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Pflichti II: Unübersichtliche Akten, Geldstrafe, oder: Steuerhinterziehung, Beweisverwertungsverbot

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Im zweiten Posting stelle ich die in den letzten Tagen eingesandten Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen vor, und zwar zwei LG-Beschlüsse und einen AG-Beschluss.

Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, ist dann anzunehmen, wenn die Gefahr besteht, dass der Angeklagte seine Rechte ohne die Mitwirkung eines Verteidigers nicht mehr ausreichend wahrnehmen kann. Das kann nach der gebotenen Gesamtbetrachtung der Fall sein, wenn Umfang der Akte mit 12 weiteren Fallakten und die Anzahl von 14 enthaltenen Ermittlungsverfahren es dem gerade 20-jährigen Beschuldigten erschwert, ohne anwaltliche Hilfe deutlich, den Überblick über die Vorwürfe zu behalten.

Für die Beurteilung, ob die Rechtslage wegen eines behaupteten Beweisverwertungsverbotes schwierig ist, kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich von einem Verwertungsverbot auszuge-hen ist. Ausreichend ist vielmehr, dass fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Beweisverwer-tungsverbot unterliegt. Die sich insoweit stellenden Rechtsfragen wird ein juristischer Laie nicht beantworten könne. Hinzu kommt, dass die Frage, ob von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen ist, regelmäßig ohne vollständige Aktenkenntnis nicht zu beantworten ist.

1. Bei einer drohenden Gesamtgeldstrafe von 360 Tagessätzen oder mehr kann im Einzelfall eine Verteidigung wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten sein.

2. Bei Tatvorwürfen der Steuerhinterziehung über mehrere Veranlagungszeiträume, die auf Schätzungsgrundlagen beruhen, ist eine Verteidigung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage jedenfalls dann geboten, wenn weitere Umstände in der Person des Angeklagten hinzutreten, die befürchten lassen, dass der Angeklagte den Sachverhalt in seiner Komplexität nicht erfasst, was z.B. bei sprachliche. Schwierigkeiten und der Erforderlichkeit eines Dolmetschers der Fall sein kann.

StPO III: Schöffe macht sich länger private Notizen, oder: Beschäftigung mit privaten Dingen ==> Rauswurf

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Und dann noch etwas aus der Hauptverhandlung, nämlich die Frage nach der Besorgnis der Befangenheit einer Schöffin.

Der Angeklagte hat in einem Berufungsverfahren eine Schöffin wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das ist wie folgt begründet worden: Der Angeklagte und sein Verteidiger hätten beobachten können, wie die Schöffin ab 14:00 Uhr bei der Verlesung eines Extraktionsberichtes durch den Vorsitzenden sich in einem schwarzen DIN-A5 Notizbuch Notizen auf den letzten Seiten gemacht habe. Das sei insoweit auffällig gewesen, als sie sich bisher Notizen zum Verfahren auf einem DIN A4 Papier gemacht habe. Ein solches DIN A4 Papier habe sich auch am Sitzungstag auf ihrem Tisch befunden. Die Schöffin habe sich Notizen in dem Buch untereinander gemacht, z.B. wie bei einer Einkaufsliste. Sie habe dabei mindestens 3 Seiten benutzt, weil sie mindestens einmal umgeblättert habe und dann auf den Folgeseiten links und rechts Notizen von oben bis unten gefertigt habe. All das habe sie gemacht, während der Vorsitzende die Chats vorgelesen habe. Sie habe daher dem Vorlesen und dem im Zusammenhang verlesenen Chat nicht folgen können. Sodann habe beobachtet werden können, dass sie das Zählen beginne. Sie habe auf der linken und rechten Seite die jeweiligen Aufzeichnungen gezählt. Dies habe sie wiederholt und sich weiterhin Notizen gemacht, die jedoch auch nie im Zusammenhang mit dem Vorgelesenen erfolgten, was deutlich aufgefallen sei. Daher sei offenkundig gewesen, dass sich die Schöffin nicht etwa Notizen des soeben vorgelesenen Chats gemacht habe. Um exakt 14.19 Uhr habe sie ihr Notizbuch geschlossen, weil sie offenkundig mit ihrer privaten Tätigkeit, die nicht im Zusammenhang mit dem Verfahren gestanden habe, fertig gewesen sei. Dies, obwohl der Vorsitzende noch lange nicht fertig gewesen sei, mit dem Verlesen. Auf Nachfrage der Verteidigung habe die Schöffin pp. sodann – was zutreffend ist bestätigt, dass diese Notizen nichts mit dem Verfahren zu tun gehabt hätten.

