Eingang am Tag des Fristablaufs nach Dienstschluss, oder: Fristverlängerungsantrag ist (noch) rechtzeitig

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Urheber Ulfbastel

Die zweite Entscheidung behandelt auch eine Verzögerungsproblematik. Die liegt bei dem BVerfG, Beschl. v. 10.05.2023 – 2 BvR 370/22 – aber nicht auf seiten der Parteien, sondern auf seiten des Gerichts.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten Zahlungsklage erhoben. Der Beklagte trat der Forderung entgegen. Das AG leitete die Klageerwiderung mit Schreiben vom 01.12.2021 weiter und setzte eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen. Das Schreiben ging am 06.12.2021 bei dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein.

Mit Schreiben vom 20.12.2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Fristverlängerung. Aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung und urlaubsbedingter Ortsabwesenheit vom 06. bis 10.12.2021 sei eine inhaltliche Rücksprache mit der Klägerin  nicht mehr rechtzeitig möglich. Das Schreiben wurde am 20.12.2021 um 17:54 Uhr per besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) versandt.

Laut handschriftlichem Vermerk lag das Schreiben dem Richter zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht vor. Mit Urteil vom 21.12.2021 wies das AG die Klage ab. Das Urteil wurde der Geschäftsstelle am 21.12.2021, 13:35 Uhr, übergeben und den Parteien aufgrund Verfügung vom selben Tag zugestellt.

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 30.12.2021 erhob die Klägering Anhörungsrüge. Das Urteil sei ohne vorherige Entscheidung über ihren Fristverlängerungsantrag ergangen. Wäre die Frist antragsgemäß verlängert worden, was im Falle der erstmaligen Verlängerung zu erwarten sei, zumal tragfähige Gründe anwaltlich versichert worden seien, so wäre das Vorbringen des Beklagten bestritten worden.

Mit Beschluss vom 20.01.2022 wies das AG die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Gegen Art. 103 1 GG sei nicht in entscheidungserheblicher Weise verstoßen worden. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur bei plötzlicher und unvorhergesehener Arbeitsüberlastung gewährt werden.

Dagegen die Verfassungsbeschwerde der Klägerin, die Erfolg hatte:

„Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit sie sich gegen das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 richtet. In diesem Umfang ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet und ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin geboten. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen den Beschluss des Amtsgerichts über die Anhörungsrüge wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, da sie unzulässig ist.

1. Gemäß § 93a Abs. 2 lit. b), § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG kann die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen und ihr stattgeben, wenn diese zulässig und offensichtlich begründet und ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Dies ist im genannten Umfang der Fall.

2. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Mülheim an der Ruhr vom 21. Dezember 2021 wendet, ist ihre Verfassungsbeschwerde zulässig. Insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben und hinreichend im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG begründet. Soweit die Beschwerdeführerin auch den Beschluss über ihre Anhörungsrüge angreift, ist ihre Verfassungsbeschwerde nicht zulässig. Ein Beschluss, mit dem über die Anhörungsrüge entschieden wird, kann nur dann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wenn mit ihm eine eigenständige Beschwer verbunden ist (BVerfGE 119, 292 <294 f.>). Dies ist nur dann der Fall, wenn der Beschluss über die Anhörungsrüge dazu führt, dass bereits der Zugang zu dem Anhörungsverfahren mit nicht tragfähiger Begründung versagt wird und dieses Ergebnis bindend für den weiteren Prozess ist, eine andere fachgerichtliche Möglichkeit, die Korrektur des gerügten Gehörsverstoßes zu erreichen, also nicht mehr besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. März 2007 – 1 BvR 2748/06 -, Rn. 11 f.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2008 – 1 BvR 2327/07 -, Rn. 17). Nach diesem Maßstab liegt in dem Beschluss über die Anhörungsrüge keine eigenständige Beschwer, da lediglich die Korrektur des zuvor bereits begangenen Verstoßes unterblieb.

