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Verkehrsrecht I: Fahren ohne Fahrerlaubnis und BtM, oder: Mehrere Taten verklammern bei BtM-Besitz

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Heute dann seit längerem mal wieder ein wenig Verkehrsrecht.

Hier kommt dann erst mal der – schon etwas ältere, aber jetzt erst veröffentlichte – BGH, Beschl. v. 04.07.2023 – 2 StR 178/23. Den hätte ich auch an einem BtM-Tag vorstellen können, denn es geht um die Verklammerung zweier Fahrten ohne Fahrerlaubnis durch BtM-Besitz.

Der Entscheidung liegt etwa folgender Sachverhalt zugrunde: Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln verurteilt. Der Angeklagte war mit einem Kfz im öffentlichen Verkehr gefahren, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein. In seiner rech­ten Hosentasche führte er 1,33 Gramm Kokainzubereitung mit einem Wirkstoff­gehalt von 82,1% mit sich. Die Fahrt unternahm er jedenfalls auch zum Zwecke des Transports der Betäubungsmittel. Nach einer ei­nige Minuten dauernden Unterbrechung der Fahrt, zu der er das Auto verlassen hatte, entschloss er sich erneut zu einer Fahrt. Er be­stieg ein anderes Auto und fuhr damit davon, bevor er von der Polizei gestellt wurde.

Dagegen die Revision des Angeklagten, die zu einer Schuldspruchberichtigung dahingehend geführt hat, dass der Angeklagte wegen uner­laubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in zwei tatein­heitlichen Fällen strafbar ist:

2. Das Landgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte den Tatbestand des § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG in zwei tatmehrheitlichen Fällen verwirklicht hat. Es hat weiter zu Recht angenommen, dass der Angeklagte während beider Taten durch das Beisichführen des Kokains (zum Eigengebrauch) jeweils tateinheitlich unerlaubten Besitz von Betäubungsmitteln ausübte (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG). Allerdings hat die Strafkammer zu Unrecht von einer Verklammerung der Taten nach § 21 Abs. 1 StVG durch § 29 BtMG abgesehen.

a) Zwischen zwei eigentlich selbständigen Delikten kann durch das Vorliegen eines dritten Delikts Tateinheit hergestellt werden, wenn mit diesem jedes der beiden Delikte ideal konkurriert. Eine solche Klammerwirkung ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn zwischen dem dritten und zumindest einem der beiden verbundenen Delikte „annähernde Wertgleichheit“ besteht (vgl. dazu Fischer, StGB, 70. Aufl., vor § 52 Rn. 30 mN zur Rspr.). Dabei ist der Wertevergleich nicht nach einer abstrakt-generalisierten Betrachtungsweise, sondern anhand der konkreten Gewichtung der Taten vorzunehmen; minder schwere Fälle oder wegen vertypter Milderungsgründe vorzunehmende Strafrahmenverschiebungen sind mithin zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 18. Juli 1984 – 2 StR 322/84, BGHSt 33, 4, 7; Urteil vom 28. Oktober 2004 – 4 StR 268/04, NStZ 2005, 262; Beschluss vom 2. Dezember 2008 – 3 StR 203/08, NStZ 2009, 692; Urteil vom 13. Dezember 2012 ‒ 4 StR 99/12, NStZ-RR 2013, 147, 149).

b) Gemessen daran liegen die Voraussetzungen für eine Verklammerung vor. Die von dem Angeklagten begangenen Straßenverkehrsdelikte wiegen entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht „maßgeblich schwerer als der Besitz einer geringen Menge Betäubungsmittel, die ausschließlich zum Eigenkonsum bestimmt war“.