Die Schöffin hat in ihrer dienstlichen Stellungnahme hierzu ausgeführt, dass es stimme, dass sie während der Verhandlung Kritzeleien gemacht habe, die nicht unmittelbar mit dem Verfahren in Verbindung gestanden hätten. Diese hätten jedoch nicht der Ablenkung sondern vielmehr dazu gedient, ihre Konzentration zu bewahren. Das Kritzeln sei für sie eine bewährte Technik, die sie regelmäßig nutze – auch während ihres Studiums – um bei längeren Vorträgen konzentriert zu bleiben und nicht gedanklich abzuschweifen. Trotz des Kritzelns habe sie die Verlesung des Chats durch den Vorsitzenden Richter aufmerksam verfolgt.

Das LG Dortmund hat im LG Dortmund, Beschl. v. 08.11.2024 – 45 Ns 131/22 – dem Antrag statt gegeben:

„Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters oder einer Schöffin ist gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der Richter oder die Schöffin ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die ihre Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Maßgebend ist dabei der Standpunkt eines vernünftigen Angeklagten (vgl. zum Ganzen: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Kom., 66. Aufl. § 24 Rn. 8 und 8a).

Der unterzeichnende Vorsitzende hat selbst beim Verlesen des Chats nicht mitbekommen, inwieweit die Schöffin pp. sich Notizen oder Ähnliches gemacht hat. Jedoch hat sich die Tätigkeit der Schöffin nach dem letztlich unbestritten gebliebenen Vortrag der Verteidigung über einen Zeitraum von 19 Minuten hingezogen und die Schöffin habe erkennbar dabei zwischendurch auch Punkte ihrer Notizen abgezählt. Das lässt es aus der Sicht eines verständigen Angeklagten in der Tat nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass die Schöffin pp. über einen nicht nur kurzen Zeitraum der Beweisaufnahme mit verfahrensfremden Angelegenheiten beschäftigt war, zumal sie auf anschließende Nachfrage des Verteidigers, ob die Notizen etwas mit dem Verfahren zu tun gehabt hätten, auch umgehend mit „Nein“ geantwortet hat. In Anbetracht der Länge des Vorgangs lässt das für einen verständigen Betrachter auch durchaus den Eindruck der Befangenheit zu. Hieran ändert in Anbetracht der dezidierten Ablaufschilderung in dem Befangenheitsantrag sodann auch die dienstliche Erklärung der Schöffin, dass diese Kritzeleien letztlich nur ihrer Konzentrationshilfe gedient hätten, nichts mehr.“

Also zurück auf Start, gehe nicht über Los …. 🙂

KCanG II: Rechtsprechung vornehmlich zum Straferlass, oder: Einmal etwas zur Pflichtverteidigung

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Im zweiten Posting habe ich dann zusammengestellt, was sich bei mir in den letzten Tagen angesammelt hat. Da geht es quer durch das StGB/die StPO, und zwar mit folgenden Entscheidungen:

Der Umstand, dass am 01.04.2024 das KCanG mit einem im Einzelfall niedrigeren Strafrahmen für die abgeurteilte Anlasstat in Kraft getreten ist, findet im Rahmen der Beurteilung im Sinne von § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB keine Berücksichtigung.

1. Die Rechtswirkungen des Straferlasses nach Art. 313 Abs. 1 EGStGB iVm Art. 316p EGStGB für Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, die nach dem Konsumcannabisgesetz oder dem Medizinal-Cannabisgesetz nicht mehr strafbar und auch nicht mit Geldbuße bedroht sind, treten unmittelbar kraft Gesetzes ein.