3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr hat das Recht der Beschwerdeführerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt.

a) Art. 103 1 GG garantiert die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligten, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten im gerichtlichen Verfahren zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 <6>). Zu jeder dem Gericht unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite muss die Gelegenheit zur Äußerung bestehen (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>). Das Gericht hat das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Bei seiner Entscheidung darf das Gericht keine Anforderungen an den Sachvortrag stellen, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter unter Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nicht zu rechnen braucht. Es darf auch keine Tatsachen zugrunde legen, zu denen nicht Stellung genommen werden konnte (vgl. BVerfGE 7, 275 <278>; 55, 1 <6>). Eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht besteht jedoch nicht. Auch kann aus Art. 103 Abs. 1 GG keine Pflicht des Gerichts, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen, abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>). Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist demnach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche Gesichtspunkte oder Erwägungen abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (BGH, Beschluss vom 13. Januar 2011 – VII ZR 22/10 -, juris, Rn. 6). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt aber keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Denn grundsätzlich geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 149, 86 <109 Rn. 63>). Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>; stRspr).

b) Das Gericht überging den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin und erließ sein den Rechtszug abschließendes Urteil, ohne darüber entschieden zu haben. Dies geht bereits aus den Gründen des Anhörungsrügebeschlusses hervor.

Die in dem Beschluss vom 20. Januar 2022 dargelegten Gründe rechtfertigen seine Vorgehensweise nicht.

aa) Maßgebliche Vorschrift für die Verlängerung gerichtlich gesetzter Stellungnahmefristen ist § 224 2 ZPO. Nach § 224 Abs. 2 ZPO können richterliche Fristen verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Es wird dabei als zulässig angesehen, auf eine eidesstattliche Versicherung zu verzichten und eine bloße anwaltliche Versicherung ausreichen zu lassen (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 224, Rn. 5), insbesondere dann, wenn es sich um eine erstmalige Verlängerung handelt (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 225, Rn. 4). Über einen Antrag auf Fristverlängerung kann nach § 225 Abs. 1 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

bb) Ein Antrag auf Fristverlängerung muss innerhalb der noch laufenden Frist bei Gericht eingegangen sein (vgl. Stackmann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 224, Rn. 8). Nicht erforderlich ist dagegen, dass über ihn noch während des Fristlaufs entschieden wird. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet wird oder dass es der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 3. Oktober 1979 – 1 BvR 726/78 -, juris, Rn. 20 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Dezember 2012 – 2 BvR 1294/10 -, Rn. 14; BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02 -, NJW 2003, S. 3418).

cc) Nach diesem Maßstab muss der Fristverlängerungsantrag als am 20. Dezember 2022, 17:54 Uhr, gestellt gelten, denn zu diesem Zeitpunkt gelangte das per beA übermittelte Schreiben in den Machtbereich des Gerichts. Soweit das Amtsgericht in seinem Beschluss über die Anhörungsrüge ausführte, der Fristverlängerungsantrag habe zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen, verfehlt es die prozessrechtlichen Anforderungen. Das Gericht hätte noch über den Antrag befinden müssen; Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts können nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin gehen.

dd) Das Amtsgericht konnte auch nicht verlangen, dass der Prozessbevollmächtigte seinen Fristverlängerungsantrag zu einem früheren Zeitpunkt hätte stellen müssen. Fristen dürfen einem gesicherten prozessrechtlichen Grundsatz zufolge, der seine Stütze im Verfassungsrecht findet, vollständig ausgeschöpft werden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 52, 203 <207>; 69, 381 <385>). Lediglich bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax ist zu beachten, dass mit der Übermittlung so rechtzeitig begonnen wird, dass in der Regel mit einem rechtzeitigen Abschluss des Sendungsvorgangs gerechnet werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2016 – VI ZB 7/15 -, juris, Rn. 9).

ee) Zuletzt spielt auch keine Rolle, ob den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin Verschulden trifft, ob er damit rechnen durfte, dass seinem Antrag stattgegeben werden würde und wann er mit einer Entscheidung rechnen durfte. Da es hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geht, sind diese Fragen unerheblich. Maßgeblich ist nach oben Dargestelltem allein, ob der Fristverlängerungsantrag rechtzeitig bei Gericht einging und ob ein erheblicher Grund dafür glaubhaft gemacht wurde. Von beidem ist hier auszugehen. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen das Amtsgericht den erstmaligen Fristverlängerungsantrag wegen Arbeitsüberlastung und Ortsabwesenheit hätte ablehnen können.

c) Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr überging nicht nur den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin, sondern schnitt ihr auf diesem Wege auch die Möglichkeit ab, zu dem Vorbringen der Beklagtenseite Stellung und damit Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu nehmen. Dies war entscheidungserheblich…..“

Angestellte adressiert Rechtsmittel falsch, oder: Rechtsanwalt hat Fristversäumung verschuldet

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Und im Kessel Buntes heute dann mal wieder zwei Entscheidungen zur (Frist)Versäumung. Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 26.01.2023 – I ZB 42/22 (schon etwas älter, aber erst jetzt veröffentlicht).