Der vorzunehmende Wertevergleich ergibt ‒ auch bei konkreter Gewichtung der Taten ‒ vielmehr, dass der Unrechtsgehalt des Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG jedenfalls nicht hinter demjenigen des Straßenverkehrsdelikts zurückbleibt. Dies folgt schon aus dem Vergleich der Strafrahmen, der deutlich macht, dass § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG im Ausgangspunkt weit größeres Unrecht erfasst als § 21 Abs. 1 StVG, und gilt hier auch unter Berücksichtigung von § 29 Abs. 5 StGB, der ein Absehen von Strafe beim Besitz einer geringen Menge zum Eigenverbrauch ermöglicht. Denn ein solcher Fall ist nicht gegeben, weswegen das Landgericht § 29 Abs. 5 BtMG in seine „konkrete“ Betrachtung gar nicht hätte aufnehmen dürfen.

In der Sache nimmt die Strafkammer bei ihrem Vergleich der verwirklichten Delikte auch keine „konkrete Gewichtung“ der von dem Angeklagten begangenen Taten vor, denn dann hätte sie einerseits etwa Art und Menge des Betäubungsmittels sowie Dauer des Besitzes und andererseits Länge der Fahrstrecke und damit einhergehende Gefährdung von Verkehrsteilnehmern in den Blick nehmen und daran den Unrechtsgehalt der Taten bestimmen müssen. Sie gewichtet letztlich den abstrakten Unrechtsgehalt der vom Angeklagten begangenen Straftaten, dies allerdings unter Missachtung der vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen nach eigenen Maßstäben. Dass dieser Betrachtung eine abstrakte Sichtweise zugrunde liegt, wird schließlich auch in der konkreten Strafzumessung zu den Taten II. 2 und 3 der Urteilsgründe deutlich, die die Wertung des Landgerichts bei der Konkurrenzfrage nicht aufnimmt. Dort entnimmt das Landgericht die Strafen jeweils dem Strafrahmen des § 29 Abs. 1 BtMG, ohne – was ansonsten nahe gelegen hätte – darauf hinzuweisen, dass der Besitz der Betäubungsmittel zum Eigenkonsum erfolgt ist und deshalb am unteren Rand des von § 29 Abs. 1 BtMG erfassten Unrechtsgehalts liegt. Ebenso wenig wird strafschärfend auf die tateinheitliche Begehung des nach Ansicht des Landgerichts in seinem Unrechtsgehalt maßgeblich schwerer wiegenden Straßenverkehrsdelikts hingewiesen.

c) Mit der Annahme einer Verklammerung liegt insoweit nur eine statt zwei Taten vor. Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend; § 265 Abs. 1 StPO steht nicht entgegen, da der geständige Angeklagte dadurch nicht in seinen Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt wird.“

Und zur Strafzumessung wird der BGH dann selbst tätig, und zwar wie folgt:

„d) Die Annahme von Tateinheit führt zum Wegfall der Einzelstrafen für die Taten II. 2 und II. 3 der Urteilsgründe. Der Senat setzt für die nunmehr abgeurteilte Tat die bisherige Einzelstrafe von 90 Tagesätzen für Tat II. 2 der Urteilsgründe als neue Strafe fest. Er kann damit auch ausschließen, dass eine möglicherweise falsch gewichtete Bemessung der vom Landgericht verhängten Einzelstrafen sich bei der neuen Strafbemessung zu Lasten des Angeklagten (noch) auswirkt.

e) Der Wegfall einer Einzelstrafe von 60 Tagessätzen lässt den Gesamtstrafenausspruch unberührt. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht ohne diese Strafe eine noch niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe verhängt hätte.

f) Das Landgericht hat es versäumt, hinsichtlich der verhängten Einzelgeldstrafen eine Tagessatzhöhe festzusetzen. Der Senat holt dies nach und setzt den Tagessatz auf das gesetzliche Mindestmaß auf ein Euro fest, um damit jedwede Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen.“

U-Haft III: Neues zur Sechs-Monats-Haftprüfung, oder: Dieselbe Tat, zügiger Termin, unzuständiges Gericht

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Und zum Tagesschluss stelle ich dann drei Entscheidungen zum Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121 ff. StPO – also Sechs-Monats-Prüfung – vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 19.10.2023 – 19.10.2023 -, in dem sich der BGH noch einmal zum Begriff „derselben Tat“ geäußert hat, und zwar wie folgt:

„Der Begriff derselben Tat im Sinne dieser Vorschrift weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls – im Sinne eines dringenden Tatverdachts – bekannt waren. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (st. Rspr.; s. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 – AK 14/17, juris Rn. 6 ff.; vom 7. September 2017 – AK 42/17, NStZ-RR 2018, 10, 11; vom 16. Januar 2018 – AK 78/17, juris Rn. 11; vom 25. Juli 2019 – AK 34/19, NStZ 2019, 626 Rn. 7 f.; vom 14. Mai 2020 – AK 8/20, juris Rn. 5 ff.; vom 20. September 2023 – AK 54/23, juris Rn. 8).“

Zur Abrundung dann noch zwei KG-Beschlüsse zur Frage der Verfahrensverzögerung und/oder dem Beschleunigungsgrundsatz, und zwar:

1. Im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO bildet allein der zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftbefehl den Prüfungsgegenstand. Dies gilt auch dann, wenn der Haftbefehl auf weitere Taten hätte erweitert werden können, tatsächlich aber nicht erweitert worden ist. Mit einer im Eröffnungsbeschluss getroffenen Haftfortdauerentscheidung „nach Maßgabe des Anklagesatzes“ kann ein Haftbefehl nicht in prozessual ordnungsgemäßer Weise auf die weiteren Anklagevorwürfe erweitert werden.

2. Im Gerichtsverfahren muss bei der Bearbeitung von Haftsachen der Gesichts-punkt der vorausschauenden Planung im Vordergrund stehen. Die Umstände des Falles können es nahegelegen, für eine zügige Terminierung direkte und schnelle Kommunikationswege (E-Mail, Telefon oder Fax) zu beschreiten.

Dass zunächst Anklage zur allgemeinen Strafkammer erhoben und die Sache von dort dem Schwurgericht vorgelegt wird, stellt dann keine sachwidrige Verfahrensverzögerung dar, wenn die Anklage rechtlich vertretbar bei dem sich schließlich für unzuständig haltenden Gericht erhoben worden ist. Denn es ist als Folge der Gewaltenteilung hinzunehmen, dass ein Strafgericht den angeklagten Lebenssachverhalt in Einzelfällen anders würdigt als die Staatsanwaltschaft.

U-Haft II: In der JVA Laptop für die Akteneinsicht, oder: „Kurze“ Fahrt zur Vorführung vor zuständigen Richter

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Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen betreffend das „U-Haft-Verfahren“.

Zunächst der Hinweis auf den LG Nürnberg, Beschl. v. 07.11.2023 – 13 Qs 56/23 – zur Frage der Form der Akteneinsicht in Akten mit besonders großem Aktenumfang, wenn der Beschuldigte inhaftiert ist. Dazu das LG (im Leitsatz):

Dem Beschuldigten ist in Strafverfahren mit besonders großem Aktenumfang zur effektiven Vorbereitung auf die Hauptverhandlung Akteneinsicht auch in Form von elektronischen Dokumenten, die auf einem Laptop eingesehen werden können, zu gewähren: Die Staatsanwaltschaft hat der JVA ggf. eine verschlüsselte CD-ROM mit der Akte im pdf-Format zu übersenden und die JVA dem Beschuldigten sodann einen Laptop mit der aufgespielten elektronischen Akte in einem besonderen Haftraum zur Verfügung stellen.

Und dann der AG Nürnberg, Beschl. v. 31.10.2023 – 58 Gs 12014/23 -, mit dem das AG einen Haftbefehl aufgehoben hat. Begründung:

„Der Haftbefehl war aus den folgenden Gründen aufzuheben:

1. Dem Vollzug des Haftbefehls steht der Spezialitätsschutz des § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.12.2012, Aktenzeichen: 1 StR 165/12) entfällt ein wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Spezialität bestehendes Verfahrenshindernis gemäß Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Euro-päischen Auslieferungsübereinkommens jedenfalls dann, wenn der Ausgelieferte auf die Rechtsfolgen hingewiesen wurde oder diese Rechtsfolgen aus anderen Gründen kannte. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Braunschweig (Beschluss vom 26.08.2019, Aktenzeichen: 1 Ws 154/19) entspricht die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG derjenigen des Art. 14 Absatz 1 Buchst. b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens.

