaßnahme und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema und/oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und damit in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und inwieweit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08. Januar 2015 – 1 (8) Ss 510/13 –, juris).

Vor diesem Hintergrund ist die Einordnung des Geschehens als Meinungsäußerung und nicht nur als längerfristige Verhinderung des Verkehrs in der Gesamtschau der bisher bekannten bzw. ermittelten Umstände auch aus Sicht der Kammer nicht zu beanstanden.“

Pflichti III: Bestellung in der Strafvollstreckung, oder: Bestellung im Bußgeldverfahren

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Und dann zum Schluss noch zwei Entscheidungen zu den Beiordungsgründen. Beide Entscheidungen betreffen nicht das „normale“ Erkenntnisverfahren, sondern einmal das Bußgeldverfahren und einmal die Strafvollstreckung, und zwar:

Liegt bei dem Verurteilten eine leichte Intelligenzminderung vor und ist ein Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Verurteilten erstattet, ist ihm im Strafvollstreckungsverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen.

Dem Betroffenen ist auch im Bußgeldverfahren ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls das erfordern. Das ist ausnahmsweise dann der Fall, wenn bereits eine erste Verurteilung des Betroffenen ist auf seine Rechtsbeschwerde vom OLG hin aufgehoben worden ist und die durchzuführende Hauptverhandlung sich maßgeblich an den Ausführungen des OLG zu orientieren hat, wobei die insoweit gebotene Auseinandersetzung mit den optischen Fehlerquellen einer Messung namentlich unter Berücksichtigung der Sichtverhältnisse und die juristische Bewertung der Messmethode von einem juristischen Laien nicht erwartet werden kann.

 

StPO III: Terminsaufhebungsantrag nicht beschieden, oder: Angeklagter fehlt entschuldigt

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Und zum Tagessschluss dann noch der LG Bremen, Beschl. v. 07.06.2022 – 8 Qs 131/22. Er verhält sich zu einer Wiedereinsetzungsfrage in Zusammenhang mit der Verwerfung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl.

DerAngeklagte hatte gegen einen gegen ihn ergangenen Strafbefehl Einspruch eingelegt und Akteneinsicht in Form der Übersendung von Kopien der Verfahrensakte beantragt. Unter dem 16.09.2021 teilte das AG dem Angeklagten mit, dass es dem Angeklagten unbenommen sei, Einsicht in die Verfahrensakte in den Diensträumen des Gerichts zu nehmen und entsprechend Termin mit der Geschäftsstelle zu vereinbaren. Ferner wies das Gericht darauf hin, dass durch den Angeklagten keine Gründe vorgetragen worden seien, dass er daran gehindert sei, Einsicht in den Diensträumen zu nehmen, sodass das Gericht sein Ermessen dahingehend ausgeübt habe, ihm Einsicht in den Diensträumen zu gewähren. Sodann beraumte das AG am 27.10.2021 Termin zur Hauptverhandlung auf den 03.12.2021 an. Mit Telefax vom 30.11.2021 beantragte der Angeklagte die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins. Am 02.12.2021 lehnte der Angeklagte den erkennenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung führte er aus, dass er auf der Geschäftsstelle in Erfahrung gebracht habe, dass sein gestellter Terminsaufhebungsantrag noch nicht beschieden, vielmehr vorsätzlich übergangen worden sei. Vor diesem Hintergrund rügte er die Verletzung rechtlichen Gehörs. Weiter rügte er, dass er noch immer keine Akteneinsicht erhalten habe.

Dem Hauptverhandlungstermin am 03.12.2021 blieb der Angeklagte ohne Angabe von Gründen fern. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft verwarf der abgelehnte und erkennende Richter den Befangenheitsantrag als unzulässig. Der Angeklagte hat gegen die Verwerfung Berufung eingelegt und Wiedereinsetzung beantragt. Das AG hat den Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil der Angeklagte die Tatsachen zur Begrün-dung seines Antrages nicht glaubhaft gemacht habe.

Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„b) Der Wiedereinsetzungsantrag hat auch in der Sache Erfolg. Begründet ist ein Wiedereinsetzungsantrag in den Fällen der §§ 412, 329 Abs. 7 StPO, wenn den Angeklagten an seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung kein Verschulden trifft.

Insoweit hat das Gericht alle Entschuldigungsgründe zu beachten, gleichviel, wie sie ihm bekannt geworden sind. Denn es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern nur darauf, ob er entschuldigt ist (BGH 17, 391, 396). Die Entschuldigung kann sich auch aus den Akten, die das Gericht zu diesem Zweck durchzusehen hat oder aus all-gemeinkundigen Tatsachen oder naheliegenden Zusammenhängen ergeben. Bei der Verschuldensfrage ist eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten. Maßgebend ist, ob dem Angeklagten nach den Umständen des Falles wegen seines Ausbleibens billigerweise ein Vorwurf zu machen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Auflage, § 329 Rz. 19, 23).

Eine genügende Entschuldigung ist in Fällen der fehlerhaften Ablehnung oder Nichtbescheidung eines Verlegungsantrages unter Verstoß gegen das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG anerkannt (BeckOK StPO/Golf StPO § 230 Rn. 12.1).

Eine Verletzung rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn trotz beantragter Terminsverlegung oder -aufhebung und Bestehen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes gleichwohl eine mündliche Verhandlung am ursprünglich bestimmten Termin stattfindet und in der Sache entschieden wird. Gleiches gilt, sofern sich — ohne dass das Vorliegen eines Verlegungs- oder Aufhebungsgrundes abschließend beurteilt werden könnte — aus der Art und Weise der Be-handlung eines abgelehnten Terminsaufhebungs- oder -verlegungsantrags beziehungsweise der Begründung für dessen Ablehnung ergibt, dass die Bedeutung und die Tragweite des Rechts auf rechtliches Gehör verkannt wurden.

Der Angeklagte hat am 30.11.2022 die Aufhebung des auf den 03.12.2022 anberaumten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zwar muss der Antragssteller grundsätzlich die Gründe für eine Terminsverlegung oder -aufhebung im Antrag so detailliert vortragen, dass dem Gericht eine Prüfung ihrer Erheblichkeit möglich ist.

Hier kann indes offenbleiben, ob die durch den Antragssteller vorgebrachten Begründung eine Aufhebung des Termins geboten hätten. Genügt der Antrag den vorgenannten Voraus-setzungen nicht, so ist das Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens grundsätzlich verpflichtet, den Antragsteller auf Lücken im Antrag hinzuweisen und ihm die Möglichkeit zu geben, fehlende Angaben nachzuholen.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt jedenfalls, dass Lücken im Terminsaufhebungs-antrag durch Gewährung rechtlichen Gehörs geschlossen oder aber der Terminsaufhebungsantrag hätte beschieden werden müssen, was nicht erfolgt ist. Allenfalls bei einem erst unmittelbar vor dem Termin gestellten Antrag kann das Gericht von der Gewährung rechtlichen Gehörs absehen. Dies war hier aber nicht der Fall, da noch drei Werktage zwischen dem Antrag und dem Hauptverhandlungstermin lagen.

Die Nichtbescheidung des Terminsaufhebungsantrages entschuldigt daher den Angeklagten hinsichtlich der Versäumung der Hauptverhandlung. Demgemäß war ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.“