2. Das Revisionsgericht hat diesen rückwirkenden Straferlass gemäß § 354a StPO iVm § 2 Abs. 3 StGB auf die Sachrüge hin zu beachten. Eine gebildete Gesamtstrafe ist auf der Grundlage der gesamten Feststellungen des angefochtenen Urteils darauf zu überprüfen, ob einer einbezogenen Strafe ein nach § 3 Abs. 1 KCanG nunmehr strafloser Besitz von Cannabis zugrunde liegt. Ist ein sicherer Rückschluss auf einen Besitz zum Eigenkonsum möglich und liegen alle sonstigen Voraussetzungen einer Straflosigkeit vor, hat das Revisionsgericht seiner Entscheidung den rückwirkenden Straferlass zugrunde zu legen.

1. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn die drohenden Rechtsfolgen einschneidend sind, insbesondere bei drohenden längeren Freiheitsstrafen um 1 Jahr.

2. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in den Fällen des § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG.

Zur Neufestsetzung der Strafe, wenn unerlaubter Besitz von Cannabis mit Besitz von anderen Betäubungsmitteln zusammen trifft.

Die Möglichkeit einer Strafermäßigung nach Art. 316p i. V. m. 313 EGStGB ist auch in den Fällen zu bejahen, in denen neben Cannabis gleichzeitig noch andere Betäubungsmittel unerlaubt besessen wurden.

U-Haft II: Durchsuchung des Verteidigers in der JVA, oder: Auch Umkrempeln der Hosentaschen geht nicht

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Die zweite Entscheidung kommt dann vom LG Dortmund. Thematik im LG Dortmund, Beschl. v. 29.04.2021 – 33 Kls 4/21: Durchsuchung des Verteidigers vor dem Besuch des inhaftierten Mandanten. Dem Verteidiger sollte Zutritt zur Justizvollzugsanstalt Hagen zum Zwecke des Besuchs seines Mandanten nur gestattet werden unter der Voraussetzung, dass er die Hosentaschen von innen nach außen krempelt und die Jacken (Winterjacken und Anzugsjackett) ablegt und während des Besuchs in ein Schließfach einschließt. Dagegen hat sich der Verteidiger mit Erfolg gewehrt:

„2. Die Anordnung, der Justizvollzugsanstalt Hagen, nach der dem Antragsteller der Zutritt zur Justizvollzugsanstalt Hagen zum Zwecke des Besuchs seines Mandanten (Untersuchungsgefangener) verweigert worden ist, respektive nur gestattet worden ist unter der Voraussetzung, dass er die Hosentaschen von innen nach außen krempelt und die Jacken (Winterjacken und Anzugsjackett) ablegt und während des Besuchs in ein Schließfach einschließt, ausgesprochen durch den JVHS Pp., rechtswidrig.

Durchsuchungen des Verteidigers sind grundsätzlich unzulässig, weil sie den freien Verkehr mit dem Mandanten einschränken und den Angeklagten möglicherweise in seiner Verteidigung beeinträchtigen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 148, Rn. 12).

Dennoch ist die Durchsuchung nach Waffen und anderen gefährlichen Gegenständen auch bei einem Rechtsanwalt unter Berücksichtigung des ungehinderten Verkehrs mit dem Verteidiger aus Sicherheitsgründen zulässig.

Auch nach § 22 Satz 1 UVollzG NRW i.V.m. § 26 Abs. 1 Satz 2 StVollzG kann der Zutritt — auch von Rechtsanwälten — von ihrer Durchsuchung abhängig gemacht werden, wenn dies aus Gründen der Sicherheit der Anstalt erforderlich ist. Sofern von dem Ermessen, das die Norm vorsieht, Gebrauch gemacht werden soll, sind die Gründe dem zu Durchsuchenden darzulegen.