Der vorliegenden Akte kann nicht entnommen werden, dass der Beschuldigte auf die Rechtsfolgen des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG hingewiesen wurde oder die Rechtsfolgen ander-weitig kannte.

2. Die Vorführung vor den nächsten Richter des Amtsgerichts Fulda verstieß gegen § 115 StPO. Der Beschuldigte wurde am 17.10.2023 um 19:20 Uhr aufgrund des vorliegenden Haftbefehls ergriffen. Eine Pkw-Fahrt von Fulda nach Nürnberg dauert laut Google-Maps etwa drei Stunden, sodass eine Vorführung vor den zuständigen Richter des Amtsgerichts Nürnberg am 18.10.2023 möglich gewesen wäre.2

Interessant m.E. vor allem wegen der Ausführungen des AG unter 2.

U-Haft I: Fluchtgefahr bei Schwerkriminalität, oder: Wenn der Beschuldigte schwer krank ist

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Heute dann zunächst allen einen schönen Nikolaustag mit hoffentlich prall gefüllten Stiefeln. Ich habe den „Stiefel“ hier heute mit Entscheidungen zur U-Haft gefüllt. Ich habe einiges zusammengefasst, das sich während des Urlaubs doch einiges angesammelt hat und ich daher in meinem Ordner ein wenig Platz schaffen muss.

Ich beginne mit dem OLG Dresden, Beschl. v. 01.11.2023 – 1 Ws 226/23 – zur Fluchtgefahr bei Delikten der Schwerkriminalität. Das OLG hat in einem Verfahren mit einem Totschlagsvorwurf das (weitere) Vorliegen eines Haftgrundes verneint.

„Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht nicht.

Zwar hat der Beschuldigte im Falle seiner Verurteilung angesichts der Schwere der ihm zur Last gelegten Tat mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Es ist jedoch vorliegend ausgeschlossen, dass der von dieser Straferwartung ausgehende Fluchtanreiz die konkrete Gefahr begründet, dass der Beschuldigte – auf freiem Fuß belassen – sich dem Verfahren entziehen wird, selbst wenn Fluchtgefahr nicht verlangt, dass dies auf Dauer geschieht, sondern ein gegebenenfalls vorübergehendes Sichentziehen, was den Fortgang des Strafverfahrens verhindert, genügt. Der Beschuldigte ist pp. Jahre alt und verfügt über enge soziale Bindungen zu pp. Er leidet unter einer schweren Erkrankung, die palliativ zu behandeln ist.

Bereits vor seiner Festnahme am 01. September 2023 wies er einen deutlich beeinträchtigten Gesundheitszustand auf, wie sich sowohl den detaillierten Angaben pp. in ihrer Vernehmung vom pp. als auch der Dokumentation der Hausärztin pp. entnehmen lässt, wonach ab dem 10. August 2023 beim Beschuldigten unter anderem ein deutlicher Gewichtsverlust sowie Kraftlosigkeit bzw. Schwäche dokumentiert sind. Soweit die Kammer in der angefochtenen Entscheidung unter Bezugnahme auf die Aussagen der Zeugin pp. – Pflegerin der Geschädigten – sowie der Zeugin pp. – Hausärztin der Geschädigten und des Beschuldigten – zugrunde gelegt hat, der Beschuldigte habe den Haushalt geführt und die Ehefrau des Beschuldigten in die Praxis begleitet, so beziehen sich diese Angaben ersichtlich auf den Zeitraum vor der Diagnosesteilung beim Beschuldigten, die im Juli 2023 erfolgt ist. Nach seiner Inhaftierung hat sich der bereits deutlich beeinträchtigte Gesundheitszustand nochmals erheblich verschlechtert, wie insbesondere der Stellungnahme der JVA vom 26. Oktober 2023, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, entnehmen lässt. Angesichts der dort beschriebenen körperlichen und geistigen Verfassung des Beschuldigten, der bereits stark von seiner schweren Erkrankung gezeichnet ist, sieht es der Senat vorliegend als ausgeschlossen an, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen wird,

Es besteht dementsprechend auch der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) nicht.