Gestritten wird in dem Verfahren um die Rechtszeitigkeit der Berufungseinlegung und die Wiedereinsetzung.

In dem Verfahren verlangt der Kläger von der Beklagten Maklervergütung. Das LG hat die Klage abgewiesen. Der Kläger hat gegen das ihm am 29.11.2021 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 28.12.2021, gerichtet an das LG Berufung eingelegt; dort ist der Schriftsatz am 28.12.2021 per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) um 18:50:24 Uhr eingegangen.

Das LG hat unter dem 30.12.2021 die Weiterleitung des Berufungsschriftsatzes an das Berufungsgericht verfügt, wo der Berufungsschriftsatz am 03.01.2022 eingegangen ist. Mit Schriftsatz vom 11.01.2022, beim Berufungsgericht am 12.01.2022 eingegangen, hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt.

Zur Begründung seines Antrags hat der Kläger vorgetragen, sein vormaliger Prozessbevollmächtigter habe seiner langjährigen und zuverlässigen Mitarbeiterin vor deren Urlaubsantritt den Auftrag erteilt, den Berufungsschriftsatz in der elektronischen Anwaltsakte zu erstellen und zu speichern. Kurz vor dem Urlaubsantritt der Mitarbeiterin habe der Prozessbevollmächtigte gemeinsam mit dieser eine Fristenkontrolle durchgeführt und einen als „Berufung“ bezeichneten Schriftsatz in der elektronischen Akte des Klägers vorgefunden. Diesen habe sein Prozessbevollmächtigter sodann am 28.12.2021 per beA abgesandt. Zu der fehlerhaften Adressierung an das Landgericht sei es gekommen, weil die Mitarbeiterin die Anweisung, den Berufungsschriftsatz selbst zu erstellen, nicht befolgt, sondern eine Auszubildende damit beauftragt habe. Bei der Kontrolle des Schriftsatzes habe die Mitarbeiterin dann übersehen, dass dieser fehlerhaft an das Landgericht adressiert gewesen sei. Sein Prozessbevollmächtigter habe darauf vertraut, dass der Schriftsatz korrekt an das Oberlandesgericht adressiert gewesen sei. Der Schriftsatz sei versehentlich an das falsche Gericht übersandt worden, weil die Übersendung in der bekannten anwaltlichen Stresssituation im Jahresendgeschäft während der Weihnachts- und Urlaubszeit erfolgt und durch den Umstand beeinflusst gewesen sei, dass der Schriftsatz vor dem Versand an das Gericht bei Verwendung des beA – anders als bei einer handschriftlichen Unterzeichnung – nicht auf den ersten Blick ersichtlich sei, sondern durch Betätigung des hierfür vorgesehenen Symbols im beA hätte aufgerufen werden müssen. Es überspannte die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts, wenn von ihm verlangt würde, alle Schriftsätze, die er über das beA mit seiner eigenen Kennung an die Gerichte übermittele, vor dem Absenden selbst noch einmal auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Der Berufungsschriftsatz sei zudem bei der zentralen Eingangsstelle des LG und des OLG eingegangen. Es existiere eine zentrale gemeinsame Briefannahmestelle der beiden Gerichte und es könne vermutet werden, dass dies auch noch nach Einführung des beA der Fall sei. Jedenfalls könne durch die Digitalisierung, die gerade das Ziel der Beschleunigung verfolge, keine Schlechterstellung des Rechtsanwalts erfolgen, der Schriftsätze per beA einreiche. Das digitalisierte Schriftstück sei genauso zu behandeln als wäre es an der zentralen gemeinsamen Briefannahmestelle eingegangen.

Selbst wenn man davon ausginge, dass es keine gemeinsame Briefannahmestelle gebe, so hätte der Schriftsatz doch ohne weiteres am 29.12.2021, einem normalen Werktag, digital an das zuständige Rechtsmittelgericht weitergeleitet, ausgedruckt und vorgelegt werden können. Im Zeitalter der Digitalisierung innerhalb der Justiz eine Postlaufzeit von drei Tagen anzunehmen, erscheine antiquiert und laufe dem Ziel des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs zuwider.