Ein Sicherheitsbedürfnis wurde jedoch nicht vorgetragen, als der Besuch des Antragstellers davon abhängig gemacht wurde, dass dieser seine Hosentaschen von innen nach außen krempeln sollte. Aus dem Schriftsatz des Antragstellers vom 05.03.2021 und auch aus der Stellungnahme des Leiters der JVA vom 25.03.2021 sowie aus der Stellungnahme zur Dienstaufsichtsbeschwerde des JVHS Pp. vom 08.03.2021 geht nicht hervor, dass die Durchsuchung aufgrund eines erkennbaren Verdachts durchgeführt werden sollte. Insoweit wird auch nicht behauptet, dass der Bedienstete der Justizvollzugsanstalt Hagen dem Antragsteller Gründe, die eine Durchsuchung rechtfertigen würden, zum Zeitpunkt des Zutritts dargelegt hat.

Vielmehr wird von der Justizvollzugsanstalt Hagen vorgetragen, dass die Maßnahme „die Hosentaschen von innen nach außen zu krempeln“ unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten das mildeste Mittel darstelle. Dem kann nicht beigepflichtet werden, da das Durchschreiten des Metalldetektorrahmens oder das Absonden mit einem Metalldetektor demgegenüber die milderen Mittel gewesen wären, dies insbesondere auch unter den derzeit bestehenden besonderen Umständen der Covid-19 Pandemie. Warum diese Maßnahme in dem vorliegenden Fall nicht in Betracht gezogen wurden, bleibt offen.

Auch die allgemeine Hausverfügung der Justizvollzugsanstalt Hagen rechtfertigt eine Durchsuchung in dem hiesigen Einzelfall nicht.

Dem vorangestellt ist bereits rechtlich umstritten, ob eine pauschale Durchsuchungsanordnung, normiert in einer Hausordnung, eine wirksame Berechtigung darstellt, alle Besucher (also auch Rechtsanwälte und Notare) anlasslos zu durchsuchen. Vielmehr dürfte diesbezüglich die Darlegung eines allgemeinen Sicherheitsbedürfnisses erforderlich sein.

Nach der Hausverfügung der Justizvollzugsanstalt Hagen ist eine anlasslose Durchsuchung aller Besucher jedoch auch nicht geregelt. Vielmehr sind alle Besucher der Anstalt, auch Rechtsanwälte und Notare, durch den Metalldetektorrahmen zu schicken und ggfls. körperlich zu durchsuchen, insbesondere dann, wenn sich beim Absonden ein Verdachtsmoment ergibt.

Somit liegt die Berechtigung einer Durchsuchung gegebenenfalls dann vor, wenn sich ein Verdachtsmoment ergibt. Ein solcher ist jedoch nicht vorgetragen (s.o.).“

Ob in der Aufforderung, den Wintermantel und das Anzugjackett auszuziehen und in einem Schließfach einzuschließen eine unzulässige Entkleidung im Sinne des StVollzG NRW vorlag, kann dahinstehen. Denn diese Aufforderung war ebenfalls rechtswidrig und auch nicht von der allgemeinen Hausordnung gedeckt. Für die Aufforderung, das Anzugsjacketts insbesondere zu einer kalten Jahreszeit auszuziehen und sodann in das Schließfach einzuschließen, sodass der Antragsteller lediglich mit einem T-Shirt bekleidet zu seinem Mandanten hätte gehen müssen, gab es keinerlei Berechtigung. Auch insoweit hätte die Möglichkeit bestanden, den Antragsteller — bekleidet mit dem Anzugsjackett — durch den Metalldetektorrahmen gehen zu lassen.

Verdachtsmomente, die eine Durchsuchung gerechtfertigt hätten, sind diesbezüglich nicht vorgetragen.

Der Antragsteller war somit bereits nicht verpflichtet sein Jackett auszuziehen/durchsuchen zu lassen, sodass auch kein Anlass bestand, nachzufragen, ob er das Jackett nach erfolgter Durchsuchung zurückbekommen könne.