§ 112 Abs. 3 StPO lässt nach dem Wortlaut bei den darin aufgeführten Straftaten der Schwer-kriminalität die Anordnung der Untersuchungshaft auch dann zu, wenn ein Haftgrund nach § 112 Abs, 2 StPO nicht besteht. Bei der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts (BVerfGE 19, 342, 350 ff; BVerfG NJW 1966, 772) gebotenen verfassungskonformen Auslegung ist die Vorschrift wegen eines sonst darin enthaltenen offensichtlichen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass der Erlass eines Haft-befehls nur zulässig ist, wenn Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne die Verhaftung des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte, Genügen kann bereits die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, ferner die ernstliche Befürchtung, der Täter werde weitere Taten ähnlicher Art begehen, Ausreichend aber auch erforderlich ist die Feststellung, dass eine verhältnismäßig geringe oder entfernte Gefahr in dieser Art besteht, Wenn allerdings nach den Umständen des Einzelfalls gewichtige Gründe gegen jede Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr sprechen, ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von einem Haftbefehl nach § 112 Abs. 3 StPO abzusehen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 20. April 2022, Az.; StB 15/22 – juris; BGH, Beschluss vorn 23. Dezember 2009, Az,; StB 51/09 – juris).

Unter Berücksichtigung dessen und der unter 1. genannten Umstände, aufgrund derer der Senat im Ergebnis seiner Prüfung eine bestehende Fluchtgefahr beim Beschuldigten ausschließt, scheidet daher auch der Haftgrund der Schwerkriminalität aus.“

Unterbringung III: Neuregelung des § 64 StGB, oder: Neufälle/Altfälle – OLG Celle zum anwendbaren Recht

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Und als dritte Entscheidung zur Probelmati: Altes/Neues Recht bei der Unterbringung?, dann hier noch der OLG Celle, Beschl. v. 20.11.2023 – 2 Ws 317/23.

Der Verurteilte ist durch Urteil des LG Braunschweig vom 09.01.2023 wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gesprochen und unter Einbeziehung weiterer Strafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Zugleich wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach Verbüßung von Untersuchungs- und Organisationshaft wurde der Verurteilte am 04.04.2023 im Maßregelvollzug in der Psychiatrischen Klinik L. aufgenommen.

Mit Beschluss vom 10.10.2023 hat die Strafvollstreckungskammer des LG Lüneburg die Unterbringung in der Entziehungsanstalt für erledigt erklärt, die Reststrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, den Eintritt der Führungsaufsicht festgestellt und diese näher ausgestaltet. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, der Überprüfung sei die seit dem 01.10.2023 geltende neue Rechtslage zugrundezulegen. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, den Beschwerdeführer durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen, seien angesichts der fehlenden Erreichbarkeit und der ablehnenden Haltung des Beschwerdeführers zu der ihm angebotenen Behandlung nicht gegeben.

Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde. die keinen Erfolg hatte. Das OLG führt zum anwendbaren Recht aus:

„Der Erörterung bedarf lediglich die Frage, welche Fassung des § 64 StGB der gem. § 67e Abs. 2 StGB durch das Landgericht zu treffenden Entscheidung zugrunde zu legen war.

Gem. § 67d Abs. 5 StGB hat das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für erledigt zu erklären, wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 StGB nicht mehr vorliegen.

Diese Vorschrift des § 64 StGB wurde durch das am 1. Oktober 2023 in Kraft getretene Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26.07.2023 (BGBl. I Nr. 203) neu gefasst. Während nach § 64 a. F. StGB eine Fortdauer der angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt „eine hinreichend konkrete Aussicht“ voraussetzte, den Verurteilten durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen, bedarf es nunmehr „tatsächlicher Anhaltspunkte“, aufgrund derer diese Erwartung gerechtfertigt ist.

Da die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers gem. § 64 StGB bereits vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig wurde, stellt sich die Frage, ob sich die Frage der Fortdauer der Vollstreckung nach altem oder neuem Recht richtet.