Mit Beschluss vom 14.12.2022 hat das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde. Das Berufungsgericht hat die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags wie folgt begründet: Der Kläger sei nicht schuldlos an der Versäumung der Frist gehindert gewesen, da ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO das insoweit vorliegende Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zuzurechnen sei. Dieser habe seine Pflichten dadurch verletzt, dass er den Berufungseinlegungsschriftsatz nicht auf die richtige Adressierung hin überprüft und entsprechend berichtigt habe. Die Anfertigung der Rechtsmittelschrift dürfe in einem so gewichtigen Teil wie der Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts auch gut geschultem und erfahrenem Personal eines Rechtsanwalts nicht eigenverantwortlich überlassen werden. Der Prozessbevollmächtigte müsse die Rechtsmittelschrift vor Unterzeichnung und Versendung mittels beA auf Vollständigkeit und auf die richtige Bezeichnung des Rechtsmittelgerichts hin überprüfen.

Dieses Verschulden sei auch für die Versäumung der Berufungsfrist kausal geworden. Der Berufungsschriftsatz sei am 28.12.2021 gerade nicht beim OLG eingegangen. Als Empfänger sei vielmehr das LG ausgewiesen. Eine zentrale Eingangsstelle existiere nicht. Es gebe auch keinen verpflichtenden interbehördlichen digitalen Schriftverkehr. Das Landgericht sei kein Erfüllungsgehilfe des Prozessbevollmächtigen des Klägers zur Wahrung der Rechtsmittelfrist. Eine Fiktion der Wahrung der Berufungseinlegungsfrist durch Übermittlung eines digitalen Schriftsatzes an jedwedes Gericht des Landes Hessen lasse sich mit den Vorschriften der Zivilprozessordnung nicht in Einklang bringen.

Der BGH hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen. Hier die amtlichen Leitsätze zu seiner Entscheidung:

1. Hat der Prozessbevollmächtigte einer Partei die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift seinem angestellten Büropersonal übertragen, ist er verpflichtet, das Arbeitsergebnis vor Absendung über das besondere elektronische Anwaltspostfach sorgfältig auf Vollständigkeit zu überprüfen. Dazu gehört auch die Überprüfung, ob das Rechtsmittelgericht richtig bezeichnet ist.
2. Geht ein fristwahrender Schriftsatz über das besondere elektronische Anwaltspostfach erst einen Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim Rechtsmittelgericht geführt hat (Fortführung von BGH, Beschluss vom 8. Februar 2012 – XII ZB 165/11, NJW 2012, 1591]).

 

Ich habe da mal eine Frage: Für mehrere Nebenkläger tätig, welches Honorar?

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Und dann hier noch die Gebührenfrage zum Abschluss des Gebührentages:

„Hallo Herr Kollege Burhoff.

Dürfte ich Sie mit einer Gebührenfrage stören?

Ich finde leider in Ihrem Buch und Ihrem Blog nicht die Antwort auf mein Anliegen.

Ich wurde vom Landgericht zunächst für eine Nebenklägerin als Beistand nach 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO beigeordnet. Vor Beginn der ersten Hauptverhandlung auch für zwei weitere Nebenkläger erfolgte ebenfalls die Beiordnung zum Beistand nach 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO

Kann ich jetzt die Gebühren abrechnen mit einer Erhöhung der Pflichtverteidigergebühr um 60 % gemäß Nr. 1008 VV RVG?

Über eine Beantwortung würde ich mich sehr freuen und bedanke mich herzlichst im Voraus.“

Zweimal Hauptverhandlungstermin an einem Tag, oder: Entstehen zwei Terminsgebühren?

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Und dann die zweite Entscheidung, die sehr gut zum Gebührenrätsel vom letzten Freitag – el: Ich habe da mal eine Frage: Zweimal Terminsgebühr an einem Tag? passt (hier die Lösung: Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Zweimal Terminsgebühr an einem Tag?).

Es handelt sich um den LG Freiburg, Beschl. v. 25.05.2023 – 9 Qs 5/23 -, den mir der Kollege H. Meier aus Freiburg geschickt hat.

Der Kollege war Pflichtverteidiger in einem BtM-Verfahren. In dem ist der Angeklagte zwar zur Hauptverhandlung geladen worden, jedoch ohne Einhaltung der vorgeschriebenen Ladungsfrist. Der Angeklagte war (daher?) zunächst nicht erschienen, woraufhin die Hauptverhandlung ausgesetzt wurde. Der Kollege, der erschienen war, hat sich wieder in seine  Kanzlei begeben.