Die Kammer verkennt nicht, dass die vorliegende Situation sicherlich nicht alltäglich in dieser Form in der Justizvollzugsanstalt Hagen vorkommt. Vielmehr dürfte es — wie dem Gericht bekannt ist — bei Rechtsanwälten der Fall sein, dass diese den Metalldetektorrahmen durchschreiten, nachdem sie ihre persönlichen Sachen in den Spint gelegt haben und es damit sein Bewenden hat. Da insbesondere der Gesprächsverlauf zwischen den Beteiligten streitig ist, ist nicht auszuschließen, dass sich die Situation aufgrund der geführten Gespräche zugespitzt hat. Dennoch wurde durch die Anordnung der freie Verkehr des Antragstellers mit seinem Mandanten beeinträchtigt, ohne dass dafür sicherheitsrelevante Aspekte dargelegt wurden.“

Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter, oder: Entziehung der Fahrerlaubnis? – hier verneint

entnommen wikimedia.org – gemeinfrei

Nachdem ich heute Morgen drei Entscheidungen, und zwar den LG München I, Beschl. v. 30.10.2019 – 1 J Qs 24/19 jug -, den LG München I, Beschl. v. 29.11.2019 – 26 Qs 51/19 und den LG Dortmund, Beschl. v. 11.02.2020 – 43 Qs 5/20, vorgestellt habe, in denen die Entziehung der Fahrerlaubnis nach einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter bejaht worden ist, heir dann – zur Entspannung – zwei Beschlüsse des LG Dortmund, in denen man die Frage verneint hat. Es handelt sich um den LG Dortmund, Beschl. v. 07.02.2010 – 31 Qs 1/20 – und den LG Dortmund, Beschl. v. 07.02.2020 – 35 Qs 3/20.

Auch hier stelle ich nur den Beschluss mit der umfangreicheren Begründung vor, und zwar den den LG Dortmund, Beschl. v. 07.02.2010 – 31 Qs 1/20:

Das Amtsgericht hat zu Recht den Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Beschuldigten abgelehnt, da die Voraussetzungen einer vorläufigen Entziehung gemäß § 111a Abs. 1 StPO nicht vorliegen. Entgegen den Ausführungen der Staatsanwaltschaft sind keine dringenden Gründe für die Annahme vorhanden, dass dem Beschuldigten im Rahmen einer Hauptverhandlung der Führerschein entzogen werden wird.

Das Gericht entzieht die Fahrerlaubnis, wenn der Angeklagte wegen einer rechtswidrigen Tat, die er bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen hat, verurteilt wird oder nur deshalb nicht verurteilt wird, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, § 69 Abs. 1 S. 1 StGB. In § 69 Abs. 2 StGB sind dabei Regelbeispiele formuliert, nach denen ein Fahrzeugführer bei einer Verurteilung wegen bestimmter Delikte regelmäßig als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen ist. Vorliegend besteht ein dringender Tatverdacht (vgl. zu diesem Erfordernis etwa Huber, in: BeckOK-StPO, 35. Ed. 1.10.2019, § 111a Rn. 3) dafür, dass der Beschuldigte sich wegen einer Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 StGB strafbar gemacht hat. Insbesondere bestehen keine Bedenken daran, dass es sich bei dem Elektroroller, den der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt geführt haben soll, um ein Elektrokleinstfahrzeug im Sinne von § 1 Abs. 1 eKFV und damit nicht nur um ein Fahrzeug im Sinne von §.316 Abs. 1 StGB, sondern um ein Kraftfahrzeug handelt (vgl. hierzu etwa BR-Drucks. 158/2019, S. 31; Huppertz, in: NZV 2019, 558), für den der Mindestwert für die unwiderlegliche Annahme der Fahruntüchtigkeit nach gefestigter Rechtsprechung bei einer BAK von 1,1 %o liegt (vgl. hierzu etwa BGH NJW 1990, 2393; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 316 Rn. 25 mwN; Huppertz, a.a.O. (562)). Nicht entscheidend ist dabei hinsichtlich des Vorsatzes, dass der Beschuldigte angegeben hat, nicht gewusst zu haben, dass auch für Elektroroller der BAK-Grenzwert von 1,1 °/00 gilt, da es sich insoweit um ein Element einer Beweisregel handelt, das nicht vom Vorsatz umfasst sein muss (vgl. BGH NJW 2015, 1834).