Der Senat erachtet unter Berücksichtigung des Wortlautes der einschlägigen Vorschriften (vgl. im Folgenden die Ausführungen unter 1.), des gesetzgeberischen Willens und aufgrund systematischer Erwägungen (im Folgenden 2.) sowie nach Sinn und Zweck der Gesetzesänderung (3.) die Anwendung des § 64 StGB in der derzeit gültigen Fassung für angezeigt. Diesem Verständnis stehen auch weder das Rückwirkungsverbot (4.) noch unüberwindbare Schwierigkeiten bei der Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung gem. § 67e StGB entgegen (5.).

Im Einzelnen:

1. Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 wurde auch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch geändert und ein neuer Artikel 316o eingefügt. In Abs. 2 dieser Vorschrift wird für die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen nach § 63 oder § 64 des Strafgesetzbuches § 67 StGB in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung für anwendbar erklärt.

Nach dem eindeutigen Wortlaut von Artikel 316o Abs. 2 EGStGB haben mithin – von Fragen der Reihenfolge der Vollstreckung gem. § 67 StGB abgesehen – die aktuell gültigen Vorschriften für die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen nach § 63 oder § 64 Anwendung zu finden.

2. Diese Auslegung entspricht auch dem aus den Gesetzgebungsmaterialien ersichtlichen gesetzgeberischen Willen.

Dem Gesetzgeber war – wie aus der in Artikel 316o Abs. 2 EGStGB getroffenen Regelung deutlich wird – bewusst, dass sich infolge der Neufassung des § 64 StGB die Frage stellt, ob die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringungen nach altem oder neuem Recht erfolgt und dass es einer expliziten Regelung bedarf, wenn das bisherige Recht im Rahmen der Vollstreckung Anwendung finden soll. Denn in den Gesetzgebungsmaterialien ist festgehalten, dass die in Artikel 316o Abs. 2 EGStGB neu eingeführte Regelung der Anwendbarkeit von § 67 StGB a.F. eine Abweichung von dem in § 2 Absatz 6 StGB enthaltenen Grundsatz, wonach bei Maßregeln der Besserung und Sicherung das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht anwendbar ist, darstellt (BT-Drucksache 20/5913, S. 77).

Während § 67 StGB in der bis zum 1. Oktober 2023 geltenden Fassung für den Fall der Vollstreckung der Maßregel vor der Strafe die Möglichkeit einer Aussetzung der Maßregel nach Verbüßung der Hälfte der Strafe unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 zur Bewährung vorsah, ist nach der Neufassung dieser Vorschrift eine derart frühzeitige Entlassung zur Bewährung nur noch möglich, wenn die (deutlich strengeren) Voraussetzungen des § 57 Absatz 2 StGB entsprechend erfüllt sind.

Der Umstand, dass durch Art. 316o Abs. 2 EGStGB eine explizite Regelung der Fortgeltung alten Rechts allein für § 67 StGB und insbesondere für die dort geregelte Frage der frühst möglichen Aussetzung der Maßregel zur Bewährung getroffen wurde, lässt im Umkehrschluss den gesetzgeberischen Willen, dass sich die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringungen nach neuem Recht richten muss, eindeutig erkennen.

Denn über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich – wie hier – nichts anderes bestimmt ist, gem. § 2 Abs. 6 StGB nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt. Nach dieser Vorschrift sind die Voraussetzungen der seit 1. Oktober 2023 geltenden Neufassung des § 64 StGB auch im Erkenntnisverfahren auf „Altfälle“ anzuwenden (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2023 – 5 StR 246/23 –, juris; BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2023 – 6 StR 405/23 –, juris).