Sodann wurde er kurze Zeit später – nachdem der Angeklagte doch noch erschienen war – telefonisch kontaktiert und gebeten zurückzukommen. Dieser Bitte ist er nachgekommen, sodass das Verfahren wieder aufgenommen und erneut „hauptverhandelt“ wurde. Schließlich kam es allerdings zu einer weiteren Aussetzung des Verfahrens, da der Angeklagte seinerseits nicht auf die Einhaltung der Ladungsfristen verzichtete und mit einer Fortführung der Verhandlung nicht einverstanden war. Angesichts dessen fand ein weiterer (letztlich dritter) Hauptverhandlungstermin am 05.07.2022 statt.

Der Kollege hat für den Hauptverhandlungstag zweimal die Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG geltend gemacht. Das AG hat nur eine Terminsgebühr gewährt, das LG ist dann auf die Beschwerde dem Ansatz des Kollegen gefolgt:

„Auch in der Sache hat die Beschwerde Erfolg.

Der Verteidiger hat die Gebühr Nr. 4108 VV RVG (zzgl. 19 % USt) für das Prozessgeschehen am 15.03.2022 zu Recht zwei Mal beantragt. Da diese nur einmal festgesetzt worden ist, waren ihm weitere 242,00 EUR Terminsgebühr nach Nr. 4108 VV RVG zzgl. Umsatzsteuer in Höhe von 19 % nach Nr. 7008 VV RVG iHv 45,98 EUR, mithin insgesamt ein weiterer Betrag von 287,98 EUR zu erstatten.

Zwar ist in Nr. 4108 VV RVG geregelt, dass die Terminsgebühr je „Hauptverhandlungstag“ anfällt, weshalb mehrere Hauptverhandlungstermine in derselben Sache an einem Tag grundsätzlich nur zu einer Terminsgebühr führen (vgl. Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021, Rn. 3).

Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine Hauptverhandlung nach § 228 StPO ausgesetzt wird und noch am selben Tag ein neuer Hauptverhandlungstermin stattfindet, weil der zum Pflichtverteidiger beigeordnete Rechtsanwalt auf die Einhaltung der Ladungsfristen verzichtet hat (vgl. AG Cottbus Beschl. v. 04.10.2016 – 72 Ls 1610 Js 19300/12 – juris).

Zu Recht führt das Amtsgericht Cottbus insoweit aus, dass in dieser Konstellation letztlich zwei eigenständige Termine stattfinden, die nur zufällig auf denselben Wochentag gefallen sind. Hätte der neue Hauptverhandlungstermin an einem anderen Tag stattfinden müssen, wäre unzweifelhaft eine weitere Gebühr nach Nr. 4108 VV RVG entstanden. Dem Verteidiger, der zur Beschleunigung des Verfahrens und zur Vermeidung weiterer Kosten (wie bspw. Fahrtkosten oder Ausfallgeldern) auf die Einhaltung der Ladefristen verzichtet und die Durchführung einer erneuten Haupt-verhandlung noch am selben Tag ermöglicht, hingegen nur eine Terminsgebühr zu erstatten, er-scheint unbillig und gebietet es, ausnahmsweise von der Regelung in Nr. 4108 VV RVG (eine Terminsgebühr je Verhandlungstag) abzuweichen.

Nach den im Beschwerdeverfahren eingeholten Stellungnahmen, hat sich das Prozessgeschehen am 15.03.2022 wie folgt dargestellt:

Der Angeklagte, der zwar geladen wurde, jedoch ohne Einhaltung der vorgeschriebenen Ladungsfrist, war zunächst nicht erschienen, woraufhin die Hauptverhandlung nicht nur unterbrochen, sondern ausgesetzt wurde. Die Verhandlung war beendet, der Verteidiger ging zurück in seine Kanzlei. Sodann wurde er kurze Zeit später – nachdem der Angeklagte doch noch erschienen war – telefonisch kontaktiert und gebeten zurückzukommen, mithin erneut geladen. Dieser Bitte entsprach er, sodass das Verfahren wieder aufgenommen wurde. Schließlich kam es allerdings zu einer weiteren Aussetzung des Verfahrens, da der Angeklagte seinerseits nicht auf die Einhaltung der Ladungsfristen verzichtete und mit einer Fortführung der Verhandlung nicht einverstanden war. Angesichts dessen fand ein weiterer (letztlich dritter) Hauptverhandlungstermin am 05.07.2022 statt.