Der Ermessensspielraum bei einem erfüllten Regelbeispiel nach § 69 Abs. 2 StGB ist auf die Frage begrenzt, ob im Einzelfall besonders günstige Umstände in der Person des Täters oder in den Tatumständen liegen, die der Tat die Indizwirkung nehmen oder den an sich formell zum Entzug ausreichenden Verstoß günstiger erscheinen lassen als den Regelfall (vgl. Burmann, in: Burmann/u.a., StVR, 25. Aufl. 2018, § 69 StGB Rn. 21).

Die Rechtsprechung hat teilweise bereits für Leichtmofas angenommen, dass diese unter Umständen generell wie Fahrräder einer erhöhten Grenze zur absoluten Fahruntüchtigkeit unterliegen (vgl. etwa LG Oldenburg DAR 1990, 72; dagegen aber etwa Burmann, a.a.O., Rn. 21: „contra legem“) oder aber jedenfalls, bei kurzer Fahrstrecke und altruistischer Motivation des Täters eine Ausnahme der Regelwirkung von § 69 Abs. 2 StGB gesehen werden kann (vgl. OLG Nürnberg NZV 2007, 642). Für E-Scooter ist hierzu — soweit erkennbar — bisher kaum Rechtsprechung ergangen. Die 32. Kammer des Landgerichts Dortmund hat in einem Fall, in dem der Beschuldigte bei dem Führen eines E-Scooters eine BAK von 1,01 %o gehabt haben soll, die E-Scooter durch die fahrbare Geschwindigkeit per se eine erhebliche Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer darstellen. Hinzu komme, dass durch Gleichgewichtsbeeinträchtigungen und plötzliche Lenkbewegungen auch andere Verkehrsteilnehmer zu Ausweichmanövern veranlasst würden (Beschluss v. 08.11.2019, 32 Qs 130/19).

Die Argumentation der 32. Kammer kann so nicht überzeugen. Jedenfalls soweit es sich wie vorliegend bei dem E-Scooter um ein Elektrokleinstfahrzeug im Sinne von § 1 eKFV handelt, ist die bauartbestimmte Höchstgeschwindigkeit auf 6 bis 20km/h, die Leistung — soweit es sich nicht um selbstbalancierte Elektrokleinstfahrzeuge handelt ¬auf 500 Watt und die maximale Masse ohne Fahrer auf 55kg begrenzt.

Pedelecs mit einem elektrischen Hilfsantrieb mit einer Nennleistung von höchstens 0,25 kW, dessen Unterstützung sich mit zunehmender Geschwindigkeit progressiv verringert und beim Erreichen von 25 km/h oder früher, wenn der Fahrer nicht mehr tritt, unterbrochen wird, sind gern § 1 Abs. 3 StVG als Fahrräder und daher schon als keine Kfz einzuordnen (vgl. Hühnermann, in: Burmann/u.a.-StVR, 25. Aufl. 2018, § 1 StVG Rn. 8). Derartige Pedelecs wiegen je nach Modell, abgesehen von sehr kostspieligen Leichtmodellen, etwa 20 bis 30kg.

In Dortmund sind etwa Leih-E-Scooter der Marken Tier, Lime und Circ im Angebot, die 20 bis 25 kg wiegen und höchstens 21krn/h fahren können (vgl. https://vvww.computerbild.de/fotos/cb-Tests-Freizeit-E-Scooter-Voi-Lime-Circ-Tie r-Test-23899567.html#4, zuletzt abgerufen am 28.01.2020). Es ist insoweit in keiner Weise erkennbar, inwieweit E-Scooter „per se“ eine höhere Gefährlichkeit als Pedelecs oder auch Fahrräder ohne Elektromotor aufweisen sollen. Vielmehr wiegen E-Scooter ähnlich viel wie Pedelecs oder schwerere reguläre Fahrräder und erreichen auch keine höheren Geschwindigkeiten. Auch die übrigen Erwägungen zu Gleichgewichtsbeeinträchtigungen und plötzlichen Lenkbewegungen treffen ohne Weiteres auch auf jegliche Form von Fahrrädern zu.

Weniger überzeugen kann hingegen die Argumentation des Amtsgerichts, dass die Bürger durch die Präsenz der teilweise recht wahllos im Verkehrsraum abgestellten E-Scooter und die einfache Möglichkeit, diese zu leihen, geradezu animiert werden, diese im Rahmen einer „Schnapsidee“ zu nutzen. Vielmehr ist der 32. Kammer insoweit zuzustimmen, als von dem Nutzer eines Fahrzeugs — auch soweit es sich nicht um ein Motorrad oder einen Pkw handelt — verlangt werden kann, dass er sich vor einer Nutzung über die rechtlichen Voraussetzungen der Führung informiert. Zudem sind mittlerweile auch Leih-Pkw ähnlich wie E-Scooter sehr bedienfreundlich und ohne größere Hürden mithilfe von Apps auf dem Smartphone zu leihen, sodass auch die einfach Zugriffsmöglichkeit kaum als Argument für eine Ausnahme von dem Regelbeispiel nach § 69 StGB angebracht werden kann.

Andererseits trägt die Erwägung jedenfalls insoweit, als die Bürger vor der Zulassung der E-Scooter auch nicht über die Richtwerte zur Fahruntüchtigkeit nach einem Alkoholkonsum informiert wurden und die Einordnung den Bürgern jedenfalls deutlich schwerer fallen wird, als bei sonstigen Kraftfahrzeugen wie Pkws oder Motorrädern, bei denen die „Promillegrenzen“ nahezu Allgemeinwissen darstellen. Wenn dies auch der Strafbarkeit an sich nicht entgegensteht, erscheint auch dies als günstiger Umstand, der der Indizwirkung des § 69 Abs. 2 StGB entgegensteht.

Neben den Erwägungen zur allgemeinen Gefährlichkeit der E-Scooter, die eher mit der eines Pedelecs vergleichbar ist, als etwa mit einem — auch leichteren — Motorrad, kam vorliegend im Einzelfall hinzu, dass der Beschuldigte den E-Scooter bei einer Tatzeit von 01:10 Uhr an einem Wochentag führte, sodass trotz des Umstandes, dass sich nahe des Tatortes Gastronomie befindet, mit wenig Publikumsverkehr zu rechnen war.

Insgesamt ist so wegen der grundsätzlichen Einordnung des E-Scooters als Kraftfahrzeug zwar der Tatbestand des § 316 StGB erfüllt. Auf Grund des Umstandes, dass dieses Kraftfahrzeug jedoch angesichts des Gewichtes und der bauartbedingten Geschwindigkeit hinsichtlich der Gefährlichkeit eher mit einem Fahrrad als einem einspurigen Kraftfahrzeug gleichzusetzen ist, sowie unter ergänzender Berücksichtigung des weiteres Umstandes; dass die konkrete Gefährlichkeit der Benutzung des E-Scooters im konkreten Fall auf Grund der Tatzeit von ca. 01.10 Uhr nachts an einem Wochentag deutlich herabgesetzt war, liegen insgesamt derart günstige Faktoren in den Tatumständen vor, dass jedenfalls im vorliegenden Einzelfall der Tat nach § 316 StGB die Indizwirkung genommen ist, und die den formell zum Entzug ausreichenden Verstoß deutlich günstiger erscheinen lassen als den Regelfall.

Angesichts der Tatumstände begegnet die Entziehung der Fahrerlaubnis auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Bedenken; als erforderliches Mittel erscheint die Verhängung eines Fahrverbots nach § 44 StGB naheliegender.“

Tendenz danach m.E. hier: Entziehung grdunsätzlich zulässig, aber wegen der Besonderheite in diesem Fall zu verneinen.