3. Dieses Verständnis entspricht auch dem Sinn und Zweck, der mit der Gesetzesänderung angestrebt wurde. Denn die Neufassung des § 64 StGB erfolgte insbesondere mit dem Ziel, die Maßregel wieder stärker auf die tatsächlich behandlungsbedürftigen Straftäter zu konzentrieren und so zur Entlastung der Entziehungsanstalten beizutragen (BT-Drucksache 20/5913, S. 77). Gerade die nach der alten Fassung des § 67 StGB vorgesehene, lediglich vom Vorliegen der Voraussetzungen gem. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 abhängige Möglichkeit der Halbstrafenentlassung stellte zur Überzeugung des Gesetzgebers einen sachwidrigen Anreiz für eigentlich therapieunwillige Angeklagte mit hohen Begleitstrafen dar und führte zu einer Überbelegung der Maßregelvollzugskliniken mit „falschem Klientel“ (BT-Drucksache 20/5913, S. 77). Dem Ziel, die Überbelegung zu reduzieren, dient auch die Neufassung des § 64 StGB im Hinblick auf das Erfordernis der „tatsächlichen Anhaltspunkte“ (BT-Drucksache 20/5913, S. 48).

4. Ungeachtet des Umstandes, dass die h.M. in Rechtsprechung und Literatur von der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 6 StGB ausgeht und ein Eingreifen des Art. 103 Abs. 2 GG bei Maßregeln der Besserung und Sicherung von vornherein verneint (Dannecker/Schuhr in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 2 Zeitliche Geltung, Rn. 170 m.w.N.), steht auch das Rückwirkungsverbot einer Anwendung des neuen Rechts auf „Altfälle“ nicht entgegen.

Denn während die vom Gesetzgeber gem. Artikel 316o Abs. 2 EGStGB vorgenommene Durchbrechung des Grundsatzes aus § 2 Abs. 6 StGB erforderlich war, um denjenigen, der durch eine vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringung nach § 64 im Maßregelvollzug untergebracht ist, vor einem mit der Änderung des § 67 StGB einhergehenden Nachteil – namentlich der höheren Anforderungen unterliegenden Möglichkeit einer Halbstrafentlassung – zu bewahren, ist dies hinsichtlich der übrigen Neuregelungen durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26. Juli 2023 nicht zwingend der Fall. Denn die Dauer der Unterbringung im Maßregelvollzug gem. § 64 StGB kann bei zugleich verhängter niedriger Begleitstrafe die Dauer der Inhaftierung im Strafvollzug deutlich übersteigen, so dass mit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Maßregelvollzug gem. § 67d Abs. 5 i.V.m. § 64 S. 2 StGB in zahlreichen Fällen ein kürzerer Freiheitsentzug einhergehen kann.

5. Schließlich stehen der dargelegten Anwendbarkeit des § 64 StGB in der aktuellen Fassung auf die Vollstreckung von vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig angeordneten Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt auch keine hiermit einhergehenden gravierenden Schwierigkeiten in der vollstreckungsrechtlichen Prüfung entgegen.

Zwar hat die Strafvollstreckungskammer gem. § 67e Abs. 1 StGB von Amts wegen nicht nur ein Prüfungsrecht; vielmehr ist sie von Amts wegen verpflichtet, allen Anhaltspunkten nachzugehen, die darauf hinweisen, dass die Erledigung einer Maßregel angezeigt ist, was grundsätzlich auch der Fall sein kann, wenn sich der Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit der weiteren Unterbringung vor Ablauf der Prüfungsfristen des § 67e StGB ändert (OLG Hamm, Beschluss vom 28. März 2019 – III-3 Ws 99/19 –, juris; Peglau in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage 2022, § 67e, Rn. 12, Fischer, StGB 70. Auflage 2023, § 67e, Rn. 2). Dies führt jedoch nicht zu einer Verpflichtung, nunmehr von Amts wegen die Fortdauer jeder vor dem 1. Oktober 2023 rechtskräftig gewordenen Unterbringung gem. § 64 StGB zu prüfen. Denn Anhaltspunkte für eine Erledigung der Maßregel ergeben sich aus einer Gesetzesänderung erst dann, wenn Untergebrachter, Vollstreckungsbehörde oder Maßregelvollzugseinrichtung aufgrund der Gesetzesänderung zu der Einschätzung gelangen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nicht mehr vorliegen, und dies der Strafvollstreckungskammer zur Kenntnis bringen. „