Dieser Ablauf entspricht in dem entscheidenden Umstand, nämlich dem erneuten Erscheinen des Verteidigers bei Gericht, nachdem die Hauptverhandlung zuvor ausgesetzt worden war, der Konstellation in der dargelegten Entscheidung des Amtsgerichts Cottbus, mit der dem Verteidiger zu Recht eine weitere Terminsgebühr zzgl. Umsatzsteuer zuerkannt wurde. Dass das erneute Erscheinen des Verteidigers am 15.03.2022 vorliegend letztlich nicht dazu führte, dass die Haupt-verhandlung an diesem Tag auch beendet werden konnte, sondern erneut ausgesetzt werden musste, ändert an den tragenden Erwägungen nichts_ Der Verteidiger hatte die weitere Aussetzung nicht zu vertreten. Er ist erneut verhandlungsbereit bei Gericht erschienen und das Verfahren wurde wieder aufgenommen. Die zweite Terminsgebühr war damit entstanden.“

Ganz kurze 🙂 Anmerkung: Richtig.

War das (fristwahrende) Rechtsmittel notwendig?, oder: Überprüfung der Verteidigerentscheidung?

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Und heute dann RVG-Tag. Zum Glück habe ich in den letzten Tagen zwei Entscheidungen geschickt bekommen, so dass ich die vorstellen kann. Mein Aufruf, mir (gebührenrechtliche) Entscheidungen zu schicken, gilt aber nach wie vor.

Hier dann also der LG Heidelberg, Beschl. v. 09.05.2023 – 12 Qs 16/23 -, den mir der Kollege Nagel aus Limburg geschickt hat. Der hat um seine Gebühren im Rechtsmittelverfahren kämpfen müssen. Der Kollege hatte als Pflichtverteidiger den Angeklagten in einem Verfahren wegen Beleidigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte u.a. verteidigt. Nachdem der Angeklagte vom AG zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verteilt worden war, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, hat der Kollege hiergegen im Namen des Angeklagten Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Einlegung zunächst fristwahrend erfolge, um dem Mandanten die Möglichkeit zu geben, sich erneut mit ihm zu besprechen. Hintergrund sei, dass die Staatsanwaltschaft im Hauptverhandlungstermin eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung beantragt und in der Hauptverhandlung keinen Rechtsmittelverzicht erklärt habe, weswegen nicht abgeschätzt werden könne, ob diese das Urteil akzeptiere.

Nachdem die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat, hat der Kollege, der die Sach- und Rechtslage zwischenzeitlich sowohl mit seinem Mandanten als auch mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert hatte, die Berufung namens und im Auftrag seines Mandanten zurückgenommen.

Das AG hat – dem Kostenfestsetzungsantrag des Verteidigers folgend – die Pflichtverteidigervergütung festgesetzt und dabei auch die Gebühren nach Nrn. 4124, 4141 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 VV RVG gewährt. Der Vertreter der Staatskasse hat das beanstandet und Erinnerung eingelegt, mit der er beantragt hat, die festgesetzten Pflichtverteidigergebühren – durch Abzug der Gebühren für das Berufungsverfahren – zu reduzieren. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die insoweit geltend gemachten und festgesetzten Gebühren auf nicht notwendigem Verteidigerhandeln beruhten und daher nicht erstattungsfähig seien. Der Pflichtverteidiger dürfe nicht besser gestellt werden, als er stünde, wenn er als Wahlverteidiger beauftragt und die Staatskasse erstattungspflichtig wäre. Auch in diesem Fall würde nur die durch notwendige Verteidigung entstandene Vergütung ersetzt werden. Da dem Angeklagten nach der Berufungsrücknahme die Kosten auferlegt worden seien, bestünde in diesem Fall für einen Wahlverteidiger kein Erstattungsanspruch; der Pflichtverteidiger dürfe insoweit nicht bessergestellt werden. Werde die Berufung zurückgenommen, so sei davon auszugehen, dass schon die Einlegung nicht notwendig gewesen sei.

Das AG ist dem dann gefolgt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Kollegen hatte Erfolg. Das LG hat sowohl die Nr. 4124 VV RVG als auch die Nr. 4141 VV RVG gewährt:

„Der Beschwerdeführer hat einen Anspruch auf Festsetzung von Pflichtverteidigergebühren in Höhe von insgesamt 1.982,25 €, weshalb der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts mit dem dieser Betrag um die Gebühren für das Berufungsverfahren gekürzt wurde, aufzuheben war.

Sowohl die Verfahrensgebühr für die Berufung (Nr. 4124 VV RVG) als auch die Gebühr für die Berufungsrücknahme (Nr. 4141 Abs. 1 Nr. 3 VV RVG) sind entstanden. Letztgenannte Gebühr entsteht gemäß Nr. 4141 Abs. 2 VV RVG nur dann nicht, wenn eine auf die Förderung des Verfahrens gerichtete Tätigkeit (des Verteidigers) nicht ersichtlich ist, was hier nicht der Fall ist. Die Berufungseinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten; Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels aber über die Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz (vgl. KG Berlin v. 20.01.2009 (1 Ws 382/08). Nach Aktenlage hat der Verteidiger nach der Berufungseinlegung sowohl mehrere Beratungsgespräche mit seinem Mandanten geführt als auch die Sach- und Rechtslage mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert, so dass ein Tätigwerden nach Berufungseinlegung vorliegt.

Wie der Bezirksrevisor in seiner Stellungnahme vom 22.03.2022 zutreffend ausführt, ist die Frage, ob Gebührenansprüche des Verteidigers entstanden sind, grundsätzlich von der Frage zu unterscheiden, ob diese auch von der Staatskasse zu erstatten sind. Vorliegend hat jedoch eine Erstattung zu erfolgen, weil das Tätigwerden des Verteidigers im Rahmen des Berufungsverfahrens – entgegen der Ansicht des Bezirksrevisors und des Amtsgerichts – kein „nicht notwendiges Verteidigerhandeln“ darstellt.

Soweit im angefochtenen Beschluss auf einen Vergleich mit einem Wahlverteidiger abgestellt und ausgeführt wird, dass der Pflichtverteidiger keine Erstattung verlangen könne, weil er ansonsten besser stehe als der Wahlverteidiger, der – aufgrund der vollständigen Kostentragung des Angeklagten bei Berufungsrücknahme – keinen Erstattungsanspruch habe, trägt diese Argumentation nicht. Zum einen handelt es sich um andere, nicht vergleichbare Konstellationen, zum anderen hätte sie zur Konsequenz, dass der Pflichtverteidiger in keinem Fall, in dem sein Mandant verurteilt wird und dementsprechend die Kosten zu tragen hat, eine Erstattung verlangen könnte. Auch der Begründung des Bezirksrevisors, woraus sich schon aus der Rücknahme des Rechtsmittels ergebe, dass deren Einlegung nicht notwendig gewesen sei, vermag die Kammer nicht zu teilen.

Denkbar wäre allenfalls die Notwendigkeit des Verteidigerhandelns nach der Berufungseinlegung dann zu verneinen, wenn die Berufungseinlegung allein vorsorglich für den Fall einer Einlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt wäre. In einem solchen Fall könnte man – in Anlehnung an die bestehende und in der Erinnerung des Bezirksrevisors zitierte Rechtsprechung, wonach Verteidigertätigkeit auf ein allein von der Staatsanwaltschaft eingelegtes Rechtsmittel noch vor dessen Begründung nicht notwendig und damit nicht erstattungsfähig sei (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 65. A. 2022, § 464a Rn 10 m.w.N.) – möglicherweise von einem nicht notwendigen Verteidigerhandeln ausgehen. Ob die genannte Rechtsprechung auf eine solche Fallgestaltung übertragen werden kann, kann aber letztlich dahinstehen, da ein solcher Fall nicht vorliegt. Der Verteidiger führte im Rahmen seiner Berufungseinlegung vom 24.07.2019 zwar aus, dass diese vor dem Hintergrund erfolge, dass man nicht wisse, ob das Urteil seitens der Staatsanwaltschaft akzeptiert werde, nannte als weiteren Beweggrund aber auch den Umstand, dass die Einlegung erfolge, um nochmals die Möglichkeit zu haben, sich mit seinem Mandanten zu besprechen. In der Folge machte er deutlich, dass er sich für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel einlege, erneut mit seinem Mandanten beraten und die Berufung dann gegebenenfalls zurücknehmen werde. Dass die Einlegung ausschließlich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgte, lässt sich dem gerade nicht entnehmen. Dass die eigene Berufung im Falle einer Nichteinlegung der Staatsanwaltschaft wieder zurückgenommen wird, wird zwar als Möglichkeit in Aussicht gestellt, aber keineswegs verbindlich angekündigt.

Auch wenn das Amtsgericht im erstinstanzlichen Verfahren im Wesentlichen dem Antrag der Verteidigung gefolgt ist, so lässt sich auch daraus nicht entnehmen, dass das Weiterverfolgen der eigenen Berufung (auch ohne gleichzeitige Einlegung der Staatsanwaltschaft) mit dem Ziel, eine für den Mandanten günstigere Entscheidung zu erwirken, von vornherein sinn- oder zwecklos wäre. Das Amtsgericht hat den Angeklagten zwar – dem Antrag des Verteidigers folgend – zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und dabei auch die vom Verteidiger vorgeschlagenen Bewährungsauflagen übernommen, es ging aber auch über den Verteidigerantrag hinaus, indem es eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten ausgesprochen hat, während der Verteidiger eine solche von sieben Monaten beantragt hatte. Hinzu kommt, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfenen Taten ausweislich des Protokolls in der Hauptverhandlung zwar weitgehend, aber nicht vollumfänglich eingeräumt hat. Hinsichtlich einer der vier angeklagten Taten hatte der Verteidiger zudem eine Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO angeregt, welcher die Staatsanwaltschaft entgegengetreten war. Schließlich kommt hinzu, dass nach Einlegung der Berufung wegen neuerlicher Straffälligkeit eines neues Verfahren seitens der Staatsanwaltschaft Heidelberg gegen den Angeklagten geführt wurde (am 08.08.2019 erging deshalb erneut Haftbefehl gegen ihn) und für die Verteidigung nunmehr auch die Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung im Falle der Weiterverfolgung der Berufung zu bedenken war. Diese Thematik wurde seitens des Verteidigers am 26.09.2019 mit dem Vorsitzenden der Berufungskammer erörtert, wobei der Verteidiger dabei noch erklärte, dass er sich wegen dieses Umstandes zunächst an einer Berufungsrücknahme gehindert sehe und er die Angelegenheit nochmals mit seinem Mandanten besprechen wolle.

Angesichts dieser Umstände vermag die Kammer nicht festzustellen, dass die Einlegung der Berufung bzw. das weitere Tätigwerden im Berufungsverfahren – auch nachdem bekannt war, dass die Staatsanwaltschaft kein Rechtsmittel eingelegt hat – nicht notwendig gewesen wäre. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grundsätzlich dem Verteidiger und seinem Mandanten obliegt und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheint.“

Dazu kurz Folgendes:

  1. Das LG „verteilt“ die vom Kollegen, der auch im Ausgangsverfahren tätig war, in Zusammenhang mit einem Rechtsmittel zu erbringenden Tätigkeiten zutreffend: Die Rechtsmitteleinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten, was aus § 19 Abs. 1 Satz. 2 Nr. 10 RVG folgt. Alles Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels werden aber von der jeweiligen Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz erfasst, was sowohl für das Berufungsverfahren gilt (Nr. 4124 VV RVG) als auch für das Revisionsverfahren.
  2. Der Kollege hatte Verteidiger bei der Einlegung seiner Berufung darauf hingewiesen hatte, dass die Einlegung zunächst nur fristwahrend erfolge. Daraus und aus der später erfolgten Berufungsrücknahme nun den Schluss ziehen zu wollen – was der Vertreter der Staatskasse tut –, dass deshalb die Verfahrensgebühren für das Berufungsverfahren nicht entstanden seien, ist m.E. abwegig. Entscheidend ist – und darauf will das LG auch wohl abstellen – die Sicht „ex ante“. Aus der Sicht war die Berufungseinlegung aber notwendig, schon um ggf. in Gesprächen mit der Staatsanwaltschaft nach Rücknahme einer ggf. von dort aus eingelegten Berufung über die beiderseitige Rücknahme „verhandeln“ zu können. Wohltuend ist in dem Zusammenhang der Hinweis des LG, dass die Entscheidung über die Art und Weise der Verteidigung grundsätzlich dem Verteidiger und seinem Mandanten obliege und im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung dieser Entscheidung im Hinblick auf die Notwendigkeit einzelner Verteidigungshandlungen eine gewisse Zurückhaltung geboten erscheine. Das liest man leider viel zu selten und das wird leider noch viel seltener beachtet. Im Grunde geht es die Vertreter der Staatskasse gar nichts an, warum Berufung eingelegt worden ist.
  3. Aber Vorsicht. Die Entscheidung ist kein Freibrief für Verteidigerhandeln im Rechtsmittelverfahren. Das LG lässt m.E. deutlich erkennen, dass es ggf. zu einer Beurteilung gekommen wäre, wenn der Verteidiger die Rücknahme der Berufung verbindlich angekündigt hätte, falls die Staatsanwaltschat ein ggf. von ihr eingelegtes Rechtsmittel wieder zurücknimmt. „Gerettet“ hat den Verteidiger/Mandanten hier der Umstand, dass man auch in dem Fall die Sach- und Rechtslage noch einmal mit dem Mandanten erörtern wollte. Das sollte bei der Rechtsmitteleinlegung beachtet und ggf. ausgeführt